KAPITEL 20 – Mütter, Väter, Söhne
Als Lisa am nächsten Tag wach wurde, fühlte sie sich entsetzlich. Schlapp und müde und...? Ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten und ob es nun erlaubt war oder nicht – sie stand auf, wusch sich und legte sich wieder hin. Das war schon besser. Sie griff zum Telefon
„Decker´s Kiosk – alles was Sie wünschen!“
„Jürgen? Kommst Du mich heute besuchen?“
Es entstand eine kleine Pause „Ich bitte Yvonne auf den Kiosk aufzupassen – gib mir ´ne halbe Stunde!“ Und schon hatte er aufgelegt.
Jürgen brauchte genau 40 Minuten und sein Ausdruck war mehr als besorgt. Er traf Lisa gerade in einem Bettelgespräch mit der Schwester an. Weil es ihr in der Nacht so schlecht gegangen war, hatte man Mattias in die Säuglingsstation gebracht. Lisa wollte ihn aber unbedingt zurück.
„Gut Frau Plenske – gut. Bevor Sie sich wieder so aufregen, dass Sie wieder Fieber kriegen. Ich bringe Ihnen Ihren Sohn gleich einmal zum Stillen – aber für Ihren Mittagsschlaf bringe ich ihn noch einmal weg.“
„Aber danach bekomme ich ihn dann wieder ganz?“
„Wenn das Fieber nicht wiederkommt – ja.“
Damit gab sich Lisa zufrieden und sah erst jetzt ihren Freund, der etwas unsicher an der Tür stehen geblieben war.
Sobald die Schwester das Zimmer verlassen hatte, zog er sich einen Stuhl heran und begann ohne Umschweife „So Lieselotte – was ist los? Diese Komm-sofort-und-hilf-mir Stimme hab ich schon lange nicht mehr bei Dir gehört!“
Lisa zog die Schublade auf und entnahm den anonymen Brief.
Jürgen wurde erst blass und dann rot, als er ihn las.
„So ein Schmierfink! Lisa – der muss zur Polizei!“
„Nein!“ Lisa schnappte sich den Brief und beförderte ihn wieder in die Schublade.
„Wie nein?“
„Das einzige, was dieser Brief definitiv tut, ist Richard zu belasten. Und ich bin mir über die Motive des Schreibers überhaupt nicht im Klaren.“
„Vielleicht ist er ja wirklich der Entführer?“
„Vielleicht ja – vielleicht will ihm aber auch Jemand was anhängen. Ich sag es doch schon die ganze Zeit – ich will wissen, wer Richard wirklich ist und ob er David entführt hat oder Jemand anderes!“
Die Schwester kam herein und brachte Mattias. Lisa streckte sofort die Arme nach ihm aus. Die Schwester sah es wohlwollend „Das ist ein ganz strammer Junge, den sie da haben! Und eine Lautstärke hat der!“
Doch Lisa hatte alles um sich herum vergessen. Ungeachtet dessen, das Jürgen noch im Zimmer war, legte sie ihn sich an die Brust und beobachte lächelnd, wie ihr Sohn sich sofort über den Milchsegen hermachte.
Als die Schwester gegangen war, meinte Jürgen kritisch „Der ist jetzt schon genauso gierig wie sein Vater!“
„Unfug – das ist ein ganz normales Baby!“ Sie sah hoch „Jürgen – siehst Du irgendeine Möglichkeit herauszufinden, wer den Brief geschrieben hat?“
„Hmh – gibt´s Du mir den Brief mit? Ich verspreche, ich bringe ihn nicht zur Polizei.“
„Nimm ihn Dir wieder raus...“
Als die Schwester Mittags das Kind abholen wollte, lagen beide zusammen in Lisa´s Bett und schliefen. Lisa hatte ihren Sohn im Arm und beide sahen so friedlich und entspannt aus, dass sie es nicht über sich brachte, den Lütten jetzt wegzunehmen.
Mattias rührte und ruckte sich nicht, bis seine Mama wieder aufgewacht war, dann allerdings forderte er lautstark seine Rechte ein. Lisa stand auf, wickelte ihn neu und gab ihm dann einmal mehr die Brust. Seltsam – schon jetzt konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, jemals wieder ohne ihn zu sein...
Mattias lag gerade wieder in seinem Bett und gab kleine schmatzende Geräusche von sich, als es an der Tür klopfte. Auf Lisa´s herein, kam Jemand, mit dem sie nun überhaupt nicht gerechnet hatte: Sophie von Bramberg betrat den Raum – in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen einen Teddybären.
Lisa erstarrte. Mit Richard Kontakt zu haben, war eine Sache – aber mit seiner Mutter...
Sophie trat entschlossen und mit gewinnendem Lächeln näher „Frau Plenske – ich wollte Ihnen einen Besuch abstatten und – wenn es erlaubt ist – einmal meinen Enkel betrachten.“
Ihren Enkel – ach du Schreck – in gewisser Weise hatte diese Frau Recht. Wenn sie Richard sein Recht als Vater zugestand, dann war in eben dieser gewissen Weise Sophie die Oma – eine absolut absurde Vorstellung!
Fass Dich Lisa! „Ähem – natürlich können Sie Mattias sehen. Mir war allerdings nicht klar, dass Sie ihn als Enkel betrachten!“
„Nun – da mein Sohn seine Verpflichtung anerkennt...“
Sophie beugte sich über das Kinderbett und betrachte ihren Enkel „Sieht genauso aus, wie Richard früher. Mariella war viel zarter...“
Damit sprach Sophie eigentlich nur aus, was Lisa sich im Stillen auch schon gedacht hatte. Das Kind sah Richard verdammt ähnlich.
Sophie hielt Lisa Blumenstrauß und Teddy hin. Einen Augenblick war Lisa versucht abzulehnen, aber dann ergriff sie doch die Mitbringsel.
Ihre frühere Widersacherin bei Kerima blieb nicht lange. Mit dem weisen Rat „Seien Sie ja konsequent mit dem Bengel, sonst tanzt der Ihnen auf der Nase rum“, verschwand ihr ungebetener Besuch wieder. Was hatte die denn gewollt? Interesse an dem Baby? Kaum zu glauben! Aber was sollte es denn sonst gewesen sein?
Am Abend kam mit dem Fleurop Dienst ein riesiger Strauß rosa und weißer Rosen. Auf der kleinen Karte stand nur ein Wort ´Richard`. Lisa stellte die Blumen in eine Vase und sah sie vom Bett aus gedankenverloren an. Was für eine komplizierte Beziehung! Das heißt – war es denn überhaupt eine?
Am frühen Abend rief er an „Hallo Lisa – geht es Euch gut?“
Lisa schloss die Augen „Ja – danke.“ Seine Stimme war so nahe und irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte sie ihn andere Worte sagen ´Es tut mir so leid, Lisa`. Würde das je aufhören?
„Ich wäre gerne dabei gewesen. Verdammt – das wollte ich gar nicht sagen – vergiss es.“
„Wirklich? Dann hättest Du die Nabenschnur durchschneiden können.“
Einen Augenblick war Stille „Lisa – red nicht so mit mir.“
Der Stress der letzten Tage brach sich Bahn, die Tränen begannen zu fließen, nun nicht mehr zu stoppen „Richard – ich kann nicht anders. Du hättest dabei sein sollen – es wäre richtig gewesen. Richtig für mich!“
„Lisa...“ es gab ein seltsames Geräusch, als hätte er seinen Kopf irgendwo gegengeschlagen „Lass uns über etwas anderes sprechen – wann reist ihr ab?“
Sie redeten noch ein paar Minuten Allgemeinplätze und zum Abschied sagte Lisa „Aber das mit dem Schreiben bleibt, ja?“
„Versprochen.“
„Und Weihnachten komme ich Dich besuchen.“
„Ja. Schlaf gut Lisa.“ Er hängte auf.
Und Lisa weinte sich in den Schlaf.
Lisa blieb fast drei Wochen im Krankenhaus. Das sie selbst für die Kosten aufkam und derzeit keine Bettenknappheit herrschte, hatte Niemand etwas dagegen. Das Klinikpersonal war zuvorkommend und nett und Lisa bekam viel Besuch von Mariella, David und Jürgen. Auch Yvonne und Max ließen sich blicken – doch es war seltsam. Früher war sie doch ganz gut befreundet mit Yvonne gewesen – aber nun war alles anders... Yvonne war befangen in Lisa´s Gegenwart und sandte Mattias immer wieder seltsame Blicke zu. Lisa war froh, als sie gegangen waren.
Mehr freute sie sich hingegen, wenn die Rittinghausers kamen oder wenn Dr. Vidras bei ihr hereinschaute.
Aber es kam der Tag, wo Lisa sich wieder vollkommen fit fühlte. Sie bat Jürgen all ihre Sachen mit einem gemieteten Kleinlaster aus ihrem Zimmer in Göberitz zu holen, packte auch all ihre Habseligkeiten, die sie bei Jürgen gelassen hatte, verfrachtete Mattias in den nagelneuen Babysitz und für mit ihrem alten Benz zu ihrem neuen Heim, Jürgen mit dem Kleinlaster im Schlepptau.
Die nächsten Wochen waren recht turbulent. Lisa richtete sich ein und musste gleichzeitig lernen was eine Mama so alles machen muss. Der Hofkater hatte schnell mitbekommen, dass wieder Leben auf dem Hof war und war stracks wieder eingezogen. Nachdem Lisa in zig Mal wieder aus dem Haus befördert hatte, gab sie es auf. Schaffte die Mieze zum Tierarzt, ließ ihn entwurmen und entflohen, nannte ihn Tiger und hatte seitdem einen weiteren Mitbewohner.
Wenn sie ehrlich war, fand sie den Kater ganz pussierlich – und er war oft Abends bei ihr, wenn Matty schon lange schlief und sie alleine vor Buch, PC oder Fernseher saß. In den ersten Tagen fand sie die Einsamkeit sehr ungewohnt, aber sie gewöhnte sich recht schnell daran und genoss es für sich alleine verantwortlich zu sein und Zeit für sich zu haben – sofern Matty sie nicht beanspruchte.
Außerdem hatten sich bereits alle Nachbarn bei ihr vorgestellt und auf Bea Reinhards Hinweis hin hatte sie alle zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Auch der Pfarrer kam öfter mal vorbei und so wurde Lisa langsam aber stetig in die Dorfgemeinde aufgenommen – ein Umstand, mit dem sie nie gerechnet hatte. Sonntags ging sie zur Kirche, Samstags und Mittwochs auf den Markt und jeden Dienstag Nachmittag war bei Bea (sie duzten sich inzwischen) ein kleiner Frauenklatsch. Fragen nach Mattias Vater beantwortete Lisa immer ausweichend. Sie wollte nicht direkt lügen – aber die Wahrheit war auch nicht gerade vorzeigbar. Daher legten sich die meisten Dorfbewohner eine Geschichte zurecht – ein jeder nach seiner Fasson. So kursierte das Gerücht, Lisa würde einen verheirateten Mann lieben, andere schworen, sie wäre ganz früh verwitwet und wieder andere meinten der Vater ihres Kindes war im Ausland und wüsste gar nichts von dem Kind. Lisa ließ sie reden und da sie immer ein bisschen traurig aussah, wenn das Gespräch auf den Kindsvater kam, fühlte sich ein Jeder in seiner Variante bestätigt.
Außerdem schrieb sie sich regelmäßig mit Richard. Es waren mitunter sehr lange Briefe und manchmal auch nur ein paar Zeilen mit dem neuesten Foto von Matty. Sie berichtete von den Dorfbewohnern, ihrem schönen Haus und natürlich von Matty. Er wiederum schrieb Briefe zurück, die in so sarkastischen und ironischen Ton das Gefängnisgeschehen wiedergaben und seine eigenen Versuche bis Weihnachten ihr Ultimatum zu erfüllen, dass Lisa sich immer mehr freute, wenn der Postbote einen Brief brachte. Natürlich wusste das Dorf – durch den Postboten – darüber Bescheid, dass Lisa regelmäßig Briefe mit einer männlichen Handschrift bekam und das Spekulieren ging weiter.
David und Mariella verbrachten hin und wieder einen Tag oder ein Wochenende bei ihr und Lisa fiel auf, dass Mariellas Blick immer trauriger wurde, wenn sie Mattias ansah. Bislang hatte sich bei ihr noch kein Nachwuchs einstellen wollen.
Auch Conny und Nathan waren ein Wochenende zu Besuch gekommen und Conny war angenehm überrascht gewesen, dass Lisa sich hier nicht ganz in ein Schneckenhaus zurückgezogen hatte, sondern recht aktiv am Dorfgeschehen teilnahm. Allerdings verriet ihr Lisa auch, dass sie nach wie vor Berührungen von Männern nicht ertragen konnte und sie verheimlichte auch den Briefkontakt mit Richard nicht. Conny hatte nur den Kopf geschüttelt und ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben, dass Lisa wüsste, was sie tat. Lisa hoffte das auch...
Ihr häufigster Gast war allerdings Jürgen. Zum einen, weil er nun einmal ihr bester Freund war, zum anderen aber auch, weil er ihr Finanzexperte geworden war. Lisa hatte ihm völlig freie Hand gelassen, was das Geld betraf, das sie aus dem Erlös von B-Style erhalten hatte. Jürgen hatte sein eigenes Geld dazugeschmissen und war dabei das Geld „arbeiten zu lassen“ – wie er sich ausdrückte. Er meinte, Arbeiten müsse Lisa wohl nie wieder – aber das war nicht in ihrem Sinne. Sie wollte schon wieder etwas tun – ihr war bloß noch nicht klar was!
So schuf sich Lisa ein Heim – für sich und ihren Sohn. Ein gemütliches Haus, voll renoviert und von ihr mit allerlei Nippes zugestellt, ein Garten, den sie mit Hilfe von Bea anlegte und die Weiden, die zum Grundstück gehörten, hatte sie alle an Niklas Reinhard (Beas Ehemann) für 5 Jahre verpachtet. Lediglich ein großes Stück Garten, die Nebengebäude und eine kleine Weide hatte Lisa aus dem Pachtvertrag herausgenommen. Sie wollte sich die Chance lassen selbst ein paar Tiere anzuschaffen, wenn sie dies gerne wollte.
Es ging – mal wieder – mächtig auf Weihnachten zu und Matty war schon über ein halbes Jahr alt, als am Abend das Telefon klingelte.
„Lisa Plenske.“
„Lisa – hier ist Richard. Es tut mir leid, wenn ich Dich störe – aber ich kann Mariella nicht erreichen und so viele Anrufe habe ich nicht frei...“
„Schon gut – was ist denn los? Du klingst so ... besorgt.“
„Ich weiß, das klingt jetzt seltsam – aber ich habe vor einer knappen Stunde mit meiner Mutter gesprochen und sie war ganz eigenartig am Telefon. Seitdem mache ich mir Sorgen – wahrscheinlich ganz unnötige!“
Er sagte unnötig – aber er klang nicht so....
Er fuhr fort „Ich habe versucht, dass man die Polizei vorbeischickt – aber davon will man hier nichts wissen. Und ich bekomme weder Mariella noch David ans Handy!“
„DU – wolltest David anrufen?“
„Himmel Lisa – sie ist nun mal meine Mutter...“
Lisa dachte kurz nach „ich wollte ohnehin über Weihnachten zu Jürgen – ich packe rasch und fahre dann zu ihm. Lasse Matty bei ihm und fahre zu Deiner Mutter.“
„Danke.“ Es klang wirklich erleichtert. „Der Ersatzschlüssel liegt bei ihr immer unter der Fußmatte – er ist von unten angeklebt.“
„Ich kann doch nicht einfach reingehen, wenn sie nicht aufmacht“, meinte Lisa schockiert.
„Lisa – bitte... Lisa – ich muss Schluss machen. Bitte sag mir Morgen Bescheid, ja ? Und ich danke Dir - so sehr.“