KAPITEL 34 - Klärende Gespräche
Lisa rannte in die Küche und setzte Wasser auf, die Treppen hoch und – Danke Mama! – alle drei Wärmflaschen, die sie besaß, zusammengerafft, einschließlich aller Wolldecken, derer sie habhaft werden konnte.
Sie deckte Richards Bett auf und rannte zurück ins Bad.
Er zitterte immer noch wie Espenlaub, sah ihr aber entgegen. Lisa ergriff ein großes Badehandtuch.
„Komm raus.“
Als sie sah, wie schwer es ihm fiel, half sie ihm, indem sie mit beiden Händen mit anpackte. Trotz seiner Benommenheit starrte er auf ihre Hände, die seine Arme umklammerten. „Lisa, wie...“
„Nicht jetzt.“ Sie trocknete ihn rasch ab und er schaffte es auf eigenen Beinen bis zu seinem Bett. Er ließ sich langsam darauf nieder. Als er lag, verstärkte sich das Zittern so stark, dass ihm die Zähne klapperten und er sich völlig verkrampfte.
Lisa rannte ihn die Küche, füllte zwei der Wärmflaschen, setzte neu Wasser auf und rannte wieder zurück. Dank ihrer Mutter besaß jede Wärmflasche einen geblümten Überzug – sie war zum ersten Mal dankbar dafür. Sie schob eine der Flaschen an seine Füße und die zweite auf den Brustkasten. Dann deckte sie ihn mit allem zu, was sie fand.
Als der Wasserkessel erneut pfiff, kam die dritte unter seinen Nacken und sie hatte Kräutertee mit viel Zucker gemacht.
Sie schob eine Hand unter seinen Nacken. „Das ist heiß, aber trinkbar.“
Es war schwierig für ihn zu trinken, während alles an ihm vibrierte, aber irgendwie schafften sie es. Lisa wusste nicht mehr wie oft sie die Wärmflaschen neu gefüllt hatte oder wie viele Becher Tee sie ihm eingeflößt hatte... Endlich. Endlich wurde das Zittern weniger und hörte schließlich ganz auf.
Eingedenk dessen, was Nathan gesagt hatte, machte Lisa dennoch weiter und kam diesmal mit Ingwermilch aus der Küche zurück.
Richard verzog das Gesicht, als er dies trank „Erst widerlich süßer Tee und nun gewürzte Milch...“
Lisa hätte vor Erleichterung fast den Becher fallen gelassen.
„Dir geht es besser – ja?“
Er schenkte ihr ein Lächeln „Dank Dir – Danke für die Lebensrettung.“ Dann schälte er einen Arm aus den Decken heraus und nahm ihr den Becher ab und führte ihn selbst an die Lippen.
Lisa machte weiter. Wärmflaschen wieder austauschen, mehr Tee... Sie kam gerade mal wieder aus der Küche in sein Zimmer, als er aus dem Bad kam. Abgesehen davon, dass er sich bewegte, wie ein uralter Mann, war er zumindest wieder fähig sich zu bewegen. Außerdem hatte er sich T-Shirt und Slip übergezogen. Dankbar krabbelte er wieder unter die Decken und nahm den nächsten Becher von Lisa entgegen.
Diese ließ sich ziemlich erschöpft in einen kleinen Sessel in der Nähe des Bettes fallen. Ihr musternder Blick fand, dass seine Gesichtsfarbe wieder viel besser aussah und als seine Augen nun die ihren fanden, war auch wieder der gewohnt aufmerksame Ausdruck in ihnen.
Lisa nahm ihr Handy und schickte SMS an den Pfarrer und an Bea und Niklas, dass Richard gefunden war und es ihm leidlich gut ginge.
Er reichte ihr den geleerten Becher „Du kannst jetzt ins Bett gehen Lisa – wirklich – mir geht es wieder gut.“
Lisa schüttelte müde den Kopf „Nathan hat gesagt, bis Du schwitzt – und das tust Du noch nicht. Ich tausche gleich noch mal die Flaschen aus.“
Richard zog die Decken über sich und legte sich zurück. „Nun gut – vom Schwitzen bin ich nicht mehr weit entfernt, denke ich.... Lisa – wie hast Du mich gefunden?“
Sie sah ihn nachdenklich an „Es ist eine Schande, dass wir Dich nicht eher gefunden haben. Das ganze Dorf hat nach Dir gesucht.“
„Ich hatte schon befürchtet, dass Du denkst, ich hätte das Weite gesucht.“
„Nein“ – sie sprach sehr leise „ich wusste die ganze Zeit, dass da was nicht stimmt – und ich wusste, dass die Zeit drängt.“ Sie lächelte ein flüchtiges Lächeln „Es war der Speck für die Rühreier, nicht wahr?“
Er erwiderte ihr Lächeln „Richtig. Wie konnte ich so blöd sein. In dem Moment, da ich im Kühlhaus war, hat Jemand den Schlüssel draußen umgedreht und hat sich davongemacht – ich habe ein prima Ziel abgegeben!“
Lisa stand auf und er reichte ihr die Wärmflaschen zu.
Es dauerte nun wirklich nicht mehr lange, bis ihm ein leichter Schweißfilm auf der Stirn stand.
Schließlich nahm Lisa die Wärmflaschen dauerhaft fort und als ihm ein unwillkürliches Gähnen entfuhr, lächelte sie „Ich glaube, ich kann Dich jetzt unbesorgt schlafen lassen.“ Sie zögerte nur kurz und nahm dann erneut ihre Hand, um den Puls an seiner Halsseite zu spüren. Seine Haut war warm und der Puls vielleicht immer noch etwas rasch, aber beruhigend kräftig.
Als sie ihre Hand wieder fortzog, sprach er sie leise an „Lisa... vorhin hast Du mir aus der Wanne geholfen – jetzt fasst Du mich wieder an...“
Lisa zog mit einem eigenartigen Gefühl im Magen die Decken etwas höher „Es war notwendig – und es ging. Es geht immer noch..“ sie klang etwas verwundert. „Brauchst Du noch etwas – sonst gehe ich jetzt auch schlafen – wenigstens ein paar Stunden...“
„Nein – ich habe alles. Nur denk bitte daran, die Tür abzuschließen.“
„Richard – das heute beweist doch, dass ein anderer seine Hand im Spiel hat!“
„Lisa – bitte.“
Sie seufzte, sammelte die ausgekühlten Wärmflaschen ein und ging Richtung Tür. Bevor sie das Licht löschte hörte sie ihn sagen „Ich war mir sicher, dass Du mich findest...“
Lisa konnte gerade mal vier Stunden schlafen, dann ging der nächste Tag für sie los. Sie sah vorsichtig zu Richard hinein, aber er schlief tief und fest.
Niklas brachte Matty mit und Lisa konnte gerade noch verhindern, dass er zu Richard reinstürmte. Auch der Pfarrer sah vorbei und drückte seine Besorgnis aus, dass so etwas in seiner kleinen Gemeinde passieren konnte. Auch der Dorfpolizist meldete sich und wollte Nachmittags vorbeischauen und mit Richard sprechen.
Niklas nahm Matty noch einmal mit nach draußen, um die Tiere zu versorgen und gegen halb zehn ging Lisa mit einem Tablett mit dem Frühstück in Richards Zimmer. Diesmal wurde er durch ihr Eintreten wach und sah einen Augenblick etwas irritiert aus, bis ihm wohl einfiel, was den gestrigen Tag geschehen war. Sein Blick glitt zum Tablett in Lisas Händen „Morgen Lisa – ich kann doch aufstehen – Du musst Dir nicht die Mühe machen...“
Lisa setzte das Tablett auf dem Nachttisch ab und lächelte „Nathan kommt gegen zehn. Er soll entscheiden.“
Richard setzte sich auf und zog das Tablett über seine Knie.
Lisa setzte sich, wie letzte Nacht, in den kleinen Sessel und musterte ihn. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und seine Bewegungen waren immer noch recht bemüht. Diesmal war es wirklich knapp gewesen.
„Richard – wie hast Du so lange durchhalten können? So viele Stunden in der Kälte...“
Er zuckte die Achseln „Nun zum einen war das ein Kühlhaus und keine Gefrierkammer und zum anderen wusste ich recht genau, wie ich am längsten durchhalte. Nachdem ich merkte, dass ich nicht raus konnte und mich keiner hörte, hab ich mich so eng zusammengekauert, wie es ging. Jede Aufregung, jedes Rumgerenne würde nur dazu führen, dass man noch früher auskühlt...“
„Hattest Du keine Angst?“
Einen Augenblick glaubte sie, dass er nicht antworten würde, doch dann meinte er „Angst zu sterben eigentlich nicht – Angst Matty und Dich nicht wieder zu sehen – immense.“
So offen war er selten gewesen.... Sie sahen sich einen Augenblick an, dann stürmte wie ein Wirbelwind Mattias ins Zimmer.
„Stopp!“ riefen beide aus – Eingedenk des Tabletts auf Richards Knien.
Matty erklomm das Bett und setzte sich neben Richard „Bist Du schon wieder krank?“
„Sieht so aus.“
„Mama macht Dich wieder gesund – sie kann das prima.“
Richards Blick suchte den ihren „Da bin ich mir sicher.“
In Lisa stieg ein seltsames Gefühl auf. Unbekannt. Befremdlich und wunderschön. Lisa – was wird das denn jetzt mit Dir?
Die Türglocke rettete Lisa vor weiteren Gedanken und Gefühlen.
„Ich mach auf!“
Mattias krabbelte vom Bett und stürmte zur Haustür. „Onkel Nathan! – machst Du Papa wieder gesund?“
Sie hörten Nathan lachen – „ich werde mich bemühen!“
Lisa stand auf und folgte ihrem Sohn.
„Lisa – Du wirst jedes Mal hübscher, wenn ich Dich sehe!“
„Charmeur!“ Sie machte eine Handbewegung in Richtung von Richards Zimmer und sie traten zu dritt ein.
„Na – Du lebst ja noch.“
Richard erwiderte Nathans Grinsen „Unkraut – Du weißt.“
Matty zupfte an Nathans Hose „Bekommt Papa jetzt eine Spritze oder grässliche Medizin?“
Lisa lachte und schnappte sich die Hand ihres Sohnes „Komm, Du kleiner Fiesling – wir lassen die beiden mal alleine.“
Lisa ging mit Mattias in die Küche und obwohl er bei Bea bereits abgefüttert worden war, hatte er schon wieder Hunger, so dass er begeistert seine Cornpopps mit Milch futterte. Danach stürmte er hoch in sein Zimmer, um zu sehen, ob noch alles da war.
So konnte Lisa wieder zu Nathan und seinem Patienten gehen.
Nathan saß in dem Sesselchen, den Lisa vor kurzem noch besetzt hatte und Richard lag mit etwas verdrießlichem Gesicht im Bett.
Lisa ging ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante „Was ist“ – wandte sie sich an Nathan „hatte mein Sohn etwa Recht?“
„Nein – aber ich habe Richard drei Tage Bettruhe verordnet. Und viel Wärme und viel Schlaf.“
Nathan musterte Lisa nachdenklich, wie sie da saß. Abrupt erhob er sich „Kann ich Dich mal sprechen – Richie kann eh die Zeit für ein Nickerchen nutzen...“
Richard seufzte auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah demonstrativ zur Decke.
„Na klar.“ Auch Lisa erhob sich und sie nahm im Rausgehen das Tablett mit.
Lisa und Nathan setzten sich in der Küche einander gegenüber. Nathan schloss die Küchentür und Lisa sah ihn fragend an.
„Lisa – zunächst mal – Du hast das prima gemacht mit dem Burschen da.“
„Danke.“
„Sie Sache ist die – durch die Unterkühlung sind die Muskeln verhärtet... so wie ein ganz starker Muskelkater.“
„Deshalb bewegt er sich wie ein alter Mann..“
„Genau. Arme und Beine müssten eingerieben und einmassiert werden. Ich werd sehen, dass ich Jemanden finde, der herkommt und das macht.“
Lisa schüttelte den Kopf „Nein – ich mal das schon. Sag mir oder zeig mir, was ich tun soll.“
Nathans Blick wurde unergründlich „Du meinst, Du schaffst das?“
„Gestern Nacht musste ich ihn anfassen, es ging nicht anders – ich glaube, ich kann es immer noch.“
Nathans Hand legte sich rasch auf die Lisas und sie zuckte nicht zusammen und entriss ihm auch nicht ihre Hand. Lächelnd sah sie auf ihrer beider Hände „Siehst Du?“
„Lisa – ok – ich kann Dir alles sagen, was Du tun musst – aber Lisa – würdest Du mir einen Gefallen tun?“
„Welchen denn?“
„Würdest Du mit Conny sprechen, bitte? Wenn ich Euch beide zusammen sehe... Ganz wohl ist mir dabei nicht.“
Lisa sah ihn lange an „Ok – ich werde mit ihr einen Termin abmachen...“ Sie holte tief Luft „Nathan – dieser Tumor den Richard hatte. War der auch schon vor dem, was er mir angetan hat, für sein Handeln verantwortlich?“
„Himmel Lisa – das kann ich Dir nicht beantworten – das kann Dir Niemand beantworten! Es scheint ein langsam wachsender Tumor gewesen zu sein. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass es auch schon vorher übersteigerte Emotionen und Gefühle gegeben haben müsste. Wahrscheinlich ist es – sicher nicht. Am ehesten kann wohl Richard selber diese Frage beantworten...“
„Und jetzt? Ist er jetzt wieder er selbst?“
„Nun - der Tumor ist draußen und er ist nicht wieder gekommen. Alle Untersuchungen ergaben einen absolut gesunden Geisteszustand. Warum fragst Du – hast Du Bedenken?“
Lisa sah ihn etwas traurig an „nicht ich – er.“
„Lisa – ich bin weiß Gott kein Therapeut – aber was wird denn das zwischen Euch?“
„Keine Ahnung Nathan – aber weißt Du was? Egal, was es wird – für mich ist dabei nur wichtig, dass er und ich dann damit leben können. Ich werde nicht mehr die Augen zumachen vor dem, was da an Gefühlen zwischen ihm und mir schwingt.“
„Lisa – Du machst mir ein bisschen Angst.“
„Was meinst Du, was ich für Angst habe?“