KAPITEL 19 – Schattenkind
Sie bestellte sich ein Taxi und ging durch den Kiosk nach draußen.
„Moin Lisa – wo willst Du denn hin so früh?“
„Ins Krankenhaus.“
„Ach so – viel Spaß…. Ins was?“ Jürgen schoss um die Theke herum. Lisa zuckte zwar zusammen, als er sie an Arm und Schulter fasste, aber es ging.
„Ich fahr mit Dir.“
„Das haben wir doch alles besprochen – Mariella kommt gleich hin und das Taxi ist da.“
Doch mit Jürgen war nicht mehr zu handeln. Er scheuchte einen Kunden aus dem Kiosk und schloss ihn. Gemeinsam fuhren sie zum Krankenhaus und Lisa wurde an dieses Tier aus Ice age erinnert, das hektisch hinter seiner Nuss herrennt. Wieso musste sie denn hier die sein, die cool blieb? Verkehrte Welt.
Mariella erwartete sie – zusammen mit David – bereits vor dem Eingang. Lisa war ihr ewig dankbar – sie schickte Jürgen und David in die Cafeteria.
Die beiden Frauen gingen gemeinsam hinein. Lisa kramte in ihrer Handtasche und reichte ihrer Freundin die Digi-Cam „Egal, was ich nachher sage – nehm uns bitte auf, wenn alles gut gegangen ist.“
Mariella verstaute die Camera.
Die Hebamme – die Lisa schon kannte – kam auf sie zu. „Na Kindchen – sicher, dass es losgeht?“
„Nun zumindest kommen die Wehen – so alle 5 Minuten – und werden auch schmerzhafter und dauern länger.“
Lisa zog sich um und wurde auf einen dieser schrecklichen Stühle gesetzt, die jede Frau wohl nicht unbedingt liebt. In dem Moment, das sie lag, spürte sie, wie es nass wurde.
Die Hebamme lachte – „zur rechten Zeit und – da hat es aber Jemand eilig! Ihr Muttermund ist schon fünft Zentimeter groß.“
Lisa rutschte unruhig hin und her „Entschuldigung – ich muss ganz dringend auf die Toilette!“
„Liegen bleiben! Ist schon so manches Kind dort zur Welt gekommen.“ Sie ging fort und kam kurze Zeit mit dem Arzt wieder. „Abstand?“
“Keine drei Minuten.“
Die Hebamme warf einen Blick auf Lisa, die sich gerade an Mariella festkrallte.
Der Arzt sagte leise „Das wird eine Blitzgeburt – hab ich bei einer Erstgebährenden gar nicht so gerne…“
Lisa hatte ihn gehört „Alles in Ordnung?“ Sie keuchte und die nächste Wehe jagte durch sie hindurch. Ihr war, als hätte man ein Radio von recht leise in Sekundenschnelle auf ganz laut gedreht.
„Dammschnitt?“ fragte die Hebamme.
„Worauf Sie sich verlassen können!“
„Frau Plenske – wann haben Sie die erste Wehe bemerkt?“
„Gegen sechs“ keuchte Lisa und der Schweiß rann ihr in Bächen vom Körper. Sie hatte kaum Zeit Luft zu holen, da kam auch schon das nächste Ungetüm heran.
„Wehenschreiber?“ fragte die Hebamme.
„Bis wir den dran haben…“ er ließ den Satz unvollendet.
„Das Kind“ presste Lisa hervor – „es ist acht Tage zu früh!“
„Ja – und hat es auch jetzt mächtig eilig! Wir haben es noch nicht mal halb neun!“
Die nächste Wehe hatte es derart in sich, dass Lisa aufschrie.
„Können Sie ihr nicht was für die Schmerzen geben?“ fragte Mariella.
„Keine Zeit mehr! Pressen Frau Plenske, pressen!“
Die nächsten Minuten waren eine Tortur, wie Lisa sie sich nicht hätte ausmalen können, die Luft wurde ihr knapp und sie war sich sicher, Mariella würde ihre Hände nie wieder bewegen können. Lisa weinte. Sie schrie. Sie flehte Mariella an „Hol Richard, Richard soll kommen!“
„Lisa – Süße – das geht nicht, das weißt Du doch!“
„Richard soll kommen“, weinte Lisa erneut und schrie dann erneut, weil sie sich sicher war, dass sie jetzt endgültig entzwei gerissen würde.
„Gleich haben Sie es geschafft – nur noch einmal.“
Und dann spürte Lisa den Druck von sich weichen und fast in selben Moment kam schon der erste zornige Aufschrei ihres Sohnes.
Lisa weinte immer noch – ihr ganzer Körper fühlte sich an, als sei er auf der Streckbank gewesen. Mariella strich ihr sachte die Haare aus dem Gesicht „pscht Süße – Du hast es geschafft. Ihr habt es beide geschafft. Gleich bekommst Du Deinen Sohn.“
„Wer möchte die Nabelschnur durchschneiden?“
„Mariella macht das“, sagte Lisa und leiser hinzu „anstelle ihres Bruders.“
Mariella ließ nicht erkennen, ob sie den Nachsatz gehört hatte, aber sie ließ Lisa los und stellte sich dem Arzt an die Seite.
Kurze Zeit später hielt Lisa das erste Mal ihren Sohn im Arm. „Er sieht gar nicht so zerknittert aus, wie alle gesagt haben.“
Die Hebamme lachte „na ja – der ist ja auch im Galopp da rausgekommen!“
Mattias Raphael Plenske war das egal. Er ballte die Hände zu Fäustchen und begann gellend zu schreien.
„Na – der hat eine Kraft!“
Mariella zückte den Fotoapparat und knipste Mutter und Sohn. Auch als Lisa sich ihr Baby das erste Mal an die Brust legte und sie nun ein wundervoll zufriedenes Kind hatte.
Nach der Nachgeburt wurde Lisa genäht, gesäubert und dann auf ihr Zimmer gebracht. Mariella holte zwischenzeitlich David und Jürgen aus der Kantine. Die beiden hatten sich auf langes Warten eingestellt und waren mächtig erstaunt, dass Lisa „schon fertig sei.“
Lisa war alleine im Zimmer und begrüßte sie lächelnd.
„Hey – wo ist der Zwerg?“
„Kommt gleich – nur noch Routineuntersuchungen – dann wird er gebracht.“
Lisa hatte sich dafür entschieden ihr Kind bei sich auf der Station zu haben. Sie wollte gleich lernen, wie es mit dem Baby ginge.
Eine Schwester brachte Mattias in einem rollbaren Kinderbettchen.
Ihr Besuch blieb noch eine halbe Stunde, dann schickte Mariella die Männer schon mal raus.
Mattias schlief friedlich und satt in seinem Bettchen und Lisa wirkte entspannt und gelöst.
„Lisa?“
„Hmh?“
„Die Bilder…“
„Komm Mariella – Du weißt doch für wen die sind…“
„Lisa – ich liebe meinen Bruder sehr, aber…“
Lisa unterbrach sie „bitte nicht heute ja?“
Mariella stand etwas unentschlossen im Raum, dann sagte sie leise „Du hast nach ihm gerufen, kannst Du Dich daran erinnern?“
„Vage“, Lisa lächelte „irgendwie hatte ich den Eindruck, er solle sehen, was er da angerichtet hat…“
Mariella beschloss, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, ging zu Lisa und küsste sie auf die Stirn „Ich lass Dich jetzt alleine, Liebes – ich komme Morgen wieder.“
„Danke für alles.“
Mariella war schon an der Tür, da sagte sie dann voller Entschlossenheit „Ich bringe ihm die Fotos selber hin.“
„Grüß ihn von mir – und von Matty.“
Mariella verließ kopfschüttelnd und den Kopf voller wirrer Gedanken das Zimmer.
Am Nachmittag bekam Lisa erneut Besuch, sie strahlte, als sie Angelika Vidras erkannte.
„Stör ich?“
„Aber nein – kommen Sie rein.“
„Wollte mir doch den neuen Erdenbürger ansehen, der es dermaßen eilig gehabt hat.“
Sie sah in das Bettchen. Matty war mehr oder minder wach, schaute aber nur etwas traumverloren herum. „Meine Güte – das ist aber ein stabiles Kerlchen!“
„Was – der ist doch winzig!“
„Na - aber nicht für einen Neugeborenen… also wenn der bei der weiteren Entwicklung auch so rasch ist – viel Vergnügen!“
Lisa lachte „ich finde ihn wundervoll!“
„Typisch Mama!“
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett „Bevor ich es vergesse – dieser Brief ist eben für Sie abgegeben worden. Per Kurier… lief mir gerade über den Weg.“
Lisa nahm den Brief entgegen und legte ihn auf den Nachtschrank. Einen Absender konnte sie nicht entdecken.
Dr. Vidras lachte ihr zu „Hab eben mit dem Arzt und der Hebamme gesprochen. Beide sagen, dass alles bestens verlaufen ist…“
„Aber?“
„Aber – sollten Sie noch ein Kind bekommen, könnte es sein, dass Sie sich auf eine Heimgeburt einstellen müssen. Das könnte dann nämlich noch schneller kommen…“
„Noch schneller? Na – da keinerlei Aussicht auf eine erneute Schwangerschaft besteht…“
Dr. Vidras blieb ein paar Minuten und ließ Lisa dann wieder alleine. Sie legte sich ihren Sohn erneut an die Brust und sah in seine Augen. Sie waren noch babyblau – aber das konnte sich noch ändern, hatten die Ärzte gesagt.
Als sie Mattias wieder hingelegt hatte, erinnerte sich Lisa an den Brief, griff danach und öffnete ihn:
Das Schattenkind, es ward geboren heut,
allerdings nicht zu Jedermanns Freud!
Ist Dir klar – Lisa Plenske – was Du hast getan?
Die Chance zur Abtreibung leichtsinnig vertan?
Kannst Du mir sagen, was Du über seinen Vater weißt?
Kann es nicht sein, das David´s Peiniger Richard von Bramberg heißt?
Glaub nicht, nur weil der Wolf seine Zähne verbirgt,
die Schuld dadurch einen langsamen Tode stirbt!
Lisa – pass auf Dich auf und auf das Kind –
Die Dinge sind nicht alle so wie Du glaubst, dass sie sind!
Eingelassen mit dem Teufel hast Du Dich,
frag Dich lieber – warum verstellt er sich?
Von Jemanden, der Dich nur so warnen kann.
Der Brief war maschine geschrieben und trug keine weiteren Informationen. Keinen Absender, keine Unterschrift. Lisa warf das Blatt von sich, wie ein ekliges Insekt. Sie zitterte, sie fror. Wer schrieb denn so etwas? Was sollten diese grausigen Anspielungen auf Richard? Wusste da Jemand mehr? Oder wollte Jemand ihm schaden? Der Tag, der eben noch so wunderschön gewesen war, wurde durch eine große dunkle Wolke überschattet.
Richard – wer bist Du?
Bist Du der Entführer?
Bist Du ein böser Mensch?
Mit zitternden Händen faltete Lisa den Brief wieder zusammen und stopfte ihn in die Nachttischschublade.
Als die Schwester später nach ihr sah, hatte Lisa Fieber und Schüttelfrost.
Mariella – in Unkenntnis der neusten Ereignisse – saß am späten Nachmittag ihrem Bruder im Besucherraum des Gefängnisses gegenüber. Er kam ohne Gehwagen, zwar noch stark humpelnd und sich seiner linken Seite nicht sicher, aber eindeutig auf dem rapiden Wege der Besserung.
„Hallo Liebes“, begrüßte er sie und sie setzten sich.
Mariella zog legte ihm einen Umschlag hin und beobachtete ihn recht genau, als er ihn öffnete und die Abzüge herauszog, die sie eben noch hatte machen lassen.
Richard ließ sich Zeit mit den Fotos. Zwar hatte Mariella Anfangs gemeint, so etwas wie Erstaunen bei ihm gesehen zu haben, aber nun betrachtete er die Fotos eines nach dem anderen, ohne eine Miene zu verziehen.
„Wie geht es Lisa?“
„Als ich Sie verließ, schien sie müde aber wohlauf – ich soll Dich von ihr und ihrem Sohn grüßen.“
„Kann ich die behalten?“ Er deutete auf die Fotos.
„Ja – natürlich. Dafür habe ich sie ja machen lassen… Und ich denke, genau dafür hat Lisa sich fotografieren lassen.“
Er hatte ihren etwas spitzen Unterton genau gehört – dessen war sie sich sicher – denn er sah rasch hoch „Irre ich mich – oder möchtest Du mir etwas sagen?“
Mariella versuchte in seinem Gesicht zu lesen, war damit aber genau so erfolglos wie Lisa. „Richard – Du bist mein Bruder und ich liebe Dich. Aber Lisa liegt mir auch sehr am Herzen. Was hat denn das für eine Zukunft, was ihr da macht?“
„Keine, denke ich. Und sie wird das begreifen, wenn sie soweit ist. Aber bis dahin bin ich für sie da – wann immer sie möchte, wann immer sie mich braucht.“
„Bei der Geburt warst Du nicht dabei!“
„Auh – Majella – das war aber ein gemeiner Tiefschlag!“
Mariella rang mit sich – aber die Worte wollten raus „Sie hat nach Dir gerufen, weißt Du das? Ich hätte Dich in dem Moment am liebsten an den Haaren herbeigeschleift!“
„Glaub mir – ich wäre gerne da gewesen…. Moment. Sie hat nach MIR gerufen? Nicht nach David?“
„David hätte ich holen können – der wartete in der Kantine. Aber nein – es war eindeutig Dein Name.“
Die Gefühle, die kurz über sein Gesicht huschten, waren so vielfältig, dass Mariella sie nicht einordnen konnte.
„Richard – Du wirst ihr nicht wieder wehtun oder?“
Er beugte sich vor und ergriff die Hände seiner Schwester „Majella – ich habe ihr einmal wehgetan und das verfolgt mich und wird mich immer verfolgen. Ich will das nie wieder tun. Aber ich kann ihr auch den Kontakt mit mir nicht verwehren.“
„Wieso nicht?“
„Ich kann nicht! Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Sie räusperte sich „Sabrina hat nach Dir gefragt.“
„Ach Sabrina – sag dem Flittchen, sie soll mit ihrem Scheich selig werden!“
„Ich glaube, wenn Du wolltest, könntest Du sie wiederhaben.“
Er lachte spontan auf „Glaub mir Schwesterherz – so kompliziert meine Beziehung zu Frau Plenske ist, so unkompliziert ist sie bei Sabrina. Sie kann bleiben, wo die Ölquellen sprudeln!“
Mariella sah ihn nachdenklich an und er erwiderte ihren Blick mit dem so typischen Hochziehen seiner Brauen.
„Einen Penny für Deine Gedanken Richard.“
„So viel sind die nicht wert!“