KAPITEL 10 – Lisa geht eigene Wege
Sie gingen rasch zum Parkplatz und Mariella startete sofort den Wagen. Inzwischen kannte sie Lisa recht gut. Sie fuhr, bis sie an ein ruhiges Waldstück kamen, wo eine Parkbank zum Ausruhen einlud. Mariella stoppte den Wagen und stieg aus. Lisa tat es ihr gleich und sie setzten sich nebeneinander auf die Bank. Lisa beugte sich vornüber und nahm den Kopf zwischen die Knie. Mariella streichelte ihr sanft den Rücken, sagte aber nichts, sondern ließ der Freundin Zeit, sich zu fassen.
Schließlich setzte sich Lisa wieder aufrecht hin und atmete tief durch.
„Das war ganz ganz anders, als ich erwartet habe!“
„War es denn richtig, dass Du hingefahren bist?“
Lisa nickte „Richtig und notwendig. Bitte sei mir nicht bös´ - ich möchte derzeit nicht über das Gespräch reden.“
„Du musst gar nicht darüber reden! Nur eines: Hat Richard sich benommen?“
Lisa begriff „Du hast ihm gesagt, wie er sich verhalten soll.“
„Nur was das laut-Reden angeht, plötzliche Bewegungen und dergleichen...“
„Deshalb...“ Lisa sprach leise, wie zu sich selbst „er hat mir Sicherheit geben wollen – Sicherheit vor ihm....“
„Lisa?“
„Er hat sich anketten lassen, für das Gespräch mit mir.“
„Vielleicht machen die das da so.“
„Nein – es geschah auf seinen eigenen Wunsch.“
Lisa sprang wieder auf und begann hin und her zu wandern.
„Das macht mich noch verrückt – nichts passt zusammen!“
Sie blieb stehen „Mariella – hat Richard den gleichen Hausarzt wir Du?“
„Ja – den haben wir eigentlich alle in der Familie – Dr. Nathan Rittinghaus.“
„Gibst Du mir Adresse und Telefonnummer? – oder noch besser, magst Du für mich ein Gespräch mit ihm organisieren?“
„Ja – natürlich. Aber Lisa – was wird denn das?“
„Ich weiß noch nicht.“ ´Ich weiß es nicht Lisa- ich weiß es nicht`.
„Lisa – bitte, verrenn Dich da in nichts.“
„Bitte Mariella – lass mich. Ich muss das tun – ich weiß nicht warum – aber ich muss es tun.“
„Ok.“
Lisa schlug die Hände zusammen und wippte auf den Fußballen „Gehen wir noch was essen – ich habe so einen Hunger!“
„Meine Güte, was futterst Du in letzter Zeit!“
„Ich weiß auch nicht... Hab´ schon zu Jürgen gesagt, ist wohl der Stress.“
Als Lisa Abends in Jürgens Gastzimmer im Bett lag, ging sie das Gespräch mit Richard von Bramberg immer und immer wieder durch, bis ihr der Schädel brummte. Es war kaum für sie fassbar, was sie nicht losließ, aber in ihr war eine Stimme, die ihr immer wieder riet, am Ball zu bleiben.
Jürgen hielt es für Schwachsinn nun auch noch mit dem Arzt von ihrem Peiniger zu sprechen. Und was ihre Eltern dazu sagen würden, darüber dachte sie lieber erst gar nicht nach.
Doch – sie konnte nicht anders. Und sie nahm es als gegeben hin, dass sie weitermachen musste. Und dabei wusste sie nicht einmal genau mit was – aber es war wichtig.
Mariella hatte ein Gespräch mit Richards Hausarzt vereinbart. Sie sollte nach der regulären Sprechstunde kommen. Und mit Lisa´s Erlaubnis hatte Mariella den Arzt auch vorgewarnt wer Lisa war und was ihr geschehen war und wie Richard ins Bild passte.
Dr. Rittinghaus war eine Überraschung. Sie hatte einen älteren Herrn erwartet, aber dieser Mann war, wenn´s hochkam vierzig, eher darunter. Er war groß und schlank, blond, ein bisschen Sunnyboymäßig und unter seinem Arztkittel lugten Jeans und Turnschuhe hervor.
Er war anscheinend durch Mariella gut gedrillt worden, denn er verzichtete auf das übliche Händeschütteln und hielt immer einen angenehmen Abstand zu ihr.
Als er ihr einen Platz und etwas zu trinken angeboten hatte, meinte er zu Beginn des Gespräches „Ich muss Ihnen gleich etwas vorweg sagen – auch wenn Richard von Bramberg ein Verurteilter ist, so unterliege ich doch der Schweigepflicht. Zudem sind Richard und ich seit unserer Schulzeit befreundet – es ist mir immer noch völlig unbegreiflich, was da geschehen ist.“
Lisa nickte und atmete tief durch „Lassen Sie mich bitte eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte mit vielen Details – und alle medizinischen Aspekte dieser Geschichte möchte ich Sie bitten besonders gut anzuhören.“
Der Arzt sah etwas erstaunt aus, lehnte sich dann aber entspannt zurück und wartete, dass Lisa begann.
„Stört es Sie, wenn ich dabei durch das Zimmer wandere?“
„Bitte, bitte.“
„Da ist ein Mann. Gutaussehend, vermögend, die Frauen mögen ihn. Er hat alles, was er möchte. Dann wird er verhaftet unter dem Verdacht der Entführung seines Bruders, kommt aber aus Mangel an Beweisen frei. Er geht zur Kirche, wo eben dieser Bruder gerade seine Schwester heiratet und sieht, dass die Ex des Bräutigams auch da ist. Er geht ihr nach und vergewaltigt sie. Ohne wenn und aber – ohne Gnade. Einfach so. Alles Flehen der Frau, alle Gegenwehr missachtet er komplett – so als käme das gar nicht bei ihm an. Er ist grob, er tut ihr weh – er kennt nur sein Ziel – seinen Trieb.“
Lisa sah hinaus aus dem Fenster und der Arzt war sich sicher, dass sie da etwas ganz anderes sah.
„Dann schlägt seine Stimmung komplett um. Es ist, als ob er erst jetzt erkennt, was er getan hat. Er sagt ein Dutzend Mal, wie leid es ihm tut. Er zieht sie wieder an. Er trägt sie in Sicherheit, Sicherheit vor ihm. Damit nicht genug. Er fragt seine Schwester, wie es der Frau ginge. Er stellt sich selbst. In der Verhandlung gibt er alles zu, verhält sich aber so, dass ein hohes Strafmaß ihm gewiss ist.“
Lisa sah Dr. Rittinghaus an “Passt das bisher für Sie zusammen?”
„Ein Blackout vielleicht?“
Sie nahm ihre Wanderung wieder auf. „Die Frau besucht in im Gefängnis. Er hat keine Einwände. Ist komplett offen zu ihr – zumindest wirkt es so. Er weiß, was er getan hat, aber nicht warum. Er entschuldigt sich bei ihr. Er lässt sich anketten, um ihr keine Angst zu machen. Und dann noch die Kleinigkeiten, die so furchtbar irritieren: Er scheint etwas zu humpeln, ist etwas ungeschickt beim Hinsetzen, so als wäre die Motorik nicht ganz in Ordnung. Seine Finger sind ständig in Bewegung, obwohl er Jemand ist, der sonst so viel Wert auf sein Pokerface legt. Seine Stirn schmerzt, er klagt über Kopfschmerzen und er scheint seinen eigenen Emotionen und Wahrnehmungen nicht mehr zu trauen, sich selbst nicht mehr zu trauen. Seine rechte Pupille ist größer als seine linke...“
„Entschuldigen Sie – das alles haben Sie wahrgenommen?“
Lisa zuckte die Schultern „Seit diesem Abend scheine ich viel mehr wahrzunehmen als zuvor...“
„Bevor Sie weiterreden. Richard stimmt einer Untersuchung seines Kopfes nicht zu.“
„Ich weiß – er sagte es mir. Aber ich möchte von Ihnen wissen – fantasiere ich mir da etwas zusammen? Ist da der Wunsch Vater des Gedankens? Mache ich aus einem Verbrecher gerade ein Opfer, um es mir leichter zu machen? Oder gehöre ich gar selbst in Behandlung wegen meiner Aktionen?“
Dr. Rittinghaus deutete mit einer Hand zum Stuhl und Lisa setzte sich wieder. Offen und ehrlich begegnete sie seinem Blick.
„Zum einen – ob Sie da überreagieren, kann ich nicht beurteilen. Das ist eher das Gebiet meiner Frau… Auf mich wirken Sie völlig normal.“
„Ihre Frau ist Psychologin?“
„Ja.“
„Im Krankenhaus hatte ich Gespräche mit einer, aber die war mir so unsympathisch – da ging gar nichts!“
„Wenn Sie wollen, mache ich Sie nachher mit ihr bekannt – wir haben unsere Praxen nebeneinander.“
„Ich denke, ich werde darauf zurückkommen.“
„Ich weiß - zurück zum Thema – ihr Frauen seid da alle gleich… Die Symptome, die sie da beschreiben könnten sicherlich auf eine Gesundheitsstörung hindeuten, sie könnten aber auch einfach mit dem Stress der Verhandlung und dem Gefängnisaufenthalt zusammen hängen. Ohne genaue Untersuchungen, ist das nur eine Spekulation ins Blaue hinein.“
Lisa nickte und sah auf ihre Finger „Würden Sie noch einmal mit ihm reden?“
Der Arzt beugte sich etwas vor und Lisa bewegte sich automatisch etwas zurück. „Das kann ich tun – aber warum liegt Ihnen so viel daran?“
„Ich weiß es nicht. Aber es ist wie ein Zwang, dass ich weiter forschen muss. Vielleicht muss ich einfach für mich selbst eine plausible Erklärung der Ereignisse finden. Aber wahrscheinlich gibt es die gar nicht….“
„Ich spreche mit Richard, aber große Hoffnung habe ich nicht. Darf ich Ihren Namen erwähnen?“
Lisa nickte und erhob sich „Danke – wenn es Ihnen wirklich ernst war, würde ich jetzt gerne Ihre Frau kennenlernen.“
Dr. Rittinghaus geleitete Lisa über den Flur zur nächsten Praxistür „Conny – bist Du da?“
„Können wir endlich essen gehen?“ Eine Frau kam aus einem der Zimmer. Die Praxis war zur Zeit definitiv nicht in Betrieb – es war Mittagszeit.
„Oh - ich habe Sie von Ihrer Mittagspause abgehalten!“ Lisa lief dunkelrot an.
„Ach was. Das ist meine Frau Dr. Cornelia Rittinghaus. Conny – das ist Elisabeth Plenske.“
„Upps – toller Einstand. Sehr erfreut Frau Plenske.“
Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. Was Lisa sah, gefiel ihr. Conny Rittinghaus zog sich sehr sportlich an, war ziemlich groß und dabei recht knochig. Eigentlich hübsch war sie nicht, aber sie wirkte sehr gepflegt und dabei leger. Eine Frau, die Souveränität ausstrahlte.
Lisa machte mit ihr einen Termin in zwei Tagen aus und verabschiedete sich.
Zurück nahm sie wieder ein Taxi. Auf der Fahrt gen Jürgens Wohnung kamen Sie an einem Gebrauchtwagenhändler vorbei. Lisa kannte sich selbst nicht mehr, als sie den Taxifahrer ansprach (ein Herr, recht beleibt, im Alter, das er ihr Großvater hätte sein können). „Entschuldigen Sie die dumme Frage – kennen Sie sich mit Gebrauchtwagen aus?“
„Na – das will ich wohl meinen, nach 38 Jahren Taxifahren!“
„Wenn ich Sie dafür bezahle – würden Sie mir helfen ein Auto auszusuchen?“ Lisa! Lisa – was machst Du denn da??? Zu spät! Der Taxifahrer strahlte sie an „Aber gerne – kenne da einen Händler, der ist ganz cocha!“
Zwanzig Minuten später schlenderte Lisa mit Taxifahrer und Gebrauchtwagenhändler durch lange Autoreihen. „Was möchten Sie denn genau haben?“
Lisa überlegte „Hmh – etwas, in dem ich Platz habe, etwas Sicheres, muss nicht neu sein, aber sehr zuverlässig. Automatik wäre nett und…“ Lisa brach ab und ihre Augen wurden größer.
Die beiden Männer tauschten einen Blick – „Jetzt isses passiert. Na Schätzchen – welches Auto haste jetzt gesehen?“
Doch Lisa ging schon zügig drauf zu. Beide Männer lachten so sehr, dass sich der Taxifahrer sogar auf die Schenkel schlug. „Mädel – dat Auto is älter Du selbst! Das ist ein Oldtimer! Gustav – wie alt ist der?“
„Ich hol mal die Papiere. Den hab ich erst seit heute Morgen – aus einer Sammlerauflösung – der Mann brauchte Geld!“
Lisa strich sachte über das polierte Blech, fuhr die geschwungenen Formen nach und strahlte. „Aber fahren tut der doch oder?“
Der Taxifahrer sah auf das Armaturenbrett „Der hat die letzten 345 TKm gefahren, der tut das auch weiter… Aber liebes Mädchen – wollen Sie sich nicht was Neueres aussuchen? Da so´n Golf oder so?“
Vergebens – Lisa stand wie gebannt vor dem großen gelblichen Wagen. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, was für ein Auto sie je haben wollte. Bisher hatte sie aber auch noch nie Schwierigkeiten gehabt in S-Bahnen zu fahren….
Der Verkäufer kam wieder „Also Baujahr 1972, die Farbe nennt sich lindgelb, Automatik hat er – als einer der ersten sozusagen… hat auf einigen Autoschauen mitgemacht – falls sie das interessiert…“
„Ist der sicher? Ich meine, fährt der zuverlässig?“
„Wollen Sie den ollen alten Benz beleidigen? Die fahren bis se auseinanderfallen…“
Lisa strahlte noch mehr. Sie tat etwas kolossal Verrücktes. Sie fand es wunderbar.
Der Taxifahrer machte mit ihr eine Probefahrt und inspizierte den Motor.
Lisa sprach den Händler an „Ich möchte, dass sie den noch mal ganz genau durchchecken. Er muss sicher sein. Mich zuverlässig von A nach B bringen.“
„Also wenn es auf ein paar Euros mehr nicht ankommt, würde ich Ihnen noch nachträglich ein Navi einbauen, Alarmanlage und Airback…“
„Machen Sie das!“
Dann feilschten Händler und Taxifahrer über den Preis und Lisa unterschrieb den Kaufvertrag.
Mit einem breiten Grinsen betrat sie den Kiosk von Jürgen. Da dieser gerade keine Kundschaft hatte, fragte er sofort „Was hast Du ausgefressen Liselotte?“
„Ich habe mir ein Auto gekauft!“
„Na Glückwunsch – das doch nichts Schlimmes.“
„Einen Benz 280 SE, Baujahr 1972 in lindgelb!“
„Ach Du meine Fresse… Bist Du komplett übergeschnappt?“
„Ja – und mir egal. Er ist groß und wirkt furchtbar sicher. Er ist ganz bauchig und geschwungen und hat eine allerliebste Schnauze!“
„Sprechen wir noch von einem Auto?“
„Freitag kann ich ihn abholen, gleich nachdem ich bei der Psychologin war!“
Und damit ließ sie einen komplett verwirrten Jürgen im Laden stehen, der ihr mit offenem Mund hinterher starrte und ging nach hinten durch in seine Wohnung.