KAPITEL 11 – Schuld und Sühne
Zwei Tage später saß sie gerade mit Jürgen am Frühstücktisch und Lisa verspeiste gerade ihr zweites Brötchen, als das Telefon klingelte. Jürgen ging ran und erstarrte mehr oder minder. „ich habe keine Ahnung, ob sie Sie sprechen will – aber ich frage sie!“
Er legte den Telefonhörer mit unnötigem Nachdruck ab und kam fast vorsichtig auf Lisa zu „Wer ist denn dran?“ flüsterte Lisa.
„Richard von Bramberg.“
Lisa verschluckte sich fast, ging dann aber zum Telefon. Halb erwartete sie, dass Jürgen einen Scherz gemacht hatte. „Lisa Plenske…“
„Richard von Bramberg hier. Entschuldigen Sie den Anruf – es wird keinesfalls zur Gewohnheit werden…“
„Ja?“ fragte Lisa ziemlich unsicher – was zum Geier wollte der?
„Sie haben mit Nathan Rittinghaus über mich gesprochen.“
Lisa atmete tief durch „Ja – habe ich.“
„Er meinte, Ihnen liegt daran, dass ich mir in den Kopf sehen lasse.“
Diesmal war ihre Stimme leise „Da stimmt.“
Auch seine Stimme wurde leiser „Warum Lisa – warum soll ich das tun lassen?“
Lisa schloss kurz die Augen. Dieses Telefonat dürfte eigentlich gar nicht in dieser Art und Weise stattfinden – durfte er denn telefonieren? „…weil ich es möchte. Weil ich es wissen möchte…“
Es war eine ganze Weile still am anderen Ende der Leitung und Lisa dachte schon, er hätte aufgehängt, dann kam von ihm ein „Gut – ich habe Ihnen versprochen, Ihnen behilflich zu sein. Zwar weiß ich nicht, was Ihnen das helfen könnte – aber ich werde meine Zustimmung geben. Und ich werde Nathan die Erlaubnis geben, Ihnen das Ergebnis mitzuteilen.“
„Danke.“
Er hatte aufgelegt.
„Ruft der Kerl einfach hier an – unglaublich!“
Lisa ging langsam wieder zu ihrem Platz, Hunger hatte sie keinen mehr. „Lass gut sein Jürgen, es war ok.“
Jürgen beäugte sie nur skeptisch, während sie ihren Tee umrührte und tief in Gedanken versank. Er tat es, weil sie es wollte? Was war das für ein seltsames Verhältnis zwischen ihr und ihm? Sie sollte ihn hassen, ihn verabscheuen! So, wie er sich selbst? fragte eine leise Stimme.
Lisa betrat mit nassen Händen das Zimmer der Psychologin Dr. Cornelia Rittinghaus. Das war echt blöd von Dir, Dich hier anzumelden, Lisa Plenske! Die wird Dich auseinander nehmen und am Ende hast Du noch mehr Komplexe, wie vorher!
Sie sah sich um und das erste, was ihr rausrutschte war „Wo ist denn ihre Couch?“
Die Ärztin lachte „Also einer der Sessel lässt sich weit zurückstellen, wenn Sie möchten – aber die meisten bevorzugen die sitzende Position…“
Als Lisa sich gesetzt hatte und sich für alle Arten von Fragen und Angriffen wappnete, sagte Dr. Rittinghaus „Tee, Kaffee, Wasser? Cola Light habe ich auch noch…“
„Eine Cola nehme ich gerne – danke.“
Sie nahm Glas und Flasche entgegen und goss sich ein. Ihre Hand zitterte etwas, aber es ging.
„Worüber möchten Sie reden?“
„Ich ?“
„Ja – es geht doch um Sie.“
Lisa überlegte einen Augenblick „Darf ich über meine Freundin sprechen?“
„Gerne – wie heißt sie?“
„Mariella…“ und ehe sich Lisa versah, erzählte sie dieser Frau alles über die seltsame Beziehung zwischen Mariella und ihr. Auch davon, dass kaum einer diese Freundschat begriff, geschweige denn sie selbst. Sie beschrieb liebevoll Mariellas Aussehen und ihr Wesen. Und sie verriet auch, dass sie unsicher war, ob sie ihren Gefühlen in Bezug auf Mariella trauen durfte. „Schließlich ist die die Frau, die mir den Mann weggenommen hat und ihr Bruder hat mir Leid angetan… – ich müsste sie hassen, neidisch sein…“
„Halten Sie Mariella für einen guten Menschen?“
„Oh ja!“
„Wenn Sie sie heute Nacht anrufen würden und sagen würden, Sie wären verzweifelt – würde sie kommen?“
„So schnell sie nur kann.“
„Dann seien Sie einfach froh, dass Sie sie haben! Kümmern Sie sich nicht um die Meinung der Leute. Wichtig ist das, was zwischen Ihnen und ihr ist – nichts anderes!“
Lisa fiel ein Stein vom Herzen „Es ist nicht unnormal?“
„Was für ein grässliches Wort! Was ist normal? Sie haben sich in einer schrecklichen Lage auf diese Frau verlassen können. Sie steht zu Ihnen. Wunderbar! Seien Sie dankbar. Nicht jeder hat solche Menschen um sich, wenn er sie braucht.“
Als Lisa die Praxis verließ und sich zu Fuß aufmachte, um ihr Auto abzuholen, war ihr unendlich leicht zumute. Nicht nur wegen Mariella. Zu dieser Ärztin konnte sie Vertrauen fassen. Mit der Zeit würde sie mit ihr auch über David, ihre Eltern und Richard sprechen können – ja, ganz bestimmt!
Das Auto stand spiegelblank in der Sonne und wartete auf sie. Sie stieg ein und schloss kurz die Augen. Genießen Lisa, einfach genießen! Diese Momente im Leben. Heute war ein guter Tag. Es würde wieder schlechte geben – aber bislang war dies ein sehr guter Tag!
Bevor sie losfuhr, rief sie Mariella an, ob sie sie zum Essen abholen dürfte. Da Mariella gerade bei Kerima war, erweiterte Lisa ihre Einladung spontan auch auf David.
Die beiden warteten schon vor Kerima, als Lisa vorfuhr. Augenblicke später lachten sich Lisa und Mariella halb scheckig, weil David sich kaum fassen konnte. Kein Wort über ein falsches Auto. Er erzählte von 4,5 Liter und 108 irgendwas und Klimaautomatik und….
Lisa hielt ihm den Schüssel hin „Willst Du fahren?“
David sah aus, wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum. Strich über das Lenkrad und als er den Wagen startete, meinte er „so ein Sound.“
„David – das ist ein Auto!“ neckte ihn seine Frau.
„Majestätsbeleidigung. Das ist ein Kunstwerk, ein Oldtimer, ein wahres Prachtstück. Lisa – willst Du ihn nicht verkaufen?“
Das Essen wurde sehr gemütlich und Lisa entspannte sich trotz Davids Gegenwart zusehends.
Beim Dessert wurde sie noch einmal ernst „David – Du weißt, dass ich B-Style verkaufen möchte….“
David nickte und sah sie fragend an.
„Sophie bietet mit….“
„Kein Problem. Von mir aus, kannst Du an sie verkaufen. Dann mischt sie sich vielleicht weniger bei Kerima ein.“
Noch ein Stein rollte diesen Tag von Lisa´s Herzen.
Der Tag klang aus mit einer Spazierfahrt mit Jürgen, der aus dem Staunen über Lisa´s neues Gefährt gar nicht mehr raus kam. Männer! Lisa lachte – alle gleich.
Jürgen begann mit den Verhandlungen zum Verkauf von B-Style und ein paar Tage später wurde Kerima´s Tochterfirma für 2,4 Millionen Euro an Sophie von Bramberg verkauft.
„Wenn das man nicht das Entführungsgeld ist“ spekulierte Jürgen.
„Weiß nicht“, kam es von Lisa „Sie konnte Friedrich damals ohne mit der Wimper zu zucken 2 Mio leihen und hat es bisher nicht zurückbekommen….“
Für Lisa war mit dieser Transaktion klar, dass sie nun entscheiden konnte, was sie weiter tun wollte. Ihre Nächte auf der Fensterbank begannen wieder.
Lisa war bei einem weiteren Termin bei Dr. Rittinghaus und hatte sehr lange über ihre Eltern gesprochen. Nach diesem Gespräch verstand sie nicht nur ihre Eltern besser, sondern auch sich selbst – und sie nannte die Ärztin nun Conny und Du.
Gerade als sie den Flur entlang ging, kam Nathan Rittinghaus aus seiner Praxis „Frau Plenske – das ist Fügung des Schicksals! Haben Sie Zeit für mich?“
Lisa bejahte und ging mit ihm in sein Sprechzimmer. Sie setzte sich und sah fragend hoch.
„Von Ihnen können Mediziner noch was lernen… Sie hatten Recht – es ist etwas mit Richard… Er hat einen Gehirntumor. Es ist ein Schläfenlappentumor. Des unteren Teils, um genau zu sein.“
„Und das heißt?“
„Viele dieser Patienten sind sehr erregbar und aggressiv, oftmals sexual enthemmt, sie leiden unter Trugbildern und optischen Täuschungen und verlieren oft das Gefühl für den eigenen Körper und für das eigene Selbst. Mit anderen Worten – Richard ist sehr krank und ich bin fast sicher, dass das die Vergewaltigung zwar nicht ungeschehen macht, aber erklärbar macht.“
Sie hatte es gewusst! Sie hatte es gewusst!
„Frau Plenske“, Dr. Rittinghaus sprach leise und ruhig „das macht aber eine Vergewaltigung nicht ungeschehen. Der Tumor entschuldigt nicht alles. Vorhandene Triebe wurden verstärkt – eventuell sehr verstärkt – aber mit Gewissheit kann das Niemand sagen.“
„Ich verstehe...“ Lisa sah auf einen Punkt an der Wand „und ist der Tumor operabel?“
„Wahrscheinlich. Laut Schichtaufnahmen liegt er recht abgekapselt – allerdings ist schon so manche böse Überraschung erst zutage getreten, als der Kopf geöffnet war. Und dann kann auch erst im Labor festgestellt werden, ob die Geschwulst bösartig ist oder nicht.“
„Gesetzt den Fall, der Tumor ist gutartig und lässt sich herausnehmen...“
„Dann ist immer noch die Frage, wie viel Schaden die Operation selber angerichtet hat. Es können schwere motorische oder auch geistige Störungen auftreten, das Sprachzentrum kann betroffen werde oder auch der Sehnerv... All das kann man im Vorfeld nicht genau sagen.“
„Wie groß würde sie die Chancen sehen?“
„Für eine OP ohne Nachschäden? Gleich Null. Für eine OP mit reparablen Schäden 30-40 Prozent. Plus Ungewissheit ob gut- oder bösartig.“
„Und wann wird Herr von Bramberg operiert?“
„Überhaupt nicht!“
„Bitte?!“
„Richard weigert sich. Er sagte, er habe Ihnen versprochen, dass er sich untersuchen lässt und dass ich Ihnen das Ergebnis mitteilen darf. Mehr nicht. Er zieht den Tod einem Leben als körperlicher oder –und geistiger Krüppel vor.“
„Kann er denn Leben mit dem Tumor im Kopf?“
„Ja noch ein paar Monate...“
„Und wird es ihm dabei gut gehen?“
„Ich denke, als erstes wird das Laufen schwierig – da sind ja jetzt schon Probleme. Dann immer mehr Stimmungsschwankungen, Depressionen, Angstattacken, Aggressivität. Irgendwann ist dann auch das Sprachzentrum dann und dann kommt meist am Ende der Wahnsinn oder Schizophrenie. Es gibt da viele Spielarten. Der Kopf ist immer noch ein großes Geheimnis.“
„Aber...“ Lisa sah den Arzt fassungslos an „haben Sie ihm das nicht gesagt?“
„Doch!“
„Aber...“
„Aber – es ist ihm egal. Ich glaube, er findet das ganz richtig so.“
„Ich aber nicht!“
„Ich auch nicht. Das habe ich deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich komme gerade aus dem Gefängnis und wollte Richard überreden, sich operieren zu lassen. Wir wurden dann beide ziemlich laut.“
„Und dann?“
„Dann wurde Richard sehr aggressiv, schließlich übergab er sich und war gar nicht mehr zu beruhigen. Das mit dem Übergeben ist normal in dem Stadium. Der Magen hat auch eine Motorik, die gestört werden kann. Wir mussten ihn schließlich ruhig stellen und er liegt jetzt auf der Krankenstation des Gefängnisses und ist angeschnallt, bis er wieder kooperativ ist.“
DAS musste Lisa erst mal verdauen. Sie sprang auf und durchmaß das Zimmer mit großen Schritten.
Dr. Rittinghaus beobachtete sie nachdenklich.
Lisa blieb stehen „Worauf warten wir noch – fahren wir nochmal hin!“
„Heute noch? Jetzt?“
„Wann sonst? Oder ist er nicht ansprechbar?“
„Doch die Wirkung der Medikamente dürfte bald nachlassen. Sie wollen wirklich noch mal mit ihm sprechen?“
„Ja – so leicht kommt der mir nicht davon. Ich habe an der Nacht immer noch heftig zu knacken und er soll einfach so sterben – nichts da!“
„Lisa – Sie sind ganz unglaublich! Darf ich Lisa sagen? Ich heiße Nathan.“
Er streckte Lisa die Hand entgegen, doch als er Lisa´s entsetzten Blick auf die dargereichte Hand sah, zog er sie rasch zurück. „´Tschuldigung.“
„Nein – wieder hinhalten bitte. Ich krieg das hin....“
Lisa trat näher und ergriff die Hand. Nathan wurde an einen Vogel erinnert, den er festhielt. Rasch ließ er sie wieder los.
„Gut – dann gehen wir. Aber Lisa – das wird kein schöner Besuch..“
„Ich weiß..“ murmelte sie leise.
Gemeinsam gingen sie zu Lisa´s Auto „Na – das nenn ich mal eine Auto.“
Seufzend hielt Lisa ihm die Schlüssel hin. Sogar ein Arzt wurde zum kleinen Jungen bei ihrem alten Benz.
Sie kamen ohne weitere Verzögerungen am Gefängnis an und Natahn erreichte, dass Lisa und er vorgelassen wurden.
Lisa verhielt den Schritt, als sie sich dem Krankenzimmer näherten.
„Doch Angst Lisa? Sie müssen das nicht tun.“
„Nein – das ist es nicht. Haben Sie die Einverständniserklärung für die OP dabei?“
„Ja – aber...“
„Bitte, gegen Sie sie mir und lassen mich alleine da hinein.“
„Lisa – nein. Das geht nicht.“
Lisa sah ihn trotzig an und er war Derjenige, der zuerst den Blick senkte. „Conny wird mich dafür umbringen...“ Er reichte ihr die Papiere und einen Stift und ging dann zu einem der Stühle die dort herumstanden. „Wenn es zu laut wird komme ich rein.“
„Nein – nur wenn ich Dich rufe!“
„Ok, ok – viel viel Glück – Du wirst es brauchen.“