KAPITEL 46 – Richie is back
Auf dem Weg zum Bahnhof, um Nathan abzuholen, sprach Eric Lisa an. „Ähem – Lisa…“
Lisa sah ihn erstaunt von der Seite an – er war sonst der stille Typ und ergriff von sich aus nicht so unbedingt das Wort. Aber Mattias hatte einen Narren an ihm gefressen.
„Eric?“
„Was ich fragen wollte… Meinst Du, meint ihr, wäre es eventuell denkbar…“
„Ja?“
Er suchte verzweifelt nach Worten und sprach dann so schnell los, dass Lisa Mühe hatte ihn zu verstehen „Bin im Jugendgefängnis gewesen, weißt Du. Hab meinen Vater verletzt, weil der meine Mutter schlug – aber das haben die mir nicht geglaubt. Joshua hat mir eine Chance gegeben. Ist ein guter Job – wirklich. Aber dieser Job bei Euch war etwas ganz anderes. Hab mich zum ersten Mal wohl gefühlt. Würde gerne bleiben. Mache alles. Auch Tiere versorgen oder Zäune flicken oder Chauffeur oder ich passe auf Matty auf oder…Musst jetzt gar nichts sagen. Wollt das aber sagen. Ist mir wichtig. Ihr seid was ganz Besonderes. Und was ihr da aufbauen wollt, ist toll. Ja. Das wollte ich sagen.“
Lisa hatte etwas Mühe zu folgen und den Kern aus dem Gespräch zu ziehen „Du möchtest eine Daueranstellung?“
Er nickte ruckartig mit dem Kopf und sah bedrohlich ernst aus, wie er konzentriert auf die Straße sah – anscheinend absolut hoch konzentriert.
Was war das nur? Wurde das eine Herberge für gescheiterte oder verletzte Existenzen?
„Ich rede mit Richard.“
„Danke.“ Und ohne ein weiteres Wort, fuhr er sie zum Bahnhof.
Nathan wartete schon, gegen einen Poller gelehnt, die langen Beine weit von sich gestreckt.
Lisa stieg aus und warf sich ihm fast an den Hals. Er lachte auf, packte zu und schleuderte sie im Kreis herum „Hey Lisa – ich muss Dich wohl nicht fragen, wie es Dir geht oder?“
Auf der Fahrt zum Hof berichtete Lisa über Richards Zustand und beantwortete auch Nathans Nachfragen. So war er recht gut informiert, als sie den Wagen verließen.
Lisa schloss die Tür auf und ließ Nathan vorangehen, dann meinte sie leise „Du willst bestimmt alleine zu Richard…“
„Eigentlich nicht.“ Und er deutete mit einer Handbewegung an, dass sie die Treppe hochgehen sollte.
Nathans Blick, als er das Zimmer betrat war Gold wert, Lisa konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
Mattias war anscheinend der Meinung gewesen, dass sein Vater dringend unterhalten werden musste, also hatte er es geschafft, seine Kasperlebude ins Zimmer zu schaffen, hatte einige seiner Kuscheltiere als zusätzliche Zuschauer rund um Richard drapiert und war nun selbst damit beschäftigt die Prinzessin vom Krokodil fressen zu lassen.
Richard schenkte Lisa ein Augenzwinkern und sah dann Nathan an „Komm rein – heute gibt es Gratisvorstellung!“
Nathan klaubte sich Mattias von seinem Bein ab, der Prinzessin und Krokodil auf den Boden geworfen hatte und sich mit einem Quietschen an ihn geschmissen hatte.
Lisa klappte währenddessen das Puppentheater zusammen und erlöste Richard von seinen plüschigen Bettgenossen.
Nathan – immer noch etwas verdattert – sah Richard ziemlich irritiert an „äh – Du lässt Dir von Deinem Sohn was vorspielen?“
„Jepp“, Richard ahmte Mattias´ Tonfall perfekt nach „aber ich muss Dich warnen – Matty ist recht blutrünstig. Entweder es geht um fressen oder verhauen…“
Nathan schüttelte leicht den Kopf, fasste sich dann aber wieder. „Verstehe. Nun – der eigentliche Grund meines Besuches ist ja auch ein anderer.“
Lisa drückte eine kleine Spielzeugkiste ihrem Sohn in die Arme und hielt ihm die Tür auf.
„Och – immer, wenn es spannend wird“, maulte er.
„Ja – ist hart ein Kind zu sein“, pflichtete Lisa ihm bei.
„Erwachsenensachen“, meuterte er weiter, ging aber schlurfenden Schrittes hinaus. Lisa schloss die Tür hinter ihrem Sohnemann. „Na – das ging besser als erwartet!“
Nathan nickte ihr zu „Ok – lass uns mal alle Verbände abnehmen – mal sehen wie es ausschaut.“
Bald lag Richard – einmal mehr – nackt vor ihnen und Nathan besah sich verblüfft die Wunden „Willst Du einen neuen Heilungsrekord aufstellen? Da können wir ja in 4-5 Tagen die Fäden ziehen.“
„Und das heißt?“ fragte Richard „Kann ich dann aufstehen?“
„Wahrscheinlich. Auf mehr lasse ich mich nicht ein. Und Aufstehen wird dann auch nur heißen – ins WC und zurück. Mehr erst mal nicht.“
Richard seufzte „Na – das wär doch schon was…“
Nathan maß Blutdruck und Temperatur. „Sag mal – bist Du ein Mensch?“
Richard grinste „Ich hoffe so.“
Nathan wandte sich an Lisa „Ich würde Richie gerne abhören. Versuchen wir mal ihn etwas aufzurichten.“
Lisa nickte, setzte sich auf das Bett und zog Richard vorsichtig nach vorne. Sie hielt ihn im Arm, während Nathan ihn abhorchte. „Hol mal so tief Luft, wie Du kannst.“
Da sie ihn umfasste und sein Kinn auf ihrer Schulter ruhte, konnte sie genau die Anstrengung spüren, die es ihn kostete, soviel Luft einzuatmen, dass sich seine Rippen dehnten.
„Nochmal bitte.“
Und noch einmal – diesmal ging sein Versuch in Husten über und Lisa spürte, wie er sich verkrampfte. Automatisch streichelte ihre Hand seinen Rücken.
„Ok – leg ihn wieder hin.“
Richard rang noch immer etwas nach Luft, so dass Lisa noch wartete.
„Geht wieder“, murmelte er leise und Lisa ließ ihn wieder in die Kissen zurück gleiten.
Lisa sah etwas ängstlich zu Nathan, doch dieser lächelte ihr beruhigend zu „Keine Sorge – das ist normal. Richies Rippen sind ganz schön lädiert. Ich musste nur sichergehen, dass die Lunge frei geblieben ist. Sorry, alter Knabe.“
„Hab´s überlebt. Die Atemübungen, die Joshua mich täglich machen lässt, sind auch nicht viel besser.“
„Verkraftest Du noch, dass ich mir Deinen verstauchten Arm ansehe?“
„Bedien Dich.“
Hierbei war Nathan allerdings so vorsichtig, dass Richard nicht mehr abverlangt wurde.
„Lisa - komm mal her.“ Dann zeigte Nathan ihr, welche Übungen Lisa die nächsten Tage mit Richards Arm machen sollte.
„Und danach schmierst Du den Arm schön ein – hast Du noch was von der Salbe nach der Unterkühlung? - gut – und dann schön warm einpacken und ruhigstellen. Und Richard – Lisa bewegt den Arm, ja? Nicht Du.“
„Verstanden. Lisa darf sowieso alles.“ Er grinste.
„Hab ich was verpasst?“
„Ja – aber könntest Du mir die Decke wiedergeben, bevor ich von privaten Dingen rede? Ich fühle mich etwas nackt.“
Lisa war es, die die Decke wieder über ihn zog.
„Dankeschön.“ Sein Lächeln zärtlich zu nennen, wäre eine Untertreibung gewesen.
Dann wandte er sich an seinen Freund „Ich wollte Dich bitten mein Trauzeuge zu sein.“
Nathan, der gerade dabei war, seine Sachen wieder in die Arzttasche zu packen, ließ sein Stethoskop fast fallen „Was? Ihr wollt heiraten? Wann, wo?“
Lisa sah Richard an. Berechtigte Fragen, wann und wo… Darüber hatten sie noch gar nicht geredet.
„Sobald wir alle Papiere zusammen haben, gebe ich Lisa Vollmacht und sie kann die Hochzeit anmelden – und wenn es ihr Recht ist, auch Mattias gleich offiziell zu meinem Sohn machen. Ja und dann kommt es auf Dich an, ob der Standesbeamte hierher kommen muss oder ich ins Rathaus kann.“
So bald schon – Lisa wurde ganz flatterig zumute und sie hatte das Gefühl, in ihrem Magen waren jede Menge Ameisen. Sie sah hoch und begegnete seinem fragenden Blick mit einem zaghaften Lächeln. Er würde ihr Mann werden – das war kein nebulöses Ereignis in vager Zukunft mehr – in kurzer Zeit würde sie Richard von Brambergs Frau.
Richards Stimme, leise und sanft, drang in ihr Bewusstsein „Lisa – Du träumst schon wieder… – noch mal – möchtest Du weiterhin Plenske heißen oder nimmst Du meinen Namen an?“
Sie erwiderte seinen Blick, ergriff seine Hand, die neben ihr lag und drückte sie leicht „ich möchte sehr gerne von Bramberg heißen.“
Seine Hand drückte nun ebenso leicht die ihre – und ohne den Augenkontakt mit ihr aufzugeben – fragte er erneut „Nun Nate – was ist? Begleitest Du mich auf dem Weg ins ewige Versprechen?“
„Ist mir eine Ehre.“ Er überlegte kurz „Am Freitag können die Fäden gezogen werde... Lisa – meinst Du, Du kriegst Conny und mich als Wochenendgäste unter?“
„Na – klar – das kriege ich schon hin. Ich geh gleich Morgen auf´s Amt und erkundige mich mal.“
Kurze Zeit später begleitete sie Nathan wieder nach unten. „Noch einen Tee oder Kaffee?“
Mit einem schmerzlichen Blick auf die Uhr wehrte er das Angebot ab und stieg zu Joseph ins Auto.
Lisa ging wieder nach oben und stoppte Mattias ab, der gerade wieder zu seinem Vater wollte. Er trollte sich mit den – an Lisa gerichteten Worten – „dann geh ich jetzt zu Eric!“
Lisa nahm das mit Fassung hin und betrat leise ihr Zimmer.
Sie erneuerte die Verbände.
Seltsam, wie gut sie ihn schon kannte. Obwohl er ihr zulächelte, obwohl er keinerlei Hinweise gab – sie wusste es „Wie schlimm ist es?“
„Auszuhalten“, war seine lakonische Antwort.
„Soll ich Dich ein paar Stunden ins Land der Träume schicken?“
Sein Grinsen wurde unverschämt „Sorry – aber dafür bin ich nicht fit genug.“
Lisa spürte, wie ihr die Röte die Wangen hochstieg und warf ihm einen strafenden Blick zu, dem er mühelos standhielt.
Dennoch ging sie ins Bad und löste ein Schlafpulver auf.
„Ich hab nur die halbe Menge genommen.“ Ihre Hand legte sich um seinen Nacken, die andere das Glas an seine Lippen.
Er trank nicht gleich „Was bekomme ich, wenn ich das trinke?“
„...mit der Annahme Deines Antrages habe ich ein gut Teil des unverschämten Richies wiedererweckt – kann das sein?“
Er sah ihr in die Augen und nun war in seiner Stimme keinerlei Humor mehr „Stört es Dich?“
„Das sage ich Dir, wenn Du getrunken hast.“
Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel und er trank.
Lisa stellte das Glas ab, doch statt ihre Hand unter seinem Nacken hervorzuziehen, schob sie auch ihre zweite um seinen Hals „Ich bin froh, dass Du wieder Du selbst wirst.“ Sie beugte sich herunter und legte ihre Stirn an die seine „wenn Du allerdings anfängst Dein altes Selbst gänzlich wiederzuerwecken – dann könnten wir Probleme miteinander bekommen...“
„Du meinst diesen arroganten Schnösel, der sich nur um sich selbst kümmert und über Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen?“
„Ja – den meine ich.“
Er rieb seine Stirn leicht an der ihren „Den gibt es nicht mehr Lisa - den hast Du ausgelöscht, für immer und ewig. Ich habe es Dir doch gesagt – Du hast die Fähigkeit Menschen zu verändern. Und mich hast Du verändert.“
Lisa hob ein wenig den Kopf und sah ihn eine Weile an, sein Blick war offen und klar – dann suchten ihre Lippen die seinen und sie spielten eine Weile miteinander, bis ihm ein unwillkürliches Gähnen entfuhr.
„...wie peinlich...“
Lisa kicherte „Schlaf schön Richie.“
„So hast Du mich noch nie genannt.“
„Mir war auch noch nie danach.“
„Darüber muss ich nachdenken, wenn ich wieder wach bin.“ Er kämpfte nicht länger gegen den Schlaf an, sondern schloss die Augen, sich deutlich bewusst sein, dass Lisas Hände immer noch um seinen Hals lagen und ihr Daumen über ihn strich.
Lisa saß noch eine Weile da und sah in sein vollkommen entspanntes Gesicht. Ihr Verhältnis zueinander änderte sich schneller, als sie das je geglaubt hatte. In ihr war eine tiefe Angst dieses Tempo nicht mithalten zu können. Diese konkurrierte allerdings stark mit dem Wunsch ihm eine Partnerin und Gefährtin zu werden.
Obwohl unten viel Arbeit wartete, blieb sie lange, wo sie war, genoss die Wärme, die von ihm ausging und war dankbar darüber, dass es ihr möglich war hier zu sitzen und ihn zu halten.
Und als ob Richard ihre Nähe spürte, war sein Schlaf so tief und entspannt, wie seit langem nicht mehr.
Es war sehr spät am Abend, als Richard wieder wach wurde. Lisa hatte sich bereits zur Nacht fertig gemacht und ein Tablett mit dem Abendbrot stand neben ihm auf dem Nachttisch. Er sah ihr – immer noch recht müde – zu, wie sie am Frisiertisch saß und ihre Haare bürstete.
Sie entdeckte im Spiegelbild, dass er wach war und drehte sich auf dem Hocker zu ihm um.
„Besser?“
„Viel besser!“
Sie kam zu ihm, setzte sich und schickte sich an, ein Kissen hinter seinen Rücken zu bringen. In dem Moment jedoch, wo ihr Arm sich um ihn schlang, überlegte sie es sich anders und zog sie ihn – wie vorhin bei der Untersuchung – an sich heran. Von ihm kam keinerlei Gegenwehr und ohne zu zögern legte er seinen Kopf wieder seitlich an den ihren. Ein leises Brumm-Geräusch war von ihm zu vernehmen, das Lisa an Tigers Schnurrlaute erinnerte.
Sie umfasste ihn mit beiden Armen und ihre Hände streichelten seinen Rücken. „Tue ich Dir auch nicht weh?“
„Wenn das Wehtun ist, freue ich mich auf Folter.“
„Ich mag es auch so...“ Sie schloss die Augen und genoss den intensiven Kontakt.
Richard schaffte es, seine Hände soweit zu heben, dass er ganz leicht um ihre Taille fassen konnte.
Sie zuckte nicht zusammen, aber ihre Stimme klang traurig, als sie die Stille unterbrach „Noch reicht es Dir, mit mir hier so zu sitzen, aber wenn es Dir besser geht, wirst Du mehr wollen... Ich habe so Angst, dass ich das nicht kann...“
Er küsste ganz sanft ihren Hals „Und wenn das für lange Zeit alles ist, ist das unendlich viel. Lisa – ich kann nicht rückgängig machen, was ich Dir angetan habe – aber ich will in Zukunft alles besser machen. Gibt mir diese Chance – bitte. Unsere Heirat wird daran nichts ändern.“
„Ich habe Angst Dich zu enttäuschen oder falsch zu reagieren oder...“
„Lisa“, unterbrach er sie mit leiser aber fester Stimme „Du kannst mich nicht enttäuschen. Du gibst das Tempo vor.“ Seine Stimme war heiser „Und ich freue mich auf jede Schmusestunde, die wir einlegen... Hab keine Angst Liebes – ich will Dir nie wieder wehtun.“
Und sie glaubte ihm. Er hatte die Schranke niedergerissen, die bislang zwischen ihnen gestanden hatte und seine Maske fortgeworfen – vielleicht würde diese das eine oder andere Mal noch wieder Verwendung finden – aber Lisa war sich sicher, dass es sein aufrichtiger Wunsch war sein Leben mit ihr zu verbringen – und dass er Geduld mit ihr haben würde...
Sie löste einen Arm von seinem Rücken, angelte nach dem Kissen und ließ ihn sanft wieder zurücksinken.
„Lisa – bitte – sieh mich an.“
Sie tat es und ihre Augen waren kurz vorm Überlaufen.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf „So langsam glaube ich wirklich, dass wir eine Chance haben. Du und ich.“
„Ja Liebes – so langsam glaube auch ich das.“