KAPITEL 38 – Ein Kind wird vermisst
Lisa traf Richard und Mattias wie verabredet in einem Restaurant in Berlin. Die Bodyguards hatten sich für die nachmittäglichen Unternehmungen aufgeteilt. Nun waren alle wieder komplett und Joshua und Eric saßen an einem Nebentisch.
Lisa saß da und lauschte Mattias Erzählungen über die verschiedenen Tiere. Leider war das Thema Delphine nun auch wieder akut geworden – aber so wie Lisa es aus Mattys Erzählungen heraushörte, hatte ihn Richard schnell zu den fast ebenso geliebten Kaninchen weitergezerrt.
Es war merkwürdig. Seit dem Gespräch mit Conny fühlte sich Lisa auf eine seltsame Weise frei. Frei wieder das tun und lassen zu können, was sie wollte. Sie war nicht mehr krank. Das Leben gehörte wieder ihr. Eine ganz seltsame Ruhe war über sie gekommen und irgendetwas von ihren Gefühlen musste sich in ihrem Gesicht wiedergespiegelt haben.
Richards nachdenklicher Blick sprach Bände. Er sprach sie aber erst am Abend an, als Matty schon im Bett lag und sie sich noch – wie so häufig in letzter Zeit – noch ein bisschen zusammen setzten, den Tag Revue passieren ließen oder den nächsten planten.
Da Richard inzwischen auch ihre Vorlieben recht gut kannte, brachte er aus der Küche eine frische Kanne Tee mit und setzte sich dann zu ihr. Er reichte ihr einen gefüllten Becher und sein Lächeln war ein klein wenig fragend „Darf ich nachhaken, wie es heute bei Conny war?“
Lisa hatte sich in die Ecke der Couch gekuschelt und Tiger auf dem Schoß. Über den Rand des Bechers sah sie ihn offen an. „Ich habe ihr gekündigt. Ich habe ihr gesagt, dass ich von nun an wieder selbst mein Leben in die Hand nehmen möchte. Meine Entscheidungen wieder treffen möchte, ohne mich rechtfertigen zu müssen.“
Er sah sie lange an und ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel „Lisa is back?“
„Ja - so in etwa.“
Er prostete ihr zu „Aber das bist Du schon so lange wieder. Wenn ich da nur an die Frau denke, die mich im Gefängnis besucht hat, obwohl sie nicht wusste, was sie erwartet... Oder die, die mich zur OP überredet hat... Du bist stark Lisa – ich glaube, Du weißt gar nicht, wie stark.“
Sie seufzte „Ich fühle mich aber oft nicht so.“
„Wer tut das schon...“
Lisa sah gedankenverloren auf den Tisch. Richard hatte seinen Becher darauf abgestellt und sie sah ihn über den Rand ihres eigenen hinweg. In ihrem Kopf begann es zu rattern – eine längst vergessene Erinnerung wollte unbedingt nach oben.
„Lisa?“
Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, runzelte die Stirn vor Anstrengung und versuchte das flüchtige Element einzufangen. Dann schoben sich plötzlich die Teilchen ineinander.
„Zwei Gläser... da waren zwei Gläser auf dem Tisch ... warum hab ich nicht eher daran gedacht?“
„Lisa?“ fragte er vorsichtig.
„Ich glaube, die Erinnerung kam, weil Du eben von der Vergangenheit gesprochen hast... Der Abend, als Sophie sich angeblich das Leben nehmen wollte. Auf dem Couchtisch standen die Flaschen und zwei Gläser. Richard – sie hatte Recht! Da war Jemand den Abend in ihrer Wohnung! Sie hat mit Jemanden zusammen getrunken, der oder die ihr dann auch die Tabletten einflößte...“
„Bist Du sicher?“
Lisa nickte und ohne den Blick von dem Becher zu nehmen, fuhr sie fort „Sie muss die Person gekannt haben. Ihr wahrscheinlich sogar vertraut haben.... Der Kreis, der Personen, die in Frage kommen, wird immer kleiner...“
Richard drehte nachdenklich seine Daumen ineinander „Nun – dann können wir zumindest Laura ausschließen – mit der würde sie nie einen heben...“
Lisa rieb sich die Stirn „Richard – die Lösung ist da – wir übersehen irgend was! Nur was? Es kommen doch eigentlich nur die Familien Seidel und Bramberg in Frage. Aber das ist doch verrückt. Wer sollte denn von denen so grässliche Dinge anstellen?“
Richard stand auf, ging ans Fenster und sah hinaus in den Regen „Jeder von uns kann es gewesen sein. Sogar meine Mutter könnte alles vorgetäuscht haben. Mariella schließe ich aus... Laura auch. Bleiben Friedrich, David, Kim, Sophie und ich. Such Dir Jemanden aus.“
„Wir müssen einen Fehler gemacht haben – es muss noch Jemand anderer profitieren – wir übersehen etwas, ganz bestimmt.“
„Oder wir wollen nicht wahrhaben, dass gerade die Menschen, denen wir so gerne vertrauen würden, vielleicht gerade die sind, bei denen wir es nicht tun dürfen... Ich habe auch über Sabrina weiter nachgedacht...wollte bloß nichts sagen die letzten Wochen, um alles nicht noch mehr aufzurühren. Ich denke, sie hat erfahren, wer all die Aktien aufkauft – oder wer gegen Sophie agiert hat. Vielleicht auch, wer an dem Abend bei Sophie gewesen ist. Irgend etwas, dass den Briefeschreiber enttarnt hätte.“ Er starrte eine Weile aus dem Fenster, so als könne er da die Lösung finden, drehte sich dann wieder um und schüttelte bedauernd den Kopf „Gehen wir zu Bett Lisa – heute Abend kommen wir da nicht weiter.“
Leider kamen sie auch die nächsten Wochen in der Sache nicht weiter. Lisa hatte das Gefühl, sie drehten sich ständig im Kreis.
So blieben die Bodyguards bei Ihnen und Niklas und Richard werkelten weiter an der Entstehung des Streichelzoos. Wohl auch, um sich abzulenken, kniete sich Richard in diese Arbeit hinein. Die Eröffnung hatten sie zwar auch das nächste Frühjahr geschoben, aber die Sache nahm langsam Formen an. Richard hatte dafür gesorgt, dass Lisas Wohnbereich bei den Planungen außen vor blieb, so dass sie immer eine Rückzugsmöglichkeit hatte. Er kümmerte sich um öffentliche Genehmigungen und Förderungen und legte auch den Umfang des Projektes fest. Sie wollten klein beginnen, um im Falle eines Scheiterns zwar einen Menge Tiere zu haben – aber eine immer noch überschaubare Menge.
Bislang hatten sie schon einen kleine Ziegenherde, eine Gruppe Dammwild, die Ponys, Hühner und auch die Schweine hatten sich zahlenmäßig vermehrt.
Die Kühe sollten erst kurz vor Eröffnung hinzukommen – ebenso wie die Jungtiere, die die umliegenden Bauern dem Streichelzoo zur Verfügung stellen würden.
Bea tüftelte an Ideen, was man mit den Kids den Tag über machen konnte und welche Informationen sie ihnen vermitteln wollte.
Mattias geriet komplett aus dem Häuschen, als mitbekam, dass Niklas und Richard an einem Riesengehege für Kaninchen und Meerschweinchen arbeiteten. Richard hatte mit umliegenden Tierheimen gesprochen. Diese waren nur zu gerne bereit, ihre überquellenden Gehege zu entlasten und Lisa Tiere abzugeben.
So ging der Oktober ins Land und der November brach an. Lisa telefonierte sehr viel und sehr lange mit Mariella. Sie war auch bereits zweimal zu einem Noteinsatz nach Berlin gefahren, wenn Mariella ihr Los unerträglich fand. Daheim, zwar noch ohne Kind aber mit Mann, war Mariella klar geworden, dass ihre Behinderung dauerhaft war und nicht eine vorübergehende Krankheit. Und obwohl David alles versuchte, um ihr die Umstellung leicht zu machen, war es doch sehr hart für eine junge gesunde Frau nun plötzlich dauerhaft invalide zu sein und auf die Hilfe anderer angewiesen.
So war es denn doch manchmal Lisa, nach der sie verlangte und Lisa kam dann zu ihr, so rasch sie nur konnte. Klein-Lisbeth wuchs und gedieh und Mariella hoffte, dass sie sie bald aus dem Krankenhaus abholen konnten. Sie war mit David zusammen täglich bei der Kleinen und durfte sie nun auch für einige Zeit aus dem Brutkasten nehmen und mit ihr umgehen.
Lisa hoffte sehr, dass Lisbeth´s Einzug in Mariellas und Davids Heim auch Mariella helfen würde ihr schweres Schicksal besser zu ertragen.
Es war fast Mitte November und Richard war bis zum Mittag mit Niklas in der großen Scheune gewesen und hatte Mini-Fachwerkhäuschen erstellt, die den Nagern als Unterkünfte dienen sollten. Lisa hatte dabei die Aufgabe des Anstreichens übernommen und Matty wuselte zwischendurch und fragte mindestens ein Dutzend Mal, wann denn die Kaninchen endlich kommen würden.
Nun saßen Lisa und Richard nach dem Mittag noch einen Augenblick zusammen und planten die nächsten Tage, als das Telefon klingelte.
„Ich geh ran“, rief Sohnemann und rannte ins Wohnzimmer.
Da er nicht mit dem Telefon wiederkam, nahm Lisa an, dass es Jemand Bekanntes war, der nun mit Matty sprach. Schließlich stand sie doch auf und sah nach. Das Telefon lag wieder in der Ladestation – das Wohnzimmer war leer.
„Matty?“
Keine Antwort.
Lisa – das ist kein Grund zur Aufregung – wahrscheinlich ist er in seinem Zimmer und hört Dich nicht.
Er war nicht in seinem Zimmer.
„Mattias?“ Lisa hörte selber den etwas schrillen unharmonischen Ton in ihrer Stimme.
Immer noch keine Antwort.
Richard kam in den Flur und sah ihr entgegen, als sie die Treppe wieder herunterlief.
„Ist er oben?“
Lisa schüttelte den Kopf – eine eisige Faust schien sich um ihr Herz zu schließen.
„Komm Lisa – er ist wahrscheinlich in die Scheune gerannt...“
Sie sahen nach. Dort war Mattias auch nicht.
Die Bodyguards hatten ihn auch nicht gesehen und auch Niemand anderen.
Sie suchten nun alle.
Sie suchten das Haus erneut ab, das Gelände, die Gebäude, die Umgebung. Nichts.
Lisa glaubte, verrückt werden zu müssen.
Richard war es, der die Polizei rief und den Pfarrer informierte. Wieder einmal war das ganze Dorf auf den Beinen. Die Polizei der Nachbarorte half mit, die freiwillige Feuerwehr, der Schützenverein. Die Hilfsbereitschaft war unglaublich.
Lisa saß im Wohnzimmer, ganz nahe am Telefon und sagte kein Wort mehr.
Ihr war, als wäre sie in einem Alptraum gefangen. Als Richard verschwunden gewesen war, war dies schlimm genug gewesen – aber Richard war ein erwachsener Mann! Aber ihr kleiner Junge – was konnte ihm alles passieren? Wer war am Telefon gewesen? Wo war er so schnell hingerannt? Eigentlich hätte er Interessantes doch sofort mit ihnen geteilt?!
Der letzte Anruf war von einer unbekannten Nummer gewesen – Nachforschungen der Polizei ergaben, dass es eine Handynummer gewesen war – aber die Nummer war nicht registriert.
Richard setzte sich zu ihr auf die eine Seite, Bea Reinhard auf die andere.
Bea legte den Arm um sie „Komm schon Lisa – Matty wird bestimmt gleich gefunden. Der hat etwas Spannendes gesehen und ist losgerannt...“
Lisa schüttelte den Kopf „Er ist zu vertrauensselig! Ich hätte ihm mehr Misstrauen gegenüber Fremden beibringen sollen!“
„Unfug – Matty ist genau richtig, so wie er ist!“
Richard barg den Kopf in seinen Händen „Bea – bitte, lass uns alleine.“
Bea nickte, stand auf und verließ den Raum.
„Lisa?“
Sie sah auf und entdeckte in Richards Augen dieselbe immense Angst, die auch sie verspürte.
„Liebes – wir müssen damit rechnen, dass Matty entführt worden ist.“
„Ich weiß.“
„Wir dürfen das Telefon nicht mehr unbewacht lassen.“
Lisa nickte.
Richards Hand schob sich über ihre. „Lisa – Du bist ja eiskalt!“
Er faltete ein Plaid auseinander, in das Lisa sich oftmals Abends hüllte und legte es ihr um die Schultern. Lisa ließ sich gegen ihn sinken „Wenn Matty was passiert, ertrage ich das nicht.“
Er zog sie an sich und flüsterte in ihr Haar „Ich weiß, aber ich auch nicht.“
Es war gegen fünf, als Joshua ins Haus kam, in der Hand einen weißen Briefumschlag – ohne Absender. Lisa scherte sich nicht mehr um Fingerabdrücke, sie riss dem Leibwächter den Brief aus den Händen und dieser sagte ungefragt: „Hab ich eben aus dem Briefkasten geholt – dabei war die Post doch schon da...“
Lisas Finger zitterten so stark, das Richard ihr den Brief wegnahm und selbst öffnete. Gemeinsam beugten sie sich darüber
Nun ist´s passiert, Du kleines Stück Dreck
Dein Sohn - nun ist er weg!
Musstest ja unbedingt die Heldin sein
Ich fand, Richard ging es im Kühlhaus ganz fein!
Aber nein!
Lisa muss die große Retterin sein!
Mit Mariella hat es auch nicht ganz geklappt –
Hab ihr leider nur die Beine gekappt.
Doch nun – auf zum gossen Finale!
Wirf Dich mit Richard in Schale!
Nur ihr beide sollt kommen – wohin ich Euch sage
Sonst stirbt Eure kleine Landplage!
Die alte Fabrik, nahe dem Fluss –
Kommt alleine, sonst ist mit Mattias ganz ganz schnell Schluss!
Lisa stand auf, Richard tat es ihr gleich – aber er gab den Brief an Joshua.
„Wir gehen alleine –aber ihr umzingelt das Gelände. Ich verlass mich auf Euch. Komm Lisa.“
Keine fünf Minuten später fuhren Lisa und Richard die paar Kilometer bis zu einer alten Fabrik, die noch aus DDR-Zeiten stammte. Lisa kannte das Gebäude. Es war ziemlich zerfallen und sah so aus, als ob es bestens geeignet sei, einen Tatort-Krimi darin zu drehen.
Richard saß am Steuer. Seine Hände umklammerten das Lenkrad so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Keiner sprach ein Wort.
Er fuhr den Wagen mitten auf den Hof. Es war stockdunkel – nur die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten die unheimliche Szenerie. Matty sollte hier sein? Was musste er für eine Angst haben. Lisa fröstelte und ihr war so unwirklich und gleichzeitig so elend zumute.
Sie stiegen aus.
In diesem Moment schloss sich das große Gittertor, durch das sie eben noch gefahren waren, mit einem Knall. Es gab ein seltsames Geräusch und der Zaun schien kurzfristig Funken zu sprühen.
Richards Wangenmuskeln zuckten. „Strom!“ stieß er hervor „Der ganze Zaun ist unter Strom gesetzt – wir sind zumindest vorerst auf uns gestellt!“
Sie gingen auf die Ruine zu, die einst eine gewaltig große Fabrikhalle gewesen war. Aus dem Schatten loste sich eine Gestalt und kam mit raschen Schritten auf sie zu.
Lisa brauchte kein Licht, um zu erkennen, wer da auf sie zuschritt – IHN würde sie unter Tausenden erkennen. In ihr schien alles zu sterben.
„David“, flüsterte sie.
Richard blieb abrupt stehen und ballte die Hände zu Fäusten.