KAPITEL 7 - Lisa
Lisa saß in ihrem Klinikzimmer am Fenster. Die Fensterbank war zwar etwas schmaler als zuhause, aber es ging, wenn sie sich ganz klein machte. Sie war jetzt seit drei Tagen hier. Drei Tage und ihr ganzes bisheriges Leben war aus den Fugen geraten…
Sie sah in die dunklen Park. So ähnlich musste die Szenerie an DEM Abend ausgesehen haben…
Soviel war an dem Abend und danach passiert. Soviel. Und sie hatte immer noch Mühe Klarheit in das Chaos ihrer Gefühle und Gedanken zu bringen.
Richard von Bramberg. Sie hatte ihm immer viel zugetraut – aber das? Das passte einfach alles nicht zusammen. Und doch hatte er es getan. Und danach bereut. Lisa schüttelte ein bisschen den Kopf.
Die rein körperlichen Folgen waren nicht so schlimm, ein paar blaue Flecke und eine wunde Scheide. Das heilte gut. Die Blutuntersuchung hatte weder Aids noch Hepatitis ergeben.
Und eine Schwangerschaft war ausgeschlossen. Zu bekannt hatte Richards damalige Freundin Sabrina Hofman gemacht, dass er zeugungsunfähig sei. Das Klinikpersonal wollte zwar trotzdem einen Test machen, aber Lisa hatte das abgelehnt. Ihr reichte es mit Untersuchungen! Und mit den Gesprächen. Gespräche mit der Psychologin, mit den Eltern, mit den Ärzten, mit der Polizei.
Sie hatte sich noch nicht entschieden Strafanzeige zu stellen. Da Richard sich selbst gestellt hatte, musste sie nicht zwangsläufig auch vor Gericht. Es würde wohl auch ausreichen, wenn sie die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden würde.
Dass er sich selbst gestellt hatte, passte zu seinen Beteuerungen, dass ihm leid tat. Doch warum er es überhaupt getan hatte… Immer und immer wieder drehten sich ihre Gedanken um diese Frage. Warum? Ein Richard von Bramberg sah gut aus, konnte doch jede haben und sonst hatte er auch genug Geld, um sich das Notwendige zu kaufen. Warum hatte er sich an ihr vergangen, einer „Kuh vom Lande“ – wie er sie gerne tituliert hatte, unscheinbar, mollig und bebrillt. Es ergab alles überhaupt keinen Sinn – und das machte es so immens schwer alles zu akzeptieren.
Die seelischen Auswirkungen dieses Abends waren deutlich gravierender. Ihr Denken war immer in schwarz und weiß aufgeteilt gewesen – und nun? Was war sie nun selbst? Weiß, als „gefallenes Mädchen“? Grau – wie irgendwo dazwischen? Schwarz – obwohl sie doch nichts dafür konnte?
Und sie hatte Schwierigkeiten mit den Menschen in ihrer Umgebung. Mit ihnen zu reden, sie zu berühren. Besonders die Männer, ganz besonders die Männer. Nicht mal die Berührung von ihrem Vater oder Jürgen ertrug sie. Dabei sagte ihr Kopf ihr, dass alles in Ordnung sei, aber sie konnte sich nicht von ihnen berühren lassen. Es ging einfach nicht! Nicht einmal David konnte sie anfassen.
David. David und Mariella. Mariella.
Was war nur geschehen im Verhältnis zwischen Mariella und ihr? Zwei Rivalinnen um die Gunst eines Mannes waren zu Freundinnen geworden. Zu engen Freundinnen. Ihre Eltern konnten das überhaupt nicht verstehen und waren ziemlich entsetzt über diese Verbindung. Lisa konnte es sich selbst nicht erklären, aber ohne Mariella… Sie schauderte bei dem Gedanken daran, was ohne sie aus ihr geworden wäre. Mariella war in diesen Tagen ihr Halt gewesen, ihre Festung, ihre Vertraute – und ihre Freundin. Allen äußeren Umständen zum Trotz. Befreundet mit der Frau ihres heiß geliebten David. Befreundet mit der Schwester des Mannes, der ihr so übel mitgespielt hatte.
Doch es war so. Und Lisa war sich sicher – es war beidseits so.
Lisa hatte inzwischen natürlich mitbekommen, dass David und Mariella ihre Hochzeitsreise abgesagt hatten und wollte sie überreden diese nun anzutreten, aber es wäre leichter gewesen einen Felsen zu verschieben als Mariellas Entschluss, zu bleiben und Lisa beizustehen. Und David? Sie sah ihn eigentlich nur, wenn er seine Frau brachte oder abholte. Noch vor kurzem hätte sie sich gefreut, wenn er sie umarmt hätte, jetzt würde sie nur noch in Panik geraten.
Die Psychologin hatte ihr gesagt, dass sie sich in Geduld fassen müsste, es wäre ein langer Weg zurück. Doch Lisa hatte kein Vertrauen in diese Frau. Sie mochte sie irgendwie nicht und aus diesem Grunde fiel es schwer, sich ihr gegenüber zu öffnen. Sie hatte das Gefühl von ihr zu schnell in eine Schublade gesteckt worden zu sein und da nicht mehr heraus zu kommen.
Natürlich könnte sie das Krankenhaus jetzt verlassen – sie müsste es nur sagen. Doch sie war noch nicht bereit ihr Zimmer in Göberitz bei ihren Eltern wieder zu beziehen. Auch das fanden ihre Eltern unverständlich und waren verletzt. Zu Recht wohl – aber Lisa konnte nicht gegen ihre Gefühle gegen an.
Sie brauchte diese Tage für sich. Zum Nachdenken und um Entscheidungen zu fällen, wie es weitergehen sollte.
Trotz der späten Stunde klopfte es an der Tür und Dr. Angelika Vidras trat ein.
„Ich dachte mir schon, dass Sie noch wach sind und die Fensterbank besetzen...“
Lisa lächelte „Ertappt.“
„Soll ich Ihnen eine Beruhigungsmittel bringen lassen?“
„Nein – ich möchte das nicht, danke. Hab schon viel zu viel davon bekommen.“
Dr. Vidras kam näher und bezog am anderen Ende der Fensterbank Position. „Sie müssen nicht alles auf einmal wieder in Ordnung bringen Lisa. Lassen Sie sich Zeit. Und Sie können hierbleiben, solange Sie wollen.“
„Ich weiß – David Seidel zahlt..“
„Nicht nur deswegen. Es ist auch so, Lisa. Ihnen ist etwas Furchtbares passiert. Und Sie müssen Ihren Weg finden damit klar zu kommen. Und da kann Ihnen keiner wirklich raten. Sie können sich Hilfe holen, aber im Prinzip müssen Sie wissen, was Sie wollen. Ach herrje – jetzt höre ich mich schon an, wie eine Psychologin, dabei bin ich doch von der Knochenfraktion!“
„Aber ich weiß, wie Sie es meinen... Dr. Vidras?“
„Ja Lisa?“
Lisa sah wieder aus dem Fenster und sammelte sich. Die Ärztin ließ ihr Zeit solange sie eben brauchte.
„Es ist vielleicht lächerlich, aber einer der schlimmsten Momente war, als mir meine Brille abhanden kam. Wissen Sie ich habe fast zehn Dioptrin – das heißt ich bin ohne Brille so gut wie blind...“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Ich hab vom Augenlasern gehört – meinen Sie das ginge auch bei mir? Ich möchte nie wieder so hilflos sein!“
„Eine Unabhängigkeit von einer Brille wird Sie aber nicht davor schützen...“
„Nein – aber die Wahrscheinlichkeit verringern.“
Dr. Vidras sah ihre Patientin nachdenklich an. Es war das erste Mal, seit sie hier eingeliefert worden war, dass sie ein eigenes Ziel verfolgte. Warum nicht? „Ich schau mal, wer Notdienst hat, vielleicht haben wir Glück.“ Sie telefonierte von Lisa´s Zimmer aus. „Na – das soll wohl klappen. Ein Augenarzt hat heute auch Notdienst. Allerdings ein Mann... Aber er könnte gleich die Voruntersuchungen machen.“
Ein Mann. In Lisa zog sich alles zusammen, aber dann holte sie tief Luft und nickte. Gut – wenn es denn sein musste. „Bleiben Sie bei mir?“
„Ich gehe keinen Millimeter weit weg, versprochen!“
Für Lisa war die Untersuchung eine Tortur. Keinen halben Meter von ihr entfernt saß ein Mann und sah ihr in die Augen. Dann bekam sie auch noch augenweitende Tropfen und alles wurde noch schlimmer. Sie langte nach Dr. Vidras Hand und diese ergriff sie sofort und drückte sie beruhigend. „Sie machen das ganz phantastisch!“
Lisa´s Augen waren geeignet. Sie schloss erleichtert dieselbigen.
„Gut“ sagte Dr. Vidras „dann sehe ich zu, dass die OP gleich Morgen oder Übermorgen stattfinden kann – wenn Sie das so schnell wollen?“
Lisa nickte nachdrücklich – ja – genau das wollte sie!
Lisa wurde zwei Tage später operiert. Sie hatte Niemanden davon ein Wort gesagt, nicht einmal ihren Eltern oder Mariella. Sie wollte sich dabei nicht reinreden lassen. Das war eine ganz neue Erfahrung für sie. Sonst hatte sie immer zugesehen, dass sie alles, aber auch alles, vorher diskutierte und besprach.
Die OP selber machte eine Augenärztin und war viel weniger dramatisch als gedacht. Lisa lag ruhig da und war sich sicher das Richtige zu tun.
Wieder im Zimmer trug sie nur durchsichtige Plastikschützer vor den Augen und musste mehrmals am Tag Augentropfen nehmen. Außer einem ganz leichten Brennen der Augen – so als wäre diese viel zu müde – verspürte sie nichts. Und – es war absolut unglaublich! Sie konnte sehen! Sogar besser als mit ihrer Brille!
Als ihre Mutter kam und die Plastikschützer über den Augen sah, drehte diese fast durch. Zum ersten Mal war es Lisa jedoch egal. Sie hatte das getan, was sie wollte und es tat verdammt gut.
Mariella reagierte komplett anders. Natürlich war sie auch erst erstaunt, aber dann lachte sie wie befreit auf und meinte „Genau Lisa – pack das Leben wieder an! Und wenn Du so loslegen willst – bitte!“
Über diese Worte dachte Lisa noch am nächsten Tag nach. Sie hatte gerade die Plastikverbände abmachen dürfen und freute sich daran, dass sie sehen konnte, als David Mariella ins Zimmer begleitete, sie kurz begrüßte und dann gleich wieder gehen wollte.
„Bitte, David. Bleibst Du noch kurz?“
Beide – David und Mariella – waren erstaunt.
Lisa holte tief Luft. „Ich muss etwas dagegen tun, dass ich kein männliches Wesen anfassen kann. Papa ist schon so gekränkt....“
David blieb abwartend stehen „Was möchtest Du Lisa?“
„Versuch mich in den Arm zu nehmen, aber bitte sag nichts – und sei bitte nicht gekränkt, wenn ich es nicht kann.“
David kam langsam näher und in Lisa versteifte sich alles. Sie konnte sein Aftershave riechen. Himmel, war er groß. Seine Arme legten sich nur wie ein Hauch um sie herum, bereit sie jederzeit wieder freizugeben. Lisa zitterte, der Schweiß brach ihr aus allen Poren und zu allem Überfluss begann sie nun auch noch zu weinen.
„Lisa?“ – das war Mariella „Soll David aufhören?“
„Nein!“ kam es kurz und abgehackt von Lisa. Sie zwang sich tief durchzuatmen und sich darauf zu konzentrieren sich zu sagen, dass das doch David war. „Genug“ – flüsterte sie schließlich und David ließ sofort die Arme fallen. Lisa ging zum Bett und setzte sich schwer darauf nieder. Sie war völlig ausgepumpt. Der Arm, der sich nun um ihre Schultern legte, war weich und sie roch Parfüm. Dankbar ließ sie sich gegen Mariella sinken. „Das war ganz großartig Kleine!“
Lisa sah zu David. Er sah ziemlich schockiert aus. Es war ihm wohl noch nie passiert, dass eine Frau so auf eine Umarmung von ihm reagiert hatte. Er sagte leise „Dann gehe ich jetzt mal... Lisa – willst Du das wiederholen?“
Lisa nickte an Mariellas Seite „Aber heute nicht mehr“ krächzte sie. „Nicht beleidigt sein, bitte.“
David nickte und ging.
Mariella streichelte sie „Komm – leg Dich ein bisschen hin. Du siehst aus, als hättest Du gerade Wellingtons Armee angeführt.“
Von da an stand ihr David als Versuchsobjekt zur Verfügung. Es war irgendwie bitter. Bis vor kurzem wäre sie in seinen Armen dahingeschmolzen und nun musste sie aus ganz anderen Gründen darum ringen die Fassung zu bewahren. Und dies war David – was sollte erst werden, wenn ein Fremder es wagen sollte, sie zu berühren?
Am dritten Tag ging es schon etwas besser und Lisa sagte „Versuch mich richtig in den Arm zu nehmen.“ Als sich Davids Arme sanft aber fest um sie schlossen, war ihr als ob eine Gefängnistür zugehen würde. Sie verfiel in eine Art Starre. David ließ sie abrupt los und ging mehrere Schritte zurück. „Nochmal“, sagte Lisa verbissen.
David sah seine Frau unentschlossen an. Lisa so leiden zu sehen, war einfach entsetzlich.
„Lisa“, sagte Mariella sanft „es reicht für heute.“
„Einmal noch – bitte!“
David schüttelte zwar leicht den Kopf, kam aber doch wieder näher und umarmte sie erneut.
Lautlos sackte Lisa zusammen.
Er fing sie auf und trug sie zum Bett. „Wenn ich Richard in die Finger kriege, breche ich ihm alle Knochen!“
„Lass uns alleine, Liebling. Wenn Lisa aufwacht, ist es besser, wen Du nicht da bist.“
David nickte und ging.
Lisa kam kurz darauf wieder zu sich und weinte. Mariella tröstete so gut sie konnte.
„Mariella – das ist stärker als ich!“
„Unfug – Du machst das prima – aber versuch nicht gleich alles zu erzwingen!“
Als am nächsten Tag David wiederum Mariella brachte, hatte Mariella eine Idee „Wir machen es umgekehrt – Du umarmst David.“
Auch das bedeutete für Lisa eine ungeheure Überwindung, ging aber besser. Hier konnte sie entscheiden, wie lange sie den Kontakt zuließ. Nur als David unvorsichtiger Weise sagte „Geht doch!“, hechtete Lisa geradezu von ihm weg.
“Tut mir leid“, sagte er zerknirscht.
Lisa schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln „Und wie kriege ich meinen Vater jetzt dazu sich umarmen zu lassen, nicht zu erwidern und nichts zu sagen?“
„Also das wird ein schweres Stück Vorbereitungsarbeit!“
Dass es dann doch gut ging mit Papa Plenske, hatte Lisa den beiden zu verdanken. Sie fuhren nach Göberitz und diesmal war es Mariella, die mit Bernd übte, wie er sich zu verhalten hätte.
Helga sah dem Schauspiel mit gemischten Gefühlen zu „Ich finde unsere Deern stellt sich ein bisschen zu doll an. Die soll mal nach hause kommen – dann wird alles wieder gut!“
Mariella und David wechselten besorgte Blicke – wäre Lisa fähig wieder in ihre alte Umgebung zu gehen und so weiter zu machen wie vorher? Hier wohnen, bei Kerima arbeiten, Sitzungen leiten, Interviews geben...
Ein Berg von Schwierigkeiten würde sich vor Lisa auftun – aber dass sie bereits wieder kämpfte, um das Leben wieder meistern zu können, hielten sie beide für ein ungeheuer gutes Zeichen.
Als Jürgen Tags drauf Lisa besuchte – immer auf Abstand und immer vorsichtig – überraschte sie ihn „Bleib bitte genau da stehen, nix machen, nix sagen.“
Jürgen blieb reglos mitten im Zimmer stehen und Lisa schaffte es, ihn zu umarmen und ruhig wieder zurück zu treten. Er war schmaler und kleiner als David – das machte es irgendwie leichter.
„Mensch Lieselotte – das war.. Du bist unglaublich, weißt Du das?“
Mariella traf sie Nachmittags beim Kofferpacken an „Zurück nach Göberitz?“
„Ja - es wird Zeit.“ Sie sah ihre Freundin an „Kommst Du mich auch da besuchen?“
„Nichts hält mich davon ab.“
Lisa nestelte am Verschluss ihres Koffers „Ich muss soviel überdenken, soviel entscheiden...“
„Du machst das schon Lisa – Du schaffst das. Du bist so stark!“
„Also – auf nach Göberitz“ – es klang als wollte Lisa einen sehr hohen Berg bezwingen.