KAPITEL 48 – Hochzeit auf dem Lande
Richard begrüßte sie mit den Worten „Wo warst Du?“ als sie windzerzaust und leicht feucht vom Nebel ins Zimmer kam.
„Ich musste nachdenken.“
„Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Er streckte eine Hand nach ihr aus.
Lisa leistete seiner Aufforderung Folge und wollte sich zu ihm setzen, entschied sich dann aber um, umrundete das Bett und legte sich an seine gesündere Seite.
Sein Arm umschlang sie sofort und zog sie an seine Seite „Richie – Deine Rippen...“
Er brummte nur und hielt sie weiterhin fest. „Wie schlimm war es?“
Lisas Hand streichelte in Gedanken verloren seine Brust „Mir scheint, ich bin heute zur Waise geworden…“
„Deine Eltern lieben Dich doch. Sie werden schon noch einlenken…“
„Nein. Werden sie nicht.“ In Lisas Tonfall schwang Endgültigkeit mit. „Matty und Du – ihr seid jetzt meine Familie.“
Er küsste ihre Stirn. „Ja – das sind wir. Und ich hab eine nicht sehr liebevolle Mutter und eine dafür umso liebenswertere Schwester, die ich gerne mit Dir teile.“
„Mariella ist ohnehin meine Schwester – mit oder ohne Verwandtschaft. Und Sophie? Zumindest denkt sie seit Jahren an Mattys Geburtstag, an Nikolaus, Weihnachten und Ostern. Weißt Du, wie Matty sie nennt?“
„Nein?“
„Die Geschenke-Oma.“
„Hättest Du was dagegen, wenn ich sie bitten würde, Freitag dabei zu sein.“
„Nein, gar nicht.“
„Lisa?“ Seine Stimme verriet keinerlei Gefühl „Ich wollte nicht, dass Du wegen mir mit Deinen Eltern brichst.“
„Ich weiß“, Lisa rutschte etwas höher, um seine Rippen zu entlasten „aber der Bruch war schon in dem Moment, als ich nicht mehr richtig funktionierte und dann noch das Kind behalten wollte…“
„Ich bin so froh, dass Du es behalten hast.“
„Ich auch. Wo ist unser Zwerg denn eigentlich?“
„Mit Niklas Futter einkaufen. Er darf bezahlen.“
„Oh.“ Lisas Zunge wollte ihr nicht mehr richtig gehorchen. Der Tag hatte ihr einiges abverlangt. Irgendwie geschah es, dass ihr die Augen zufielen.
Was Lisa wieder weckte, war ihr erst nicht klar, was sie geweckt hatte, dann jedoch rutschte sie rasch von Richard weg. Seine Versuche, seinen Arm in eine schmerzfreiere Position zu bringen, hatten sie geweckt.
Im Zimmer war es dunkel – es musste mitten am Abend sein.
Lisa setzte sich im Bett auf ihre Unterschenkel und angelte nach der Nachttischlampe. Der kleine Lichtkreis erhellte das Zimmer sofort. Die Uhr zeigte bereits nach acht.
„Oh Richard – Du hättest mich wecken sollen… Das muss sehr unbequem für Dich gewesen sein… und Matty … und Abendbrot…und…“
Richard lachte „Ganz ruhig Liebes – mein Arm überlebt das. Eric hat vorhin kurz reingeschaut und gesagt er kümmert sich um Matty – inklusive abfüttern und ins Bett bringen. Niklas hat die Tiere versorgt. Also kein Grund zur Panik.“
„Die Lampe in Mattys Zimmer… er schläft doch in letzter Zeit nur, wenn…“
„…hab ich Eric gesagt.“
„Ich sehe eben nach ihm.“
Lisa stand auf und tappte auf Strumpfsocken in das Zimmer ihres Sohnes. Er schlief tief und fest, sein großes Stoffkaninchen fest im Arm. Und das kleine Nachtlicht brannte – es war alles in Ordnung. Matty. Sie hatte ihn die letzten Tage ein wenig vernachlässigt. Es war so viel passiert. Morgen würde sie sich ganz viel Zeit für ihn nehmen. Er hatte den schrecklichen Abend zwar besser verkraftet, als zu erwarten gewesen war – aber spurlos an ihm vorbeigegangen war die Sache nicht.
Sie warf noch einen Blick auf ihr schlafendes Kind und lief dann die Treppe hinunter in die Küche, um Abendbrot für Richard und sich selbst zu machen.
Erich hatte Matty anscheinend mit einer Nudelpfanne abgefüttert und es war jede Menge über geblieben. Lisa wärmte die Nudeln auf, tat nach kurzem Zögern eine Flasche Wein dazu, kochte aber auch noch eine Kanne Tee und schnitt ein paar Scheiben Weißbrot auf. Vielleicht nicht gerade das beste Essen für einen Kranken – dafür war sie sich sicher, dass er es mögen würde.
Sie tat alles auf ein Tablett und balancierte die Stufen wieder hoch. Mit dem Ellenbogen stieß sie die Tür auf, sagte „ich mach Licht an“ nutzte eben dieses Körperteil auch dafür.
Das Tablett stellte sie auf ihrer Bettseite ab, half Richard beim Aufsetzen und platzierte sich selbst im Schneidersitz neben ihn.
„Meinst Du Nathan erlaubt Dir Rotwein?“
Richard grinste „Soll doch sehr gesund sein…“
Nun fütterte sie abwechselnd ihn und sich selbst. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Magen sich fordernd meldete.
Richard sah wirklich viel besser aus – auch die Beweglichkeit seines linken Armes hatte deutlich zugenommen. Während des Essens entlockte Richard ihr alle Einzelheiten ihres Besuches im Elternhaus, enthielt sich aber eines Kommentars.
Sie waren fast fertig, als die Zimmertür leise geöffnet wurde. Mattias schlüpfte hindurch „Mama?“
Lisa drehte sich um „Matty – Schatz. Hast Du wieder schlecht geträumt? Komm her.“
Er kam zu ihr, erklomm das Bett und kuschelte sich an ihre Seite.
„Darf ich heute bei Euch schlafen?“
Lisa und Richard tauschten einen Blick „Klar Knirps“, sagte Richard „was hast Du denn geträumt?“
Matty vergrub das Gesicht an Lisas Seite und nuschelte „Von der bösen Frau.“
„Und was hat die böse Frau gemacht?“
Doch der Junge antwortete nicht und schüttelte nur an Lisa dran den Kopf.
„Mattias – komm mal zu mir.“
Geduldig wartete Richard, bis Matty aus dem Schutz an Lisas Seite hervorkam und vorsichtig auf seinen Vater mehr oder minder zukrabbelte. Richard streckte seinen linken Arm nach ihm aus und zog seinen Sohn an sich heran. Mit einem deutlich zu hörenden Seufzer schlang Matty einen Arm um den halb sitzenden Mann und bettete seinen Kopf auf dessen Schulter.
Richard suchte Lisas Blick „Geh ruhig ins Bad Liebes – das hier wird ein Männergespräch.“
Lisa nickte – vielleicht kam Richard wirklich besser an ihn heran.
Nachdem Lisa die Badtür hinter sich zugezogen hatte, drückte Richard seinen Sohn leicht „Hör mal Knirps. Ich muss Dir da mal was erklären. Diese Frau – die kommt nie mehr wieder.“
„Sicher?“
„Ganz sicher. Außerdem würde sie auch nie was von Dir wollen.“
„Warum nicht?“
„Weil ich es nicht will. Matty – ich beschütze Dich, hörst Du? Keiner tut Dir was. Niemand. Dafür sorge ich.“
Mattias musste das verarbeiten „Du bleibst hier?“
„Ja Matty – ich bleibe hier.“
„Und Du passt auf mich auf?“
„Ich pass auf Dich auf. Keiner darf Dir was tun.“
„Keiner?“
„Keiner! Weißt Du – ich bin Dein Papa – und Papas beschützen ihre Kinder. So ist das.“
Das Kind war eine Weile still, dann sagte Matty leise „Ich hab geträumt, die böse Frau wirft Tante Majellas Rollstuhl um. Und ich hab den Rollstuhl nicht wieder aufheben können. Und Tante Majella lag auf der Erde.“
In Richards Kehle war plötzlich ein dicker Kloß, aber er sprach gänzlich ruhig „Tante Mariella geht es gut.“ Richard warf einen Blick auf die Uhr – kurz vor neun. „Matty – siehst Du Mamas Handy da auf dem Frisiertisch – holst Du es mal her?“
Er ließ Matty Mariellas Nummer wählen und Matty hielt ihm dann das Handy ans Ohr.
„Seidel.“
„Hier ist Richie.“
„Ist was passiert? Geht es Dir gut?“
„Reg Dich bitte nicht auf. Alles ok. Matty hatte einen Alptraum und ich dachte, es wäre gut, wenn er hört, das es Dir gut geht.“
„Oh – der arme Schatz.“
„Ich lass Matty jetzt ran.“ Er nickte und Mattias nahm das Telefon ans Ohr.
„Tante Majella?“
„Ja Matty – alles klar bei Dir?“
Matty nickte und Richard sagte „Sag es laut, sie sieht nicht, dass Du nickst.“
„Mir geht es gut“, sagte Mattias gehorsam „Bist Du aus dem Rollstuhl gefallen?“
„Nein Liebling – ich sitze darin. Und Tante Laura sitzt neben mir. Wir sehen gerade Fernsehen.“
„Das Dschungelbuch?“
Mariella gluckste „So was Ähnliches.“
„Ist Onkel David auch da?“
„Ja – aber der schläft schon.“
Mattias sah Richard an „Onkel David schläft schon“, sagte er verwundert.
„Matty?“ fragte Mariella „Bist Du noch dran?“
„Ja – ich gehe jetzt auch schlafen.“
„Dann gute Nacht Schätzchen.“
Matty drückte den richtigen Knopf zum Beenden des Gespräches und sah Richard an „Tante Majella geht es gut.“
„Sag ich doch. Und weißt Du was? Auch Tante Majella wird beschützt. So wie Mama und Du.“
Mattias nickte, das leuchtete ihm ein „Kann ich trotzdem hier schlafen? Nur heute?“
„Geht klar Knirps.“
Als Lisa aus dem Badezimmer kam, schlief ihr Sohn bereits tief und friedlich. Er wurde auch nicht davon wach, dass Lisa Richard noch wusch und seinen Arm versorgte.
„Was hast Du ihm erzählt?“
„Die Wahrheit“, antwortete Richard lakonisch „Das ich ihn beschütze und er keine Angst mehr haben muss.“
„Äh Richie…“ Lisa tippte ganz leicht auf seinen Brustverband „Du weißt aber, dass Du Dich kaum rühren kannst oder?“
„Glaub mir – wenn was mit Euch sein sollte – dann kann ich mich bewegen!“ Er hob ungeduldig den Kopf „und nun bring endlich das Zeug da weg und komm ins Bett – Du siehst völlig fertig aus.“
Lisa tat genau das ohne Widerspruch, löschte das Licht und legte sich zwischen Matty und Richard. Sie drehte sich wieder auf den Bauch und schlang einen Arm um Richard und zur selben Zeit schmiegte sich Matty eng an sie an.
„Richard?“
„Hm?“
„In zwei Tagen heiraten wir…“
„Lisa?“
„Hmh?“
„Ich liebe Dich.“
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief sie ein.
Nathan kam Freitagmorgen an und zog tatsächlich die Fäden. Dann meinte er zu Lisa gewandt „Machst Du schon mal den Rippenverband ab – ich will mir das noch ansehen.“
Da Lisa sich seitlich mit dem Gesicht zu Richard hingesetzt hatte, hatte sie Nathan im Rücken.
Sie löste vorsichtig den Verband und stellte verwundert fest, dass Richard fast mit den Zähnen knirschte.
„Hab ich Dir wehgetan?“ Lisa hielt in ihrer Tätigkeit inne.
„Nein“, presste Richard hervor „DU nicht!“
Lisa drehte sich zu Nathan um und sah noch, dass dieser den Katheter in einer Tüte verschwinden ließ.
„Oh – ich verstehe. Alles noch dran?“
„Kannst ja mal nachsehen…“ Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, waren aber kein Vergleich zu ihrer Röte „Sorry Liebes – bin nur gerade nicht so sanft gestimmt...“
Nathan lachte im Hintergrund „Dafür habe ich die gute Nachricht für Dich, dass Du ab jetzt wieder selbst ins WC kannst. Lass Dir aber beim Aufstehen helfen – wegen der Rippen.“
Nathan zeigte Lisa, wie sie Richard am besten unterstützen konnte. Sie half ihm erst in eine sitzende Position, er schwang die Beine aus dem Bett, Lisa ging etwas in die Hocke und während er aufstand, erhob sie sich mit.
Sie hatte ganz vergessen, wie groß er war. Sie hatte ganze vergessen, dass es anders war, ob er lag oder stand. Und nackt war er obendrein.
„Du kannst mich jetzt loslassen“, in seiner Stimme klang Belustigung mit.
Rasch ließ sie die Arme sinken und trat von ihm zurück.
Lisa trat den Rückzug an „ich kümmere mich unten um alles.“
Als sie die Tür zuzog begegnete sie Richards Blick – er war amüsiert – definitiv!
Nathan hatte Richard nach seinem Ausflug ins Bad wieder ins Bett verfrachtet und Lisa hatte wirklich alle Hände voll zu tun.
Conny kam auch im Laufe des Vormittags. Kurz nach zwölf schickte Lisa Joseph zum Bahnhof, um Jürgen abzuholen und gegen zwei kamen bereits Niklas, Bea und der Pfarrer.
Sophie kam mit Taxi kurz vor drei – und sie brachte Mariella mit, die sich diesen Moment trotz krankem Mann und Kind nicht entgehen lassen wollte.
Zwischen Lisa und Richard hatte es eine ziemliche Diskussion gegeben, wo die Trauung stattfinden sollte und was Richard anziehen würde.
Der Kompromiss lautete schließlich, dass Joseph und Joshua ihn zur Trauung nach unten tragen würden, aber er trug keine Straßenkleidung, sondern Pyjama und darüber einen ziemlich eleganten Hausmantel.
Lisa hatte ein relativ schlichtes weißes Kleid an und die Haare offen. Nichts hätte aber so strahlen können, wie das Blau ihrer Augen.
Richard war zwar noch recht wackelig auf den Beinen, ließ sich aber – natürlich – nichts anmerken und begrüßte so charmant die Gäste, als wenn er Frack und Fliege tragen würde. Lisa hielt sich meist an seiner Seite auf, machte aber zwischendurch auch Küchenstippvisiten und händigte dem inzwischen eingetroffenen Standesbeamten die Urkundenmappe aus.
Dann war es soweit.
Es war eine kurze und schlichte Trauung. Jürgen und Mariella an Lisas Seite, Nathan an der Richards.
Ihrer beider „Ja“ klang klar und sicher und der anschließende Kuss war vielleicht ein wenig länger als üblich. Lisa sah eine Weile auf ihren neuen Namen – Elisabeth Maria von Bramberg. Das war jetzt ihr neuer Name. Er sah schön aus. Er stand für einen neuen Lebensabschnitt. Sicher.
„Darf ich auch?“ flüsterte Richard ihr ins Ohr und Lisa – bis zu den Haarwurzeln errötet - trat zur Seite und ließ auch ihn unterschreiben.
Sie stand schräg hinter ihm und sah, dass es ihm schwer fiel, sich etwas herunterzubeugen, um die Unterschrift zu leisten. Natürlich ließ er sich nichts anmerken. In ihr war plötzlich der Drang das blöde Buch hochzuheben, damit er es leichter hatte – gleichzeitig wissend, dass er das nicht wollen würde.
Lisa senkte den Blick, unfähig ihre aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Hätte ihr Jemand vor ein paar Jahren gesagt, dass ihr Beschützerinstinkt bei diesem Mann je anschlagen würde – sie hätte es nicht geglaubt. Doch jetzt müsste sie arg an sich halten, um nicht seine Hand zu ergreifen und ihn wieder ins Bett zu verfrachten – wo er eigentlich hingehörte.
Richard drehte sich um und sie hob den Blick. Die Wärme stieg so rasch in ihr hoch, dass es sie komplett überforderte. In diesem Moment begriff sie endgültig, wie viel er ihr bedeutete – und dass sie nur noch das letzte Hindernis – das in ihr selbst ruhte – bewältigen musste, um eine Verbindung zu schaffen, wie sie sie sich immer erträumt hatte.