KAPITEL 31 - Freundinnen
Tatsächlich kam ein paar Minuten später ein ziemlich erschöpft wirkender Arzt zu ihnen.
„Herr Seidel?“
„Wie geht es meiner Frau? „...geht es meiner Tochter?“ David und Sophie hatten gleichzeitig gesprochen.
Es war das erste Mal, dass Lisa bewusst Sophie ansah. Obwohl sie Haltung zeigte (eine Eigenschaft, die ihr langsam ziemlich bekannt vorkam), sah sie zum ersten Mal älter aus. Lisa war versucht auch sie von der Liste der Verdächtigen zu streichen – doch wer blieb dann noch übrig?
„Herr Seidel...“ der Arzt sprach ruhig und betont sachlich „für den Augenblick kann ich Ihnen nur sagen, dass Ihre Frau die Operation überlebt hat – und das ist mehr, als wir Anfangs hoffen durften... Die inneren Verletzungen haben wir im Griff, sie bekommt auch bereits Blutkonserven, um den Blutverlust auszugleichen. Von daher kann ich Entwarnung geben. Die Schädigung des Rückenmarkes macht uns große Sorge, die Wahrscheinlichkeit der totalen Querschnittslähmung ist sehr groß und dass sie das Kind noch nicht verloren hat, wird auch zum Problem.“
David zuckte zusammen „Noch nicht verloren?“
„Ja – das klingt jetzt grausam – aber der Körper ihrer Frau ist so geschwächt, dass die Schwangerschaft eine immense zusätzliche Belastung darstellt. Wir wollten Sie um ihr Einverständnis bitten, das Kind holen zu dürfen, wenn es zu kritisch wird.“
„NEIN!!“ Alle Augen drehten sich zu Lisa. Diese wurde zwar feuerrot, suchte aber den Blick des Arztes „Wenn sie ihr das Kind nehmen, bringen Sie sie um.“
„Liebe, gute Frau...“
„...Plenske. Mariella ist stark – sie wird für das Kind leben wollen. Nehmen sie ihr das nicht!“
David sah zwischen dem Arzt und Lisa hin und her. „Kann ich sie sehen?“
„Wir lassen Ihre Frau gleich einmal kurz aufwachen – um ihre Vitalfunktionen zu überprüfen. Ich rufe sie dann. Überlegen Sie sich das mit dem Kind noch einmal gründlich.“
Sophies Stimme klang ganz leise „Frau Plenske hat Recht. Mariella würde alles für ihr Baby tun.“
„Oh Gott“ – David schlug die Hände vor die Augen „Ich will sie nicht verlieren!“
Und erneut begannen sie zu warten.
Eine Ärztin war es diesmal, die direkt auf ihre Gruppe zusteuerte. Es war Niemand anderer als eine Lisa sehr bekannte Frau – Dr. Angelika Vidras. David erhob sich sofort, doch die Ärztin fragte „Ist hier Jemand zwischen, der Lisa heißt?“
„Ja – ich.“ Lisa erhob sich nun ihrerseits und tauschte ein Lächeln mit ihrer Ärztin, warf jedoch einen besorgten Blick auf David.
„Oh – Sie sind diese Lisa... Frau Seidel ist wach, aber sehr unruhig. Sie fragt immer wieder nach Ihnen. Wir müssen sie zur Ruhe bringen. Gehen Sie zu ihr – aber regen Sie sie nicht auf!“
Lisa zögerte „Aber ihr Mann....“
Die Ärztin schüttelte den Kopf „Der Wunsch meiner Patientin geht in diesem Fall vor. Sie will mit Ihnen sprechen. Unbedingt. Dies ist für sie wichtig – also auch für mich.“
„Geh Lisa – und grüß sie von uns.“ David ließ sich schwer auf einen der Stühle fallen.
Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen. Lisa folgte Dr. Vidras.
Können so viele Schläuche an ein und demselben Menschen hängen? Lisa zögerte im Schritt, suchte Mariellas Blick und fand deren Augen weit aufgerissen auf sich gerichtet. Lisa stürzte vor, ging vor dem Bett in die Hocke und strich Mariella sanft über das Gesicht. Die wachhabende Schwester wollte Einspruch erheben, doch Dr. Vidras gebot ihr mit einer Handgeste zu schweigen.
„Lisa... Du bist da...“
Konnte die Stimme eines Menschen so dünn, so klein, so fern klingen? Lisa war es so bewusst, wie nichts anderes – der Tod war mit in diesem Zimmer. Bereit sich jederzeit das zu nehmen, was noch von Mariellas Lebenskraft übrig war.
„Ich bin da.“ Lisa drängte gnadenlos die Tränen zurück. Jetzt musste sie stark sein, stark für sie beide.
„Lisa – versprich mir, versprich mir...“
„Was soll ich Dir versprechen Liebes?“
Mariella schloss kurz die Augen, sammelte sich und öffnete sie wieder. Ihre Augen wirkten viel zu groß für ihr weißes Gesicht. „David.“
„David ist draußen und wartet – soll ich ihn holen?“
„Nein..“ Mariellas Stimme klang gequält „Versprich mir, dass Du Dich um ihn kümmerst, wenn ich nicht mehr bin. Versprich es mir!“
„Mariella...“
„Bitte – ich weiß, dass Du ihn liebst. Sei für ihn da, hilf ihm, bitte.“
Lisa erstarrte und sah in das offene Gesicht ihrer Freundin. Sie servierte ihr David auf dem Silbertablett. Lisa wurde kalt und kälter. Instinktiv wusste sie eines – wenn sie jetzt ja sagte, würde Mariella in Frieden mit sich gehen können – und genau das wollte Lisa ihr nicht erlauben.
Lisa holte ein-, zweimal tief Luft und dann würgte sie alle lieben und verständnisvollen Worte herunter, die ihr über die Lippen wollten.
„Na – das hast Du Dir ja fein ausgedacht.“
Mariellas schockierter Gesichtsausdruck tat weh, doch sie fuhr fort „Du stiehlst Dich davon und überlässt mir die Scherben?“
„Lisa...“ – das klang schon fast wütend.
Lisa sah kurz zu Dr. Vidras, doch diese sah nur gebannt zu Mariella und ihr.
„Da draußen steht Dein Mann, Deine Mutter und Dein Bruder – und alle wollen, dass Du jetzt stark bist und es verdammt noch mal schaffst, das hier zu überstehen! Konzentriere Dich nicht darauf, was wäre, wenn Du nicht mehr bist! Konzentriere Dich darauf zu leben! Für Dich, für Deine Familie, für Dein Baby – und für mich!“
Lisa konnte es nicht mehr verhindern. Die Tränen liefen ihr jetzt die Wangen hinunter.
„Mariella bitte – ich will Deinen David nicht! Kümmere Dich gefälligst selbst um ihn! Bitte – Du bist die beste Freundin, die ich je hatte, bitte bleib bei uns!“
„Ich kann nicht...“ Nun weinte auch Mariella. ´Ich soll sie doch nicht aufregen....` Lisa sah hoch, doch Dr. Vidras griff nicht ein und schickte Lisa auch nicht aus dem Zimmer.
„Doch – Du kannst. Die Ärzte meinen, dass Du vielleicht Dein Baby verlierst – willst Du das? Oder willst Du nicht lieber jedes Quentchen Kraft, das Du hast, nutzen für den kleinen Wurm in Dir und für Dich selbst. David liebt Dich – mehr, als er mich je geliebt hat. Ich könnte Dich nie ersetzen.“
„Lisa – ich kann meine Beine nicht spüren und alles ist so weit weg...“
„Spürst Du meine Hand?“
„Ja.“
„Ich halt Dich. Ich lass Dich nicht gehen.“
„Lisa.“ Mariella versuchte ein winziges Lächeln „So stark, meine Lisa...“
„Du hast mir beigebracht so zu sein.“ Lisa beugte sich etwas weiter vor und flüsterte Mariella zu „Ich kann mich auch nicht noch um Deinen Mann kümmern – ich hab schon genug mit Deinem Bruder zu tun...“
Ein Funke Neugier zündete in Mariellas aschfahlem Gesicht.
Dr. Vidras trat vor „Frau Seidel – wir geben Ihnen jetzt ein leichtes Schlafmittel.“
„Wird das dem Baby schaden?“
„Nein.“
„Bitte lassen Sie Lisa hier, bis ich eingeschlafen bin.“
„Keine Einwände. Und jetzt darf ihr Mann noch kurz rein.“
Mühsam kam Lisa aus der Hocke wieder hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie lange sie da vor dem Bett verbracht hatte.
David kam herein und Lisa machte ihm Platz.
„Hallo Liebling.“
„David...“ Mariella versuchte ein Lächeln „Lisa sagt, ich soll kämpfen...“
„Ja“, David hauchte ihr einen Kuss auf den Mund „das musst Du. Bitte, verlass mich nicht, bitte blieb bei mir...“
Dr. Vidras berührte sachte seine Schulter und er erhob sich wieder, warf noch einen Blich auf Mariella und ging auf ein Zeichen der Ärztin wieder hinaus.
Dr. Vidras tat etwas in den Zugang an Mariellas Arm und nickte Lisa zu. Und so hielt Lisa Mariellas Hand, bis diese tief und fest schlief.
„Lisa?“ Dr. Vidras lächelte ihr zu „Was sind Sie doch für eine Kämpferin. Ich glaube fast, es hat für zwei gereicht... oder besser für drei. Frau Seidel hatte aufgegeben, doch nun... ich denke jetzt haben wir zumindest eine Chance.“
„Versuchen Sie ihr das Baby zu lassen.“
„Sie haben mein Wort – das wird erst unsere letzte Option sein. Obwohl es alles noch zusätzlich kompliziert.“
„Wie meinen Sie das?“
„Obwohl wir noch weitere Untersuchungen machen werden... mein Kollege hat es vorhin schon zu Herrn Seidel gesagt... es ist sehr wahrscheinlich, dass sie nie mehr gehen kann.“
„Querschnittslähmung?“
Dr. Vidras nickte.
„Wann wird sie wieder wach? Ich mochte da sein. Oder David. Oder wir beide...“
Mariella schaffte das Unmögliche – sie blieb am Leben. Aber der Preis war hoch. Lisa war bei ihr, als ihr mitgeteilt wurde, dass sie nie mehr würde gehen können.
Sie war auch bei ihr und hielt ihre Hand, als plötzlich Wehen einsetzten. Stundenlang saß sie an Mariellas Bett, wischte ihr die Stirn, hielt ihre Hand und flehte mit ihr zusammen, um das Leben des ungeborenen Kindes.
Es war ein kleines Wunder – sie verlor das Kind nicht - zumindest vorerst nicht. Es war klar, dass Mariella nun bis zur Geburt des Kindes in der Klinik würde bleiben müssen.
David, Sophie, Lisa und auch Richard wechselten sich bei Mariella ab. Sie hielt sich tapfer und wahrscheinlich besser, als viele andere in ihrer Situation.
Das Kind gab ihr Hoffnung – und die Nähe der Menschen, die sie liebten.
Lisa war nur den ersten Tag auf Lauras Vorschlag eingegangen, in dieser Zeit bei ihr zu wohnen. Dann jedoch nahm sie sich eine Hotelsuite. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen wollte sie die ohnehin gebeutelte Familie nicht noch mehr belasten, zum anderen war Richard ein Grund. Sie wusste, wie viel ihm daran lag, des Nachts eingesperrt zu werden und es war von ihr auch nicht unbemerkt geblieben, dass Laura sich in Richards Gegenwart sehr unwohl fühlte. Ganz zu schweigen von Kim, die Richards Anwesenheit mit einem „Tss – sieh an – Darth Vader kehrt heim“ kommentierte.
Was Richard bei all dem empfand, blieb ihr verborgen. Er trug – mehr denn je – seine undurchsichtige Maske. Er war kühl und höflich und half, wo er konnte. Aber es waren keinerlei Emotionen aus ihm heraus zu lesen.
In der Hotelsuite gab es ein abschließbares Zimmer und da sie außerdem im 18.Stock lag, war Richard anscheinend wieder beruhigt.
Sie blieben fast drei Wochen in Berlin. Bis Mariella ein Machtwort sprach.
Lisa war gerade bei ihr und gab den vielen Blumen, die im Zimmer standen, neues Wasser, als Mariella sie ansprach „Lisa – setz Dich bitte zu mir.“
Lisa tat, wie ihr geheißen und blickte in das immer noch sehr blasse Gesicht ihrer Freundin.
Mariella strich sanft über Lisas Arm „Wir müssen reden.“
„Worüber denn?“
Mariella seufzte „Ich bin außer Gefahr und werde noch Wochen hier drin verbringen müssen. Und Du hast Dein eigenes Leben. Richard hat mir von Euren Plänen für eine Art Zoo erzählt...“
„Das ist doch jetzt unwichtig!“
„Nein – ist es nicht. Lisa fahr zurück. Es war wunderbar, dass Du mir in diesen schweren Wochen beigestanden hast – und ich weiß, dass ich Dich jederzeit bitten kann, wieder zu kommen... Aber jetzt ist es genug! Ich muss jetzt für mich sein – mich mit meiner Behinderung auseinandersetzen und mit David zusammen einen Weg finden.“
„Du bist so stark Mariella – so unendlich stark.“
Eine Träne lief das wunderhübsche Gesicht herunter „Bin ich gar nicht, nur dazu erzogen immer Haltung zu bewahren... Und Du warst da, David, Mutter und Richard...“
„Du schaffst das Mariella – wenn das Jemand schafft, dann Du!“
Mariella ergriff ihre Hand „Wir telefonieren täglich ganz lange ja? Ich weiß nicht, was ich ohne Dich getan hätte...“
„Dasselbe habe ich auch schon zu Dir gesagt.“
„Ich weiß“, Mariella zögerte, dann fasste sie sich ein Herz „Liebes – was ist das da für eine Geschichte mit Richard? Er wohnt bei Dir? Ihr wohnt auch jetzt im Hotel zusammen?“
Lisa nickte und drückte leicht Mariellas Hand. Dann erzählte sie Mariella von dem Briefwechsel, den sie mit Richard gehabt hatte, wie er auf dem Hof aufgetaucht war, wie er sich Matty gegenüber verhielt und nicht zuletzt erzählte sie auch von dem Hundangriff.
Mariella unterbrach sie nicht ein einziges Mal und ihr Gesicht war genauso verschlossen, wie das ihres Bruders.
Es war eine ganze Weile still, nachdem Lisa geendet hatte, dann meinte Mariella leise „Hast Du mal mit Conny über all das gesprochen?“
„Schon mehrmals. Ich glaube, sie hofft immer noch, dass ich ihn irgendwann abscheulich finden werde.“
„Aber dem ist nicht so?“
Lisa schüttelte den Kopf und sah der Freundin dann gerade in die Augen. „Mariella – ich wünschte, ich könnte mich selbst begreifen, was Richard betrifft – aber ich kann es nicht. Einerseits ist er ein Fremder für mich und andererseits der Mensch, der mich wohl am besten verstehen kann. Ich habe Angst, dass seine Befürchtungen, dass er etwas mit den Attentaten zu tun hat zutreffen und gleichzeitig vertraue ich ihm täglich mehr. Manchmal glaube ich, ich werde verrückt.“
Sie holte tief Luft „Ich weiß ja, dass ich eigentlich gar keinen Kontakt mit ihm haben sollte... ich weiß, dass er mir Furchtbares angetan hat...“
„Ihr braucht Euch.“
„Was?“
„Ihr ergänzt Euch gegenseitig. Ihr seid auf seltsame Weise beide verletzt. Du durch ihn und er durch seine Krankheit und damit, was er Dir angetan hat.“
Lisa dachte lange darüber nach.
„Lisa?“ Mariella fing Lisas Blick ein. „Du solltest Dir überlegen, ob Du Dich ganz zu ihm bekennst oder ihn zum Teufel schickst.“
„Und das sagst Du, als seine Schwester?“
„Gerade weil ich seine Schwester bin. Wie er von Dir erzählt... Ich glaube nicht, dass Du ihm gleichgültig bist. Um Euer aller Willen – einschließlich Matty – bitt´ ich Dich – werde Dir darüber klar, was Du wirklich willst.“
Lisa schluckte hart „Ich weiß es nicht.“
„Denk darüber nach – dann wirst Du es wissen. Ich kenne Dich – Lisa Plenske.“
„Du findest es nicht unnormal, dass Richard bei mir wohnt?“
Mariella lachte – aber es klang ganz und gar nicht fröhlich „Ich finde es nicht erklärbar und schockierend. Aber wenn Du ihn willst, solltest Du Dir auch darüber klar sein, dass viele andere Menschen es noch weitaus schockierender finden werden – oder krank oder verrückt oder widerwärtig.“
„Was soll ich denn machen?“
„Finde Deinen Weg Lisa – nicht Richards oder den Deiner Umwelt – Deinen ganz eigenen Weg und dann steh dazu.“
„Mariella – wieso bist Du so klug?“
„Das bin ich nicht. Ich liebe Euch beide und ich hab Angst um Euch beide. Ihr lebt in einer absurden Situation. Entweder Du stehst dazu oder Du änderst sie.“