KAPITEL 40 – Das starke schwache Geschlecht
Doch in diesem Augenblick schenkte Lisa ihrem Sohn keine Beachtung. Und sie honorierte auch nicht Mariellas wunderbaren Einfall, Matty einzureden, dass dies hier alles ein Spiel sei.
Lisas Hände zitterten zwar, aber sie riss Mariellas Bluse entzwei.... aber – da war kein Blut und Mariellas Blick, der nun dem ihren begegnete, war zwar schreckensgeweitet, aber klar.
In diesem Moment griff eine Hand nach Lisas Arm. Sie zuckte zusammen und sah in das bleiche Gesicht von Kim Seidel. Jetzt wusste Lisa, wo das Blut hergekommen war, das auf Mariellas Brust war. Kim und Mariella hatten miteinander gerungen, während Kim die Waffe noch in der Hand hielt – dabei musste sich ein Schuss gelöst haben…
„Weißt Du – ich hätte es verdient alles zu bekommen – nicht unser Sunnyboy David... ich bin viel klüger, als ihr alle gedacht habt. Anfangs wollte ich alles Richie anhängen – aber auch da warst Du vor Lisa – nicht wahr? Lisa - Du warst das Sandkorn in meinem Getriebe... Dabei hätte ich gerne eine Freundin wie Dich gehabt – eine, die an mich glaubt, die zu mir steht – wie Du zu Mariella...“ Kim hustete und ein dünner Blutfaden rann ihr aus dem Mund „Lisa – eines noch... Ich habe Richard vor der Kirche getroffen... Hab gemerkt, dass er nicht ganz bei sich ist... Hab ihn aufgehetzt gegen Dich... ihn geil gemacht.... Hab seinen Zustand ausgenutzt... Tut mir leid – DAS tut mir wirklich leid. Sag Mama, sag Papa...“ ihre Stimme erstarb, ihr Griff löste sich und ihr Blick wurde starr.
„Ist sie tot?“ Flüsterte Mariella.
„Ja.“ Lisa erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. „Ist Dir was passiert?“
„Nein... David? Richard?“
Eben davor graute Lisa - nach den beiden zu sehen – vor ihrem inneren Auge hatte sie immer noch das Bild, wie beide zu Boden gingen.
Ok Lisa – noch einmal – stark sein. Jetzt. „Matty – Liebling – holst Du Tante Mariellas Rollstuhl?“
Lisa selbst stand auf. Sie drehte sich um. David lag näher als Richard. Sie ging hin. Sie kniete sich hin. Ihre zitternde Hand drehte ihn um. Blut lief nun seine beiden Schläfen hinab. Er war furchtbar blass, aber ihre tastenden Finger fanden den Puls. „Er lebt – aber ist bewusstlos“, rief sie Mariella zu.
Dann stand sie auf und ging zu Richard. Wieder hinknien. Wieder umdrehen. Seine Augen waren offen, sein Atem ging stoßweise. Irgendwie schien überall Blut zu sein, doch sein Blick suchte den ihren „ist es vorbei?“ Seine Stimme klang bemüht und leise.
„Ja - es ist vorbei.“
In diesem Moment gab es ein ohrenbetäubendes Geräusch und das Brummen eines starken Motors. Licht flammte auf und Rufe ertönten.
„Wir sind hier!“ rief Lisa „Passt auf Fallgruben auf.“
Lisa ließ sich ganz auf dem Boden nieder und zog Richard halb auf ihren Schoß. Sie weinte, ohne es zu bemerken und ihre Finger strichen sanft über sein Gesicht. „Hilfe kommt.“
Richard schloss die Augen und lag ganz still, doch Lisa wusste, dass er bei Bewusstsein war.
Matty kam zu ihnen und Lisa zog ihn an ihre Seite. Der Junge war genauso reglos und still wie sein Vater. Nur seine Hände hatten sich in Lisas Seite gekrallt.
Joshua, Joseph und Eric waren die ersten, die herangestürmt kamen. Der Pfarrer, Niklas und das halbe Dorf folgten. Mariella hatte es schon vorher geschafft wieder in ihren Rollstuhl zu kommen und seltsamer Weise war sie es, die jetzt die Anweisungen gab, während sie mit einer Hand ihre Bluse zusammenhielt.
„Joshua – wir brauchen zwei Krankenwagen und einen Leichenwagen. Die Polizei muss kommen.
Niklas – können Sie bitte Matty mit zu sich nach hause nehmen? Lisa will bestimmt mit ins Krankenhaus fahren. Nein danke – mir geht es gut. Bitte kümmern Sie sich um meinen Mann und meinen Bruder.“
Starke Mariella – wie sie da saß. So ruhig, so schön. Sie sahen sich an und nickten sich zu.
Lisa fuhr mit im Krankenwagen, Mariella mit in dem anderen. Auf dem Gang warteten sie gemeinsam. Seltsam ruhig und sich an den Händen haltend.
Zwischendurch stand Lisa nur einmal auf, um an das Telefon zu gehen. Laura und Friedrich waren bereits durch die Polizei informiert worden. Sie waren auf dem Weg hierher.
Lisa rief zunächst Sophie an, die erstaunlich beherrscht war, als sie ihr alles erzählte. Sie versprach ihr so rasch wie möglich Bericht zu erstatten, was mit Richard war. „Ich würde ja kommen“ meinte Rcihards Mutter „ – aber ich glaube, er hat sie viel lieber um sich, als mich...“
Lisa verarbeitete in diesem Moment nicht wirklich, was Sophie ihr damit zu verstehen geben wollte.
Dann rief sie Nathan an „Ich komme sofort!“ Und aufgelegt hatte er.
Noch ein Anruf bei den Reinhards. Matty ging es gut – er war zwar viel zu ruhig, war aber willig mit Niklas mitgegangen und er wollte nun nicht schlafen gehen – aber soweit war zunächst alles im grünen Bereich.
Und wieder setzte sie sich zu Mariella und sie warteten.
„Frau Seidel?“ Ein Arzt war zu ihnen getreten.
„Ihr Mann hat großes Glück gehabt – er hat zwar eine ziemliche Gehirnerschütterung durch den Streifschuss und das, was ihn am Kopf getroffen hat und wir behalten ihn einige Tage hier – aber er kann bald nach Hause – allerdings mit der Auflage ein paar Wochen das Bett zu hüten...“
Mariella stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Der Arzt fuhr fort „Ihr Mann schläft jetzt. Aber er ist außer Gefahr. Am besten sie fahren nach hause...“
Dann wandte er sich lächelnd an Lisa „Mit Herrn von Bramberg haben wir erheblich mehr Schwierigkeiten. Trotz seiner Verletzungen ist er nicht gerade kooperativ.“
„Was hat er denn?“
Der Arzt hob die Hand und zählte anhand seiner Finger ab „Durchschuss im Oberschenkel, zwei gebrochene Rippen inklusive heftiger Hautabschürfungen, der rechte Arm ist stark gestaucht, der andere hat zwei tiefe Fleischwunden und die Schulter war ausgekugelt – ach ja und eine leichte Gehirnerschütterung hat er außerdem... Aber er ist bei Bewusstsein – und er will sie sehen... Versuchen Sie ihn zu beruhigen, bitte. Ich gebe ungerne Sedativa gegen den Willen des Patienten.“
Lisa wandte sich an Mariella „Wartest Du?“ Und als Mariella nickte „Und wenn Nathan kommt...“
„..bin schon da...“ Nathan kam herangestürmt und unterzog den Arzt gleich einem Verhör über David und Richard.
„Geh zu Richard, Lisa – ich komme gleich nach.“
Lisa ging auf die Tür zu, die ihr der Arzt zeigte und trat ein. Richard lag flach auf dem Rücken, aber seine Augen waren krampfhaft geöffnet. Als er sah, wer eintrat, wollte er ihr eine Hand entgegenstrecken, stöhnte jedoch nur auf und verlegte sich aufs Lächeln.
Sie ging ohne zu zögern zu ihm, setzte sich auf die Bettkante und ihre Hand strich ihm das Haar aus dem Gesicht. „Du machst Schwierigkeiten, habe ich gehört?“
Seine Augen suchten Kontakt mit den ihren „Lisa – ich habe Dich selten um etwas gebeten – aber bitte – nimm mich mit nach hause. Ich ertrage dies hier nicht.“
Lisa war etwas ratlos „Richard – Dich hat es ziemlich übel erwischt...“
Er schloss die Augen „ich verstehe...“
„Hey“ – ihre Hand drehte sein Gesicht sachte wieder herum „was verstehst Du? Würdest Du mich bitte ansehen?“
Er tat es „es ist vorbei.“
„Ja – es ist vorbei. Kim ist tot.“
Er nickte leicht und schloss erneut die Augen.
Lisa begriff. Sie beugte sich vor und ihre Lippen berührten ganz sachte seine Augenlider. Diese zuckten. „Ich rede mit den Ärzten, Du Sturkopf. Und mit Nathan – er ist hier.“
Ihr Blick fiel auf das Glas und die Tabletten auf der Seitenkonsole „Sollst Du die nehmen?“
„Ja – aber wenn ich jetzt schlafe, kann ich nicht mehr beeinflussen, was mit mir passiert.“
Lisa ergriff die Tabletten und hielt sie ihm vor den Mund „Bitte.“
Sein Gesicht war so undurchdringlich wie seit langem nicht mehr, aber er schluckte die Tabletten und sie hielt ihm das Glas hin, damit er mit Wasser nachspülen konnte. Dann schloss er die Augen und drehte den Kopf von ihr weg.
Doch Lisa blieb sitzen, wo sie war und schob eine Hand in seine – oh Wunder – unverletzte rechte. Seine Hand schloss sich um die ihre, aber er sagte kein Wort. Lisa hatte das unbestimmte Gefühl, er fühlte sich von ihr im Stich gelassen.
Nathan betrat das Zimmer.
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Lisa.
„Hat ihn ziemlich erwischt - aber wie durch ein Wunder nichts Lebensbedrohliches.“
Lisa streichelte mit dem Daumen leicht Richards Hand. „Er will hier nicht bleiben.“
„Na ja“ – Nathan rieb sich die Nase „das wird schwierig – für die nächsten Wochen ist er definitiv ein Pflegefall.“
Inzwischen war sich Lisa sicher, dass Richard eingeschlafen war. Seine Hand war schlaff geworden und seine Atemzüge waren ruhig und tief. Auch die steile Grübelfalte über seiner Nase war verschwunden.
Die Tür öffnete sich erneut und Joshua kam herein.
„Lisa? Joseph und Eric bringen Dein Auto zum Hof. Kann ich noch was tun? Soll ich Dich und Frau Seidel gleich nach Hause bringen?“
Doch Lisa sah nur Nathan an „Ist es machbar Nathan – kann er mit?“
Joshua räusperte sich „Wenn es hilft – ich war mal Krankenpfleger – ist schon eine Weile her, aber das vergisst man nicht.“
Lisas Augen, groß, blau und sehr bittend waren ausschließlich auf Nathan gerichtet „ich bin ja auch noch da und kann helfen.“ Es war ihr unendlich wichtig, dass er mit nach hause kam. Er wollte es gerne und sie hatte das Gefühl, er wäre von ihr enttäuscht und würde sich zurückziehen, wenn sie ihn hier ließe. Das mochten dumme Gedanken sein – aber sie waren da.
Nathan seufzte. „Wartet hier – ich seh mal, was ich erreichen kann.“
Er kam nach guten zwanzig Minuten wieder.
„Ok – Lisa – wenn Du bereit bist einen Krankenwagentransport privat zu bezahlen..“
Lisa nickte sogleich.
„..dann geht es. Ich bleibe das Wochenende bei Euch und kann dann nach ihm sehen.“
Lisa stand auf und fiel ihm um den Hals „Danke.“
So wurde Richard schlafender Weise im Krankenwagen zum Hof gefahren. Lisa dachte kurz über die Zimmerverteilung nach und wies die Männer dann an Richard nach oben in ihr Zimmer zu schaffen.
Das untere Gästezimmer war nun für Mariella, das obere bekam Nathan.
Joshua fuhr einen Umweg und holte Mattias von Bea und Niklas ab. Er war wirklich eigenartig ruhig und bat nur darum, neben Richard liegen zu dürfen.
Nathan zögerte kurz und verabreichte dem Kleinen dann ein leichtes Schlafmittel.
Lisa half noch Mariella ins Bett und die beiden Frauen saßen noch eine Weile eng beieinander. Reden taten sie nicht viel. Aber eines war ihnen klar geworden – die heutige Nacht hatte sie noch enger zusammengeschweißt.
Als Lisa sah, dass in den Wohncontainern noch Licht brannte, ging sie auch noch einmal dorthin, dankte für das, was die drei heute geleistet hatten und stellte sie kurzerhand bis Ende des Jahres ein. Auf Joshua konnte sie derzeit ohnehin nicht verzichten und Lisa hatte die starke Vermutung, dass sie auch die anderen beiden die nächsten Wochen gut gebrauchen könnte – und sei es, um die Presse abzuwimmeln, wenn etwas durchsickern sollte.
Sie bat Joshua Morgen auch bei Mariella anzufragen, ob er ihr helfen könne und dass sie zu David gefahren wurde, wann immer sie dies wollte und ging endlich nach oben in ihr Zimmer. Sie hatte die kleine Nachttischlampe brennen lassen und in deren Schein sah sie „ihre beiden Männer“ – denn das waren sie – schlafen.
Sie ging rasch duschen, zog sich einen Schlafanzug über, löschte das Licht und krabbelte ins Bett. Sie nahm Matty in den Arm, fuhr noch einmal sachte über Richards Stirn und ließ es endlich zu, dass ihr erschöpfter Körper zur Ruhe kam.
Heute hätte sie beinahe alles verloren, was sie liebte – aber es war nicht geschehen. Der Alptraum war vorbei. David und Richard würden wieder gesund werden. Im Hinüberdämmern dachte sie noch an Laura und Friedrich und wie furchtbar diese sich fühlen mussten. Die eigene Tochter versuchte den Sohn umzubringen... Dann ließ sie auch diesen Gedanken los und sank in einen unendlich tiefen schweren Schlaf.