KAPITEL 12 – Verwobenes Schicksal
Lisa drückte die Türklinke runter und trat ein, ohne anzuklopfen. Der Raum war klein und diente eindeutig dazu, einem Patienten nicht viel Abwechslung zu bieten. Ein Bett, ein Nachtsschrank, ein Stuhl und ein Infusionsständer, aus dessen Höhe sich ein Plastikschlauch in Richard´s Arm wand.
Er sah auf, wer hereinkam, stöhnte dann leise, aber vernehmlich „auch das noch“, dreht den Kopf zur Seite und schloss die Augen.
Lisa – das wird nicht leicht. Das wird ganz und gar nicht leicht!
Sie zog sich den Stuhl heran und setzte sich. Von ihm keine Reaktion.
Lisa zog ein kleines Buch aus der Tasche und begann sachlich daraus vorzulesen:
„Patienten mit Schläfenlappentumoren erscheinen häufig als reizbar, verstimmbar, ängstlich oder depressiv. Nicht selten anfallsweise Halluzinationen, und zwar meist Geschmacks- und Geruchs-Sinnestäuschungen, mitunter aber auch akustische oder optische Trugwahrnehmungen. Typisch sind weiterhin Déjà vu-Erlebnisse ("in dieser Form irgendwie schon einmal gesehen"), ferner illusionäre Verkennungen (verfälschte Wahrnehmung wirklicher Gegebenheiten) und Depersonalisationserscheinungen ("ich bin nicht mehr ich", "alles so weit weg, alles so sonderbar und komisch"). Mitunter auch flüchtige Störungen der Zeitwahrnehmung und des Körperbildes. Bei Befall des basalen (unteren) Schläfenlappens kann auch das sexuelle Verhalten enthemmt sein. Schizophrene (z. B. Sinnestäuschungen) und depressive Krankheitszeichen (verstimmbar und ängstlich) finden sich bei Schläfenlappentumoren als Früh- und Erstsymptome öfter als bei allen anderen raumfordernden Prozessen (z. B. depressive Zustände in über der Hälfte der Fälle).“
Sie schlug das Buch mit einem Knall zu „Was soviel heißt, wie – erst werden sie körperlich Abstriche machen, dann geistige. Letztendlich wird es richtig eklig. Muss toll sein, so etwas vor sich zu haben...“
Täuschte sie sich oder hatte es um seine Mundwinkel fast amüsiert gezuckt. Mach weiter Lisa – mach einfach weiter, plappern konntest Du doch schon immer gut!
„Ich meine, auch der heutige Tag – echt super! Keine Selbstbeherrschung mehr, das Essen wiedersehen und schließlich darf man sich den ganzen Tag wunderbar ausruhen.“
Er nahm den Kopf wieder gerade, öffnete die Augen, sah aber zur Decke. „Lassen Sie das, Lisa. Mein Entschluss steht fest.“
„Dann haben wir ein Problem – meiner auch!“
„Sie vergessen sich!“
„Ja – wie schon so oft...“ sie seufzte „Tatsächlich werde ich mich noch viel mehr vergessen und meine guten Manieren obendrein, wenn sie nicht endlich vernünftig werden.“
„Vernünftig? Mir den Kopf aufzumachen und einen sabbernden Deppen aus mir zu machen soll vernünftig sein?“
„Ja – Sie könnten auch bei dem Eingriff sterben und nicht erst als verwirrtes Bündel Mensch in ein paar Monaten. Es gibt aber auch die Chance, dass Sie es schaffen können.“
„Eine sehr kleine Chance.“
„Eine Chance!“
„Sie sind eine gottverdammte Nervensäge!“
„Sie sind ein bornierter, sturer, eingebildeter Idiot!“
„Na danke!“
„Gern geschehen.“
Lisa öffnete das Buch und las den Passus erneut vor.
„Lisa! Hören Sie auf!“
„Unterschreiben Sie das Einverständnis einer OP?“
„Nie im Leben?“
„Schön – dann lese ich weiter.“
Lisa las und las und las... immer denselben Passus, immer wieder.
Er fing an zu lachen „Lisa – bitte, bitte hören Sie auf!“
„Unterschreiben Sie?“
„Nein.“
Sie schlug das Buch wieder auf, doch er sagte rasch „Bitte nicht – Lisa – seien sie doch mal vernünftig.“
„ICH? Ich bin ganz und gar vernünftig. Sie sind der Sturkopf!“
„Ich denke, es ist Schicksal, dass das passiert ist!“
„Ich denke, es ist Schicksal, dass es Ärzte gibt, die das heilen können!“
„Verbohrte Frau!“
Lisa grinste und begann erneut mit monotoner Stimme zu lesen. Er hielt das kurze Zeit aus, dann rief er „Stopp, bitte! Könnten Sie nicht einen Pfleger rufen, dass er mich wieder einschlafen lässt?“
„Nie nich! Patienten mit Schläfenlappentumoren erscheinen häufig als reizbar, verstimmbar, ängstlich oder depressiv.“
„Dieser wird es gleich wirklich! Bitte hören Sie endlich auf!“
„Unterschreiben Sie?“
„Sagen Sie mir, warum ich das tun sollte..“
Lisa sah ihn offen an „Um dem Leben eine Chance zu geben, um nicht feige zu sein, um sich den Dingen zu stellen...“
„Überzeugt mich nicht!“
„Mir zuliebe?“
„Was hätten Sie davon, dass ich lebe?“
„Ob Sie es wollen oder nicht, unser Schicksal ist miteinander verwoben. Wie und warum, weiß ich noch nicht. Aber es ist so.“
„Blödsinn!“
„Ich habe erkannt, dass Sie krank sind und Ihnen ihren Freund auf den Hals gehetzt. An jenem Abend haben Sie etwas getan, was furchtbar war – aber auch etwas, was Ihr und mein Leben komplett verändert hat.“
„Spitzfindige weibliche Analyse!“
„Ich hätte nie bei Kerima aufgehört, nie Mariella zur Freundin bekommen, mich nie mit meinen Eltern so erzürnt, nie über ein anderes Leben nachgedacht, mir nie ein Auto gekauft...“
Er lachte erneut „Das nenne ich einen Schritt. Ein Auto!“
„Einen uralt Benz von 1972!“
„Schönes Auto... Lisa – ich kann nicht.“
„Ich lese weiter!“
„Alles, nur das nicht!“
„Sie unterschreiben?“
„Eine Bedingung: Sie werden da sein, wenn ich aufwache.“
„Sofern ich die Erlaubnis bekomme – ja.“
Lisa konnte es nicht fassen – er unterschrieb – es war etwas schwierig mit der Hand in einer Manschette – aber es ging. Sie sah sich die Unterschrift genau an.
„Was damit nicht in Ordnung?“
„Ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht mit Kapitän Nemo oder so etwas unterschreiben...“
Lisa stand auf, ergriff das Trinkglas und hielt es ihm an die Lippen. Ihre Hand zitterte nur ganz leicht.
„Sie haben da dauernd hingesehen..“ entschuldigte sie ihre Handlungsweise.
Lisa stellte das Glas wieder auf den Nachtschrank und schickte sich an zu gehen.
„Lisa?“
„Ja?“
„Sie glauben daran, dass unsere Schicksale aneinander gekoppelt sind?“
„Ja – Sie auch?“
Doch er antwortete nicht darauf und Lisa verließ leise das Zimmer.
Es kostete Nathan einiges an Überredung, dass Lisa bei Richards Aufwachen dabei sein konnte. Aber er schaffte es. Lisa hatte dieser Besuch einiges abverlangt. Zwar hatte sie sich furchtbar cool und selbstsicher gegeben, aber innerlich hatte sie oft zurückgeschreckt und war ein paar Mal kurz davor gewesen aufzugeben. Sie hatte nur eines gewusst – sie musste durchhalten.
Sie rief Conny Rittinghaus an und bat um einen kurzfristigen neuen Termin.
„Meinen letzten Patienten habe ich um fünf – komm doch gleich vorbei – Du wirst nicht lange warten müssen.“
Lisa nahm das Angebot dankbar an. Der heutige Tag hatte sie so aufgewühlt, dass sie heute bereit war, ein tieferes Gespräch zu führen.
Conny war allein, als Lisa die Praxis betrat, auch die Sprechstundenhilfe war schon nach hause gegangen. „Was hältst Du davon, wenn wir unser Gespräch in ein Lokal verschieben? Hab heute keine Mittagspause gehabt.“
„Keine Einwände – Hunger habe ich in letzter Zeit ständig!“
So saßen die beide kurze Zeit später einander im Steakhouse gegenüber. Conny hatte eine ruhige Ecke gewählt und sah Lisa nun interessiert an „Du hörtest Dich recht dringlich an…“
Lisa betrachtete das Rumpsteak auf ihrer Gabel „Der heutige Tag war so ungeheuerlich, dass ich darüber reden möchte. Und nicht nur über den Tag.“
„Reden wir über Richard von Bramberg?“
Lisa nickte und legte Gabel und Fleischstück wieder hin. „Aber ich muss früher anfangen – ich denke, ich muss mit David anfangen…“
„Mariella´s Mann?“
„Hättest Du mir diese Worte vor ein paar Monaten an den Kopf geworfen, hätte ich mich wohl spontan in Tränen aufgelöst…“
„Große Liebe?“
„Ganz große Liebe. Er war mein Ein und Alles. Mein Traum. Mein Märchenprinz. Aber einer, der für mich für ganz kurze Zeit in greifbare Nähe gerückt war und dann gänzlich meiner Reichweite entfloh.“
„Mariella.“
„Ja – Mariella. Ich war so traurig, so tief enttäuscht. Ich dachte, es gäbe nichts Wichtigeres auf dieser Welt als David Seidel.“ Lisa griff sich an den Hals und spielte mit der Kette, die er ihr geschenkt hatte. „In der Kirche dabei zu sein, war für mich ein Muss und es war demütigend und ich war so tief verletzt. Dachte ich. Bis Richard von Bramberg kam und mir zeigte, dass er mich noch viel mehr verletzen konnte. Bis David und Mariella mir zeigten, dass sie weiterhin für mich da sind.“
„Wenn Du heute David siehst, was fühlst Du da?“
Lisa sah aus dem Fenster und versuchte sich David vorzustellen „Wärme, Vertrauen, ein bisschen Traurigkeit.“
„Liebe?“
„Ich weiß nicht.“
„Möchtest Du weiterhin mit ihm Dein Leben verbringen?“
„Mit einem Mann, der mich nicht anfassen darf?“
„Weich nicht aus, Lisa! Stell Dir vor, Du hast das überwunden. Denk Dir, er darf Dich anfassen, was dann?“
„Dann wäre Mariella verletzt.“
„Stell Dir vor, es gäbe keine Mariella. Würdest Du ihn wollen?“
Mit David leben? Nach alledem? „Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht. “ Und eine andere Stimme war in ihrem Kopf ´Ich weiß es wirklich nicht.`
„Richard“, sagte Conny sanft. „Was ist mit ihm?“
„Ob ich mit ihm zusammen leben will?!“
„Nein – versuch zu beschreiben, was Du fühlst, wenn Du ihn siehst.“
Erneut schloss Lisa die Augen und stellte sich Richard vor „Verwirrung, Mitleid, Angst. Den Wunsch, ihn zu verstehen. Den Drang, das ungeschehen zu machen, was passiert ist. Ich bin verletzlich, verletzbar.“
„Versuch es weiter. Finde mehr Worte.“
„Er ist ein Rätsel. Ein sehr dunkles Rätsel. Eines, das ich lösen möchte, das ich lösen muss. Was ist seine Krankheit, was hat er getan? Bereut er wirklich, was er mir angetan hat? Hat er David entführt? Er sagt nein und ich möchte ihm glauben. Vielleicht wird er die OP nicht überleben.“
„Stell Dir vor, er stirbt bei der Operation. Was bedeutet das für Dich?“
Lisa runzelte die Stirn „Das darf nicht passieren. Ich will mit ihm sprechen können, mich mit ihm über den Abend austauschen. Ich habe ihm heute gesagt, unsere Schicksale wären miteinander verwoben.“
„Wegen der Missbrauchs?“
„Damit hat es begonnen. Jetzt hältst Du mich für ziemlich durcheinander oder?“
„So wie Du fühlen viele – manche fangen sogar später eine Beziehung an. Hat es alles schon gegeben.“
„Das wäre dann aber wirklich krank oder?“
„Lisa – möchtest Du ihm helfen?“
Lisa begann zu weinen „Ja.“
Conny streichelte Lisa´s Hand „Das ist nicht schlimm.“
„Doch, ist es. Ich muss ihn doch hassen, ihn verachten. Es darf mich doch nicht scheren, was mit ihm ist!“
„Wer sagt das denn?“
„Meine Eltern, meine Freunde..“ Lisa warf Conny einen sehr feuchten Blich zu „Ist es nicht besser, ich sehe ihn nie wieder?“
„Lisa – hör mir zu. Du setzt Dich auf Deine Weise mit dem Thema auseinander. Es gibt in dieser Sache kein gut oder schlecht, richtig oder falsch. Du meinst, Du musst ihn sehen? Bitte. Du hast Mitleid mit ihm? Auch nichts Ungewöhnliches. Typisch für uns Frauen – und Du Lisa bist eine ganz typische Vertreterin unseres Geschlechtes. Nur – lass Dir nicht wehtun. Gib ihm nicht die Chance Dich erneut zu verletzen.“
„Ich denke immer, es ist nicht normal, dass ich ihn treffe. Und mit mir stimmt was nicht, dass da fast kein Hass mehr ist. Angst ja – mehr nicht…. Conny – ich habe ihm heute versprochen dabei zu sein, wenn er aus der OP erwacht – war das falsch?“
„Das ist für mich eher verblüffend. Er wollte das? Ich denke Lisa – er hat genau eine so gespaltene Beziehung zu Dir, wie Du zu ihm.“
„Und zu sich selbst noch viel mehr.“
„Bitte?“
„Ich glaube, er ist wirklich von sich selbst schockiert. Er hat gesagt, er habe Ekel vor sich. Er traut sich selbst nicht mehr.“
„Lisa glaubst Du, Du könntest ihm helfen?“
„Ich weiß nicht, ich hoffe es.“ Lisa sah hoch in das besorgte Gesicht ihrer Therapeutin.
„Pass auf Dich auf Lisa – und Du kannst jederzeit mit mir über Richard sprechen, hörst Du?“
„Dann soll ich seine Nähe suchen?“
„Ich werde Dir weder zu- noch abraten. Tu, was Du für richtig hältst, auch wenn andere es nicht verstehen können. Aber frage Dich immer wieder selber, warum Du etwas tust. Und ob Du es für Dich oder für ihn tust.“
„Conny – glaubst Du auch, dass er und ich ein verwobenes Schicksal haben?“
„Ich glaube, dass Du davon überzeugt bist. Und ich denke, auch er sieht das ähnlich. Mehr will ich dazu nicht sagen.“
Lisa ließ das sacken.
Conny sagte leise „Lisa – Du machst das prima. Du setzt Dich mit allem auseinander. Du lernst Dein Leben zu Leben. Tu das weiter, vertrau Dir und Deinen Entscheidungen. Überleg Dir, was Du möchtest, wirklich möchtest.“
Conny atmete tief durch „So – und nun zum privaten Teil – was zum Geier hast Du dir für ein Auto gekauft – ich musste mir den ganzen Abend technische Details anhören?!“