KAPITEL 29 - Waffenstillstand
Richard machte zunächst einen Schritt auf Lisa zu, besann sich dann aber eines Besseren. Er wandte sich zu Jürgen um „Können Sie sie anfassen?“
„Ich denke schon.“
Richard´s Stimme klang recht scharf „Und worauf warten Sie dann noch?!“
Jürgen starrte Richard einen Augenblick mit seltsamem Gesichtsausdruck an, dann ging er zu Lisa und nahm sie behutsam in die Arme „Hey Lieselotte – ist doch gar nicht gesagt, dass wir mit dieser Theorie so richtig liegen. Kann ja auch alles ganz anders sein oder tatsächlich waren einige Unfälle...“
Lisa erwiderte zwar die Umarmung, schniefte aber „Das glaubst Du doch selbst nicht oder?“
Jürgen streichelte etwas unbeholfen ihre Schulter.
Lisa sah an Jürgen vorbei zu Richard „Und das Geld, das B-Style überwiesen wurde – was sollte das?“
Jürgen war es, der antwortete „Na – das lenkt den Verdacht doch wunderbar auf Deinen Freund hier! Oder zumindest auf die Bramberg Seite...“
„Und das Pony – warum sollte Jemand ein Pony verletzten wollen? Das erbt ja nun mal bestimmt nichts!“
„Nein“ – diesmal war es Richard, der sich einschaltete „aber es sollte wohl eine Warnung für Dich sein. Eine Warnung, dass es nicht gut ist, wenn ich hier bin.“
„Jetzt fang aber bitte nicht wieder an, dass Du weggehen musst! Ich will das nicht!“ Lisa begann wieder zu weinen und Jürgen sah jetzt direkt in Richards Augen „Ich halte das auch für keine gute Idee!“
„Wie bitte?“ Richards undurchsichtige Miene wurde durch Jürgens Bemerkung aufgelöst. Er sah ziemlich verblüfft aus.
„Nun“, fuhr Jürgen fort „Fakt ist, wären Sie nicht gewesen, hätte der Hund Lisa oder Matty verletzt oder gar getötet. Und so verrückt, den Hund auf sich selbst zu hetzten – für so verrückt halte ich nicht einmal Sie! Ich denke Sie sind unserem Briefeschreiber eine ganz schöne Laus im Pelz!“
Richard sah unentschlossen aus. Erst als Lisa leise „Bitte Richard“ sagte, nickte er zustimmend.
Jürgen ließ Lisa los, da sie sich etwas beruhigt hatte, stellte sich vor Richard und streckte ihm die Hand entgegen „Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich Sie besonders gut leiden kann. Aber Lisa tut es – und obwohl ich denke, Sie sind der letzte Mensch, der ihr helfen könnte, tun Sie es dennoch. Frieden?“
Richard ergriff die dargebotene Hand „Hatten wir Krieg?“ Dann setzte er hinzu „Richard.“
Jürgen nickte „Jürgen.“
„Setzen wir uns wieder? Wir müssen noch besprechen, wie es weiter gehen soll.“
Lisa und Jürgen nickten zustimmend und alle setzten sich wieder auf das Sofa.
Jürgen spielte gedankenverloren mit der Plastikhülle, die den zweiten Schmierbrief schützte. „Die Polizei sollte den mal untersuchen.“
Lisa nickte „Ich geb den Montag unserem Dorfsheriff...“
„Gut, dann werde ich mich um die freien Kerima Anteile kümmern.“
Richard setzte hinzu „Dann können wir den Kollmann auch gleich fragen, ob er was wegen dem Hund rausgebraten hat. Sonst versuche ich mal über die Hundevereine oder Züchter was raus zu finden. Vielleicht kann ich eine Suchanzeige ins Internet bringen...“
„David und Mariella“, sagte Lisa plötzlich „wir sollten sie warnen.“
Jürgen räusperte sich „Und wenn einer von beiden oder beide dahinter stecken?“
Lisa schüttelte heftig den Kopf „Nein – das glaub ich nicht – das will ich nicht glauben!“
„Schon gut Lisa“, meinte Richard beschwichtigend „Ruf die beiden an. Vielleicht können die beiden herkommen, damit wir alles zusammen bereden können.“ Er rieb sich die Stirn, als wäre da einfach zuviel drin, was bedacht werden müsse „wobei ich natürlich nicht weiß, ob David kommt, wenn er weiß, dass ich hier bin. Oder er kommt nur, um mich in Schimpf und Schande davon zu jagen...“
Lisa sah blicklos an die gegenüberliegende Wand „Ich rufe David an – ich denke, er hat ein Recht zu erfahren, was hier vor sich geht!“
Richard erhob sich, nickte den beiden zu und wünschte gute Nacht. „Lisa – Du vergisst nicht…?“
Er ließ den Satz unvollständig – aber Lisa hatte begriffen. Sie nickte. Ja – sie würde ihn des Nachts wieder einsperren – obwohl ihr das mehr und mehr gegen den Strich ging.
Jürgen wartete, bis Richard sicher außer Hörweite war „Ihr seid schon ein sehr seltsames Paar, weißt Du das? Aber ihr macht fast den Eindruck, als wäret ihr eines…“
Lisa sah angelegentlich in ihren Teebecher „Jürgen – ich wünschte, ich könnte mit irgendeinem Mann so etwas wie ein Paar werden.“
„Du weißt, wie ich das meine! Weich nicht aus, Lisa.“
Lisa begegnete ohne zu zögern Jürgens Blick.
„Ok – ein paar offene Worte? Richard ist mir nicht gleichgültig – das stimmt. Gleichzeitig aber, ist er so undurchsichtig, dass ich nicht weiß, was ich von ihm halten soll. Dazu kommt dieser ganze widerwärtige und beängstigende Kram mit den Anschlägen und den Briefen… Ergo – ich weiß, das da was entstehen könnte – aber weder will ich es derzeit zulassen, noch denke ich, dass jetzt die Zeit dafür ist.“
Zu ihrer Überraschung lachte Jürgen etwas mitleidig auf „Lieselotte – ich glaube, Du sitzt schon viel mehr unter seinem Baum, als Du selber weißt. Und Richard… also gleichgültig bist Du ihm nicht.“
„Na – aber das kann man jetzt auch so oder so auslegen…“
Als Lisa später – es war schon nach Mitternacht – zu Richard´s Tür ging, klopfte sie leise und öffnete. Die Nachttischlampe brannte und das Bett war noch leer. Wie sie es sich gedacht hatte: Er erlaubte sich selbst nicht schlafen zu gehen, bevor er nicht sicher war, dass die Tür verriegelt war.
„Gute Nacht Richard.“
„´Nacht Lisa.“
Sie zog die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel herum und zog ihn wie jeden Abend ab. Sie starrte den Schlüssel in ihrer Hand an. Es erschien ihr immer weniger richtig, das zu tun.
Lisa brachte Jürgen am nächsten Tag wieder zum Bahnhof und diesmal begleitete Matty sie. Auf dem Bahnsteig umarmte Jürgen sie noch einmal. „Pass auf Dich auf, ja? Das Ganze ist mir immer weniger geheuer! Ich will nicht, dass Dir was passiert!“
Lisa erwiderte die Umarmung „Ich pass auf, so gut ich kann. Rufst Du an, wenn Du etwas Neues hast?“
„Aber klar!“
„Onkel Jürgen?“ Mattias zupfte recht kräftig an Jürgens Hosenbein.
Jürgen ließ Lisa los, bückte sich und hob Plenske Junior hoch „Was ist Zwerg?“
„Du nennst Papa jetzt auch Richard.“
„Gut bemerkt.“
„Heißt das, ihr seid jetzt Freunde?“
Jürgen zögerte „So was in der Art. Zumindest sind wir beide Freunde von Deiner Mutter!“
Damit gab sich Mattias zufrieden und unterhielt Lisa auf dem Rückweg über die Lebensweise der Delphine…
„Schatz – woher weißt Du denn das alles?“
„Papa hat mir eine DVD über Delphine gekauft und neulich haben wir im PC nach ihnen gesucht.“
„So – habt ihr das?“
„Ja – Papa sagt, selbst die Badeanstalt wäre zu klein für die.“ Er klang nun recht traurig „Und er hat gesagt, das wäre so, als ob ich das ganze Jahr über nur in der Badewanne liegen müsste.“
´Hut ab Richard – das war ein Meisterschlag` - Lisa wartete auf weitere Enthüllungen von Mattias. Und sie kamen.
„Papa sagt, Delphine als Haustiere zu haben, wäre ganz schön schwierig und wir hätten nicht genug Platz für die.“
Matty sah noch bedrückter drein, aber der unbändige Schalk stahl sich wieder durch „Aber Kaninchen brauchen doch nicht soviel Platz oder?“
´Papa sagt` - diesen Satz hatte Lisa in den letzten Tagen ziemlich häufig gehört. Wieder einmal drückte Lisa die Zukunft schwer. Was, wenn Richard wieder seiner eigenen Wege ginge? Wie würde Matty das verkraften? War es gut gewesen Vater und Sohn einander kennen lernen zu lassen? Und wie würde es ihr selbst ergehen, wenn Richard ginge? Beim letzten Gedanken wurde ihr ganz flau im Magen.
Lisa setzte Matty bei Bea und Nathan ab, da er mit deren Kindern spielen wollte. Sie zog allerdings die beiden soweit ins Vertrauen, dass sie ihnen sagte, dass Matty eventuell in Gefahr sei. Sie versprachen gut auf Matty aufzupassen.
Wieder auf dem Hof, fand sie Richard in der Sonne auf der Terrasse sitzend vor. Er war mit seinem Arm immer noch recht gehandicapt, auch wenn es täglich besser ging. Vor ihm auf dem Tisch waren eine Menge Papiere ausgebreitet und er war dabei, diese in irgendeiner Weise zu bearbeiten.
Lisa ging an ihm vorbei und fragte „Ich hol mir ein Wasser – möchtest Du auch was?“
„Wasser ist gut…“ Er sah nicht einmal von den Blättern auf.
Aus der Küche zurück, setzte sich Lisa neben ihn und reichte ihm das Glas.
„Danke“ – er stellte es beiseite „Sieh mal – die Idee spukt schon des Längeren in meinem Kopf rum…“
Lisa sah im ersten Moment nur eine Unmenge Notizen und Skizzen. Es waren Zeichnungen des Hofes und der Umgebung. Farblich gekennzeichnet, mit Pfeilen und Notizen versehen – Lisa blickte nicht ganz durch. „Was ist das alles?“
Richard grinste sie an „Pläne für einen Natur – oder Streichelzoo.“
„Wie bitte?“ Lisa ergriff eine der Skizzen und Richard begann zu erläutern.
„Hier - Du hast die große Scheune und zwei große Ställe als Gebäude. Dazu die fünf Hektar Land. Platz genug, um einige Tiere zu beherbergen. Nette Tiere – ohne Tentakeln oder Stacheln…“
Er ergriff eine kleinere Zeichnung. „Die Scheune können wir teilen – eine Hälfte, um das Tierfutter unterzubringen, eine um Schulklassen bei Regen unterzubringen. Ich dachte hierein auch die Kaninchen und Meerschweinchen zu setzen – mit Außengehege, natürlich.“
„Richard! Stopp! Moment – das geht mir alles zu schnell. Tiere, Schulklassen, Gehege…Du meinst, das Ganze soll so eine Art Erlebnispark für Schulkinder werden?“
„Überleg doch mal – Niklas ist eigentlich Förster von Beruf und sein Hof bringt wenig ein. Und Bea, als gelernte Biologielehrerin kann hier was beisteuern. Schulklassen, Eltern mit Kindern, Seniorenbusse oder die ganz normalen Wochenendausflügler. Alles ist möglich. Bea kann die Kinder rumführen oder Niklas oder beide. Die Kühe von Niklas können mitintegriert werden. Die Kälbchen zum Anfassen. Und neulich sagte er erst, er hätte zwei, drei ganz liebe Milchkühe, die er jetzt bald schlachten müsse, da sie nicht mehr genug Milch bringen. Aber hier – als Anschauungsobjekte und für Melkversuche wären sie doch prima. Niklas hat mir erzählt, dass die Auffangstation für Rotwild aus allen Nähten platzt – da könntest Du zahme Rehe herbekommen, die zu menschenbezogen sind, als dass sie je wieder ausgewildert werden könnten. Kaninchen und Meerschweine gibt Dir jedes Tierheim gerne in Hülle und Fülle ab, wenn Du sagst wofür…“
Lisa starrte Richard an, als wären ihm plötzlich Hörner gewachsen.
„Lisa? Alles ok?“
„Ich fühle mich gerade ein bisschen überrumpelt, überfahren, zu Boden getrampelt… Mit wie vielen Leuten hast Du das denn schon besprochen?“
„Mit Niemanden natürlich! Wo denkst Du hin? Hab nur in letzter Zeit meine Ohren weit aufgemacht – hatte ja wenig anderes zu tun... Die Leute hier sind alle finanziell nicht gerade rosig dran. Du würdest bestimmt reichlich Anfragen bekommen wegen Souvenirläden oder Kiosk-Betrieb oder einem kleines Restaurant. Es könnten Kurse gegeben werden – wie gehe ich mit Tieren um, wie mache ich Butter oder weiß der Geier was.“
Lisa ließ das Ganze erst mal sacken und sah hinaus auf ihre wunderschöne einsame Landschaft. Wollte sie Touristen hier haben? Kinder? Viel Betrieb? Aber auch jede Menge Tiere, Nachbarn…
Richard hatte Recht – das Dorfchen hatte keine große Attraktion zu bieten – eine Art von heimischen Zoo könnte die Städter anlocken und mit ihnen auch ihr Bedürfnis nach Erholung, Essen, Schlafen…
Richard unterbrach sie nicht in ihren Überlegungen, sondern sah ebenfalls auf die Wiesen.
„Ok – weiter!“ sagte Lisa entschlossen „erläuter mir, was Du schon ausgetüftelt hast.“
Und Lisa staunte nicht schlecht. Seine Überlegungen reichten von Öffnungszeiten, Tierarten, zusätzliche Geldeinnahmequellen, wie z.B. Verkauf von ländlichen Erzeugnissen („Du könntest Marktstände vermieten oder Prozente am Verkauf der Waren bekommen“). Er sprach von staatlicher Förderung seitens Bildung und Försterei, Anlegen eines Teiches, Streichel-Rundgang und vielem mehr.
„Du könntest die Shetties decken lassen – es könnte eine ganze Shetty Herde werden. Niklas könnte die einfahren und dann könnte man in kleinen Kutschen hier rum fahren und die kleineren Kinder könnten die auch reiten...“
Lisa stieg mit ein „Ziegen, Rehe, Schafe – alle in Herden gehalten und die Menschen können zu ihnen und sie streicheln. Wir könnten eine Art von Parcour für Schweine aufbauen – welches Kind sein Schwein am besten durchbringt bekommt einen Preis. Das Futter für die Tiere können die Leute kaufen und als Leckerchen verfüttern – da hab ich als Kind immer am liebsten gemacht… Der Hof hinter Bea und Niklas züchtet Schafe – die Lämmer könnten hier groß werden und die Menschen erfreuen.“ Lisa begann zu strahlen „Umgang mit den Tieren: Kühe putzen, mit den Shetties Land umpflügen, vielleicht sogar was anbauen…Richard – wie bist Du nur auf so einen Gedanken gekommen? Das ist doch sicher nicht so Dein Ding…“
„Nein – aber Deines…“ sagte er leise.
Lisa sah ihn an „Du kennst mich schon recht gut… aber das wird alles recht groß…“
„Wie groß, entscheidest Du.“
Das war es eigentlich nicht, was Lisa hatte sagen wollen. Als Richard erzählt hatte, hatte sie sich mit ihm zusammen hier alles aufbauen sehen. Nun war sie wieder unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Dies war immer noch Richard – der Geschäftsmann – der so eine Idee zwar aus dem Hut zaubern konnte und vielleicht noch bei der Umsetzung half – aber der bestimmt nicht diesen Traum mitleben wollte. Für ihn wäre es dann wohl eher ein Alptraum…
Lisa stand rasch auf „Ich denk darüber nach…“ Sie ging ins Haus, nahm den gerade aufgestandenen Tiger auf den Arm, den sie mitten in seinen Dehn- und Streckübungen unterbrochen hatte und verkroch sich ins Wohnzimmer.
Lisa – was machst Du nur? Erst himmelst du David so lange an und der heiratet eine andere und jetzt – um es noch schlimmer zu machen – planst Du in Gedanken eine Zukunft mit einem potentiellen Schwerverbrecher. Er ist unschuldig, was diese mysteriösen Vorfälle angeht, schrie eine Stimme in ihr, während eine andere ihr leise ins Ohr wisperte, dass er auch ein Meister der Tarnung sein konnte.
Es konnte sein, dass die Vergewaltigung zum Großteil seiner Krankheit zuzuschreiben war, es konnte aber auch sein, dass er noch viel bösartiger war, als sie befürchtete.
Und doch…
…traute sie ihm immer mehr.
Und doch…
…genoss sie seine Gesellschaft.
Und doch…
…wünschte sie sich endlich wieder richtig Frau sein zu können und herausfinden zu können, ob da etwas zwischen ihnen war oder nicht.
Und doch…
… malte sie sich eine Zukunft mit ihm aus, wohl wissend, dass das nicht seine Welt sein konnte.
Tigers Fell wurde nass und nässer und Bernsteinaugen blinzelten ihr liebevoll zu, während das eintönige Brumm-Geräusch seltsam tröstlich war.
Lisa kraulte ihren Vierbeiner unter dem Kinn „Was meinst Du Kater? Ist Lisa Plenske mal wieder dabei, eine riesengroße Dummheit zu machen?“