KAPITEL 47 – Ein schwerer Gang
Lisa ging gleich Montagmorgen zur Gemeindeverwaltung und ersuchte um eine Heiratserlaubnis. Einen Vordruck zur Bevollmächtigung hatte sie bei sich aus dem Internet gezogen und Richard hatte unterschrieben.
Nachdem sie von einem sehr freundlichen Standesbeamtem eine (lange) Liste aller erforderlichen Papiere bekommen hatte, machte sie noch einen Abstecher zum Pfarrhaus.
Konstantin Hermann war gerade dabei seine Rosen mit Stroh zu bedecken, unterbrach jedoch sofort seine Tätigkeit, als er Lisa sah. „Frau Plenske – was kann ich für sie tun? Kommen Sie doch rein, ich mach schnell einen Tee...“
Lisa nahm das Angebot dankend an und als sie dem Pfarrer an einem sehr alten Küchentisch gegenübersaß, rang sie etwas verlegen nach Worten.
„Was immer es ist – es wird nicht besser dadurch, das es ungesagt bleibt.“
Lisa lachte „Wie wahr. Ich habe eine Bitte – eine ziemlich große Bitte...“
„Ich höre.“
Sie sammelte sich und sah ihrem Gegenüber dann gerade in die Augen „Richard und ich werden heiraten – in einigen Tagen. Ich hoffe bis Freitag alle notwendigen Papiere zusammen zu bekommen.“
„Dann meinen herzlichen Glückwunsch...“, er sah ruhig und gleichzeitig fragend an.
Lisa fuhr beherzt fort „Richard ist nicht in der Kirche – ich bin es aber... Und die Heirat wird zuhause stattfinden, da Richard noch nicht wieder auf ist... Ich möchte aber gerne, dass Sie dabei sind. Es würde mir viel bedeuten...“
Als er den Mund öffnete, um zu antworten, unterbrach ihn Lisa mit einer Handbewegung „Davor müssen Sie aber noch etwas über Richard wissen...“
„Ich weiß es.“
„Was?!“
Der Pfarrer nickte ihr zu „Richard hat es mir selbst gesagt – kurz nachdem er hier aufgetaucht ist. Er hat mir die ganze traurige Geschichte erzählt.“
Lisa sah vollkommen erstaunt drein. „Aber wieso...“
„Ich glaube, er wollte gleich für klare Fronten sorgen. Ich denke aber Niemand sonst weiß hier etwas davon. Und das ist gut so.“ Er legte seine Hand auf die seiner Besucherin „Lisa – dies ist Euer beider Chance neu anzufangen. Und dies ist ein guter Ort neu anzufangen. Ich wünsche Euch beiden dazu alles Gute. Und Lisa – meine Hochachtung vor Ihrer Einstellung zum Leben. Manche könnten von Ihnen noch etwas lernen.“
„Danke.“
Konstantin lächelte ihr herzlich zu „Ich komme sehr gerne zu Eurer Vermählung. Danke für die Einladung. Und Lisa – ich bin davon überzeugt, dass Richard schwer an seiner Tat trägt und dass er tief bereut. Ebenso bin ich allerdings der festen Meinung, dass er sie liebt – wahrscheinlich schon sehr sehr lange Zeit.“
„Nochmals Danke – für all ihre Worte.“
„Es wird mir eine Freude sein, eine Ehe segnen zu dürfen, die – wie ich denke – eine sehr gute werden wird. Eine, die einen so schweren Start hatte und die dennoch zustande kommt, kann nur wunderbar werden.“
Wieder daheim angekommen, begann Lisa die Liste ihrer Dokumente anzuarbeiten und suchte sie aus dem Sekretär zusammen. Mist – wo zum Henker war die Geburtsurkunde? Hier eine Kopie davon, dort die von Matty. Aber das Original ihrer eigenen...
Lisa lief nach oben, lächelte Richard und Matty kurz zu und begann ihren Schränke zu durchwühlen.
Keine Urkunde – so langsam schwante ihr, wo das Ding sein müsste. Sie ließ sich mit einem Plumps auf dem Hocker vor dem Frisiertisch nieder und starrte etwas verzweifelt aus dem Fenster, durch das die etwas fahle Novembersonne schien.
„Lisa? Ist alles klar gegangen beim Amt?“
Sie nickte und quetschte ein „Ja“ heraus.
„Matty – lässt Du Mama und mich mal alleine?“
„Oooch – warum denn?“
„Weil ich mit Deiner Mutter alleine sprechen möchte und weil ich Dich darum gebeten habe.“ In Richards Stimme war ein leicht harter Unterton nicht zu überhören. Auch nicht von einem kleinen Jungen. Mattias krabbelte vom Bett – und da von Seiten Lisas keine positivere Antwort kam, stapfte er aus dem Zimmer. Die Tür schon in der Hand, um sie ordentlich zuknallen zu können, sah er seinem Vater ins Gesicht und schloss sie dann doch lieber leise.
„Lisa. Lisa... komm her – bitte.“
Lisa sah auf, begegnete seinem halb fragendem, halb bittendem Blick und erhob sich langsam. Die Liste in der Hand, setzte sie sich zu ihm.
„Meine Geburtsurkunde...“
„Kannst Du sie nicht finden?“
„Anfangs nicht. Aber ich weiß jetzt, wo sie ist.“
Er sah in ihr kalkweißes Gesicht – „und?“
„Sie ist bei meinen Eltern.“
Er betrachtete ihren gesenkten Schopf „Du kannst Dir auch eine neue ausstellen lassen...“
Lisa sah angelegentlich auf die Liste in ihren Händen „Aber das dauert bestimmt ziemlich lange..“
Richard seufzte „Ok – dann müssen wir die Hochzeit eben verschieben.“
„Das möchte ich nicht“, ihre Stimme war furchtbar leise und er hatte Mühe sie zu verstehen. Sie biss sich auf ihre Unterlippe, kaute nach einer Entscheidung ringend darauf herum. „Nun – es muss ja irgendwann mal sein... Ich fahre hin und hole mir das Ding ab!“
Sie legte die Liste auf den Nachttisch, griff in die Gesäßtasche ihrer Jeans und holte ihr Handy hervor. Es lief nur das Band, Erleichterung durchflutete sie „Mama, Papa – hier ist Lisa. Ich brauche meine Geburtsurkunde. Ich komme Morgen Nachmittag gegen zwei und hole sie ab. Papa hat sie in den Haussafe zu den anderen Papieren getan. Bis Morgen.“ Sie drückte rasch die Taste mit dem roten Hörer, schloss die Augen und atmete heftig aus.
„Lisa“, seine Hand legte sich auf ihren Oberschenkel „Nimm bitte einen der Jungs mit – ja?“
Sie bedeckte seine Hand mit der ihren „Mach ich. Joshua lass ich Dir da. Ich denke aber nicht, dass ich lange fort sein werde...“
Sie sah ihn nun direkt an und konnte mit seinem Gesichtsausdruck nicht so recht etwas anfangen „Was ist? Ich bekomme die Urkunde schon. Und Jürgen habe ich auch schon Bescheid gesagt – er wird mein Trauzeuge.“
„Das ist es nicht. Lisa – Du bist so stark und so tapfer – und Du musst es immer und immer wieder sein. Schon Damals, als Du zu Davids Hochzeit gegangen bist... Ich habe Dich so bewundert dafür.“
„Da gab es doch nichts zu bewundern. Ich brauchte das, um mit David abschließen zu können.“
„Nur wenige hätten es aber mit soviel Würde und Anstand wie Du gemacht. Ich wollte Dich eigentlich nach der Trauung ganz in Ruhe ansprechen und Dir meine Bewunderung und meinen Respekt bezeugen – was dann ja aber – wie Du weißt - ganz anders kam...“
„Richard – bitte – Du hast mich doch früher nie bewundert.“
„Und ob ich das habe. So geradeaus, so offen, so gradlinig und den Kopf immer voller fantastischer Ideen. Ich liebe meine Schwester wirklich – aber ich halte David für einen Narren, dass er Dich hat gehen lassen.“
Lisa sah Richard sprachlos an und er lächelte ein wenig verlegen „Lisa – meine Liebe zu Dir ist nicht annähernd so neuen Datums, wie Du vielleicht glauben magst...“
„Aber Du warst immer so eklig zu mir!“
„Nur – um nicht zu nett zu werden.“
„Männer! Und da sagt man, Frauen seien kompliziert!“
„Seid ihr ja auch.“ Er drehte seine Hand um und verschränkte seine Finger mit den ihren „Lisa – ich verspreche Dir hiermit, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, damit Du nicht mehr so oft so tapfer und so mutig sein musst. Ich möchte Dich beschützen, für Dich da sein – alles Unbill von Dir fernhalten...“
Ihre Augen schwammen in Tränen als sie seinen geraden Blick erwiderte „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ein Richard von Bramberg je so reden würde.“
Ein leichtes Grinsen stellte sich bei ihm ein „Dann war es vielleicht eben Richie, der da gesprochen hat...“
„Richard – Richie – wie auch immer. Danke für diese Absichtserklärung.“ Jetzt schien es ihr schon ganz natürlich zu sein, dass sie sich herunterbeugte und ihn küsste. Ein Arm von ihm eroberte ihre Mitte. Sie trennte ihre Lippen ein paar Zentimeter von den seinen „Dir geht es besser oder?“
„Viel besser. Ich habe auch die beste aller Pflegerinnen.“
„Wenn Du mir weiter so viele Komplimente machst, werde ich noch eingebildet!“
„Das glaube ich nicht. Eine Lisa kann man biegen und beugen, aber sobald man sie loslässt, richtete sie sich wieder in ihrer alten Grundform auf.“
„So siehst Du mich?“
Sein Lächeln war Antwort genug.
Sie beugte sich weiter hinab und umarmte ihn vorsichtig „Ich liebe Dich auch Richard – meine Liebe ist nicht so alt wie die Deine, aber sie ist da – und ich hoffe und bete, dass sie stark genug ist, mich zu einer vollwertigen Ehefrau zu machen.“
„Lisa“, flüsterte er und presste seine Wange an die ihre „Du bist vollwertig – so wie Du bist – und lass Dir von Niemandem was anderes einreden.“
Den nächsten Tag machte Lisa eine Mappe fertig, in der sie ordentlich alle erforderlichen Papiere von Richard, Mattias und sich selbst zusammentrug. Wenn sie die Geburtsurkunde heute bekam, stand der Trauung am Freitag nichts mehr im Wege...
Als sie kurz nach eins zu Joseph ins Auto stieg, war ihr ziemlich flau im Magen. Irgendwie war es recht beruhigend diesen großen blonden Hünen dabei zu haben. Lisa – was redest Du da wieder? Als ob sie vor ihren eigenen Eltern beschützt werden müsste!
Richard hatte ernsthaft erwogen sie zu begleiten. Lisa erkannte sich selbst kaum mehr, sie war richtiggehend wütend geworden. So eine hirnrissige Idee aber auch!
Richard – der Gedanke an ihn gab ihr Kraft. Und die Vorstellung, er wäre in seinem Zustand ihren Eltern ausgeliefert... war ...beängstigend...
Sie hatte eine Weile gebraucht, bis sie bemerkt hatte, dass er die Idee des Mitkommens nur geäußert hatte, um sie auf andere Gedanken zu bringen – sie war ihm einmal mehr auf dem Leim gegangen…
Sie lächelte noch im Nachhinein, doch dann richteten sich ihre Gedanken wieder auf das bevorstehende Wiedersehen.
Mach Dir nichts vor Lisa – das heute hat wenig bis gar keine Aussicht auf Erfolg. Seh zu, dass Du die Urkunde bekommst und dann für klare Fronten sorgst!
Joseph hielt das Auto vor Lisas Elternhaus an „Soll ich mit hineinkommen?“
Lisa schüttelte den Kopf, sie wusste nicht, ob sie ihrer Stimme trauen konnte. Sie stieg aus, holte ein paar Mal ruhig und tief Luft, strich sich den dreiviertellangen Rock glatt und schritt die Waschbetonplatten zum Haus entlang. Sie hatte zwar noch einen Schlüssel, aber sie zog es vor zu klingeln. Dies war nicht mehr der Ort, an dem sie lebte.
Es war Helga, die die Tür öffnete „Lisa – bitte – komm doch rein.“
„Mama.“ Lisa trat ein. Ihre Mutter forderte sie nicht auf, den Mantel abzulegen und Lisa verspürte auch keinen Wunsch dies zu tun.
Helga ging ins Wohnzimmer voran und als sie den Raum betraten, erhob sich ihr Vater von der Couch und schaltete rasch den Fernseher aus. „Lisa. Schnattchen…“
Unschlüssig stand er da, nicht wissend, ob er seine Tochter inniger begrüßen sollte oder nicht.
Ihre Mutter ergriff eine Mappe, die sie auf dem Couchtisch deponiert hatte.
„Hier Lisa – Deine Geburtsurkunde und alle Papiere, die ich sonst noch von Dir gefunden habe.“
„Danke.“ Lisa nahm die Mappe entgegen und sah ihre Mutter an. Aber da war keine mütterliche Regung, kein Verständnis, keine Zärtlichkeit.
Bernd stand immer noch zwischen Couch und Tisch und fragte nun „Und – was machste so, hmh?“
„Ich werde Freitag Richard von Bramberg heiraten.“
Helga presste die Lippen fest zusammen, während Bernd lospolterte „Da hatte der Jürgen ja Recht. Mensch! Und ich hab dem nicht glauben wollen. Lisa – das geht doch nicht!“
„Doch Papa – das geht.“ Lisa sah flehentlich von einem zum anderen „Mama. Papa. Bitte – versucht es doch wenigstens zu verstehen. Bitte. Kommt doch einfach mal vorbei und schaut Euch an, was wir aufgebaut haben. Und Matty. Wollt ihr ihn denn gar nicht sehen? Er ist ein ganz prima Junge. Papa – er würde Dir bestimmt gefallen!“
Helga ging zur Tür und öffnete sie „Lisa – ich denke, Du solltest jetzt gehen.“
„Papa?“
Bernd betrachtete sehr aufmerksam seine Fußspitzen „Deine Mutter hat recht.“ Und leiser fügte er hinzu „Leb wohl Schnattchen.“
Es gab nichts mehr zu sagen. Es war vorbei. Lisa hatte nicht einmal mehr Tränen. Hierfür gab es keinen Ausdruck mehr. Sie stürmte an Helga vorbei durch die Wohnzimmertür, öffnete die Haustür und warf sie mit einem Schwung wieder zu.
Sie rannte auf das Auto zu, Joseph beugte sich herüber und drückte die Tür auf. Lisa ließ sich in den Sitz fallen „Fahr los – schnell bitte.“
Der Benz sprang an und schnurrte sofort los. Lisa sah nicht mehr zurück. Ihr Blick war starr auf die Straße vor sich gerichtet. Ihre Hände umklammerten die Mappe. Sie hielt ihre Zukunft in den Händen. Ihre Vergangenheit ließ sie gerade hinter sich.
Sie sprach kein Wort, bis sie fast am Ziel waren. „Bitte halte noch bei der Gemeindeverwaltung.“
Lisa gab alle Papiere ab und machte einen Termin zu Freitag 15:00 Uhr aus. Der Standesbeamte würde zu ihr nach hause kommen. Aus dem Gespräch bekam sie mit, dass sich Konstantin Hermann bereits im Vorfeld für ihre Angelegenheit eingesetzt hatte. So ging alles ganz leicht.
Auf dem Hof angekommen, bat Lisa Joseph die Papiere mit ins Haus zu nehmen. Sie selbst schlug den Wirtschaftsweg ein, der von ihrem Hof zu den Weiden führte und ging fast zwei Stunden stramm spazieren. Das Wetter war neblig und recht ungemütlich, aber das machte nichts. Lisa stand an der Grenze ihres Besitzes, sah zu den Koppeln und konnte in der Ferne in der hereinbrechenden Dunkelheit ihr Haus sehen. Das war jetzt ihr zuhause. Sie hatte kein anderes mehr.