KAPITEL 6 – Mariella
Mariella sah zu den beiden Ärztinnen „Wieso ich – wieso schließt sie sich so an mich an? Wir kennen uns kaum. Ich habe den Mann geheiratet, den sie liebt...“
Die Psychologin setzte sich ihr gegenüber „Sie waren da, als sie Niemanden hatte. Aus irgendeinem Grund sind Sie zur Zeit die Einzige, die sie an sich ranlässt. Das muss nicht so bleiben. Wenn sie wieder ganz klar ist, weiß man nicht, wie sie dann reagiert. Aber derzeit sind sie ihre Verbindung nach außen.“
Mariella senkte den Kopf „Ich habe Angst etwas falsch zu machen.“
„Bisher haben Sie goldrichtig gehandelt. Handeln Sie einfach weiter nach ihrem Instinkt. Vielleicht ist sie beim nächsten Aufwachen schon viel mehr bei sich.“
Mariella holte tief Luft „Ich sage eben nur meinem Mann Bescheid, dass ich hierbleibe. Ich komme gleich wieder.“
„Lassen Sie sich ruhig Zeit, vor 4-5 Stunden wacht sie nicht wieder auf.“
Dr. Vidras sah Mariella nachdenklich an „Sagen Sie – Sie waren doch Gestern im Brautkleid – sollten Sie nicht eigentlich in den Flitterwochen sein?“
„Die haben mein Mann und ich storniert. Lisa geht vor.“ Sie stand auf und verließ das Zimmer.
David saß draußen auf dem Gang des Korridors und hatte den Kopf rückwärts an die Wand gelehnt. Als er die Tür klappen hörte, stand er sofort auf und kam ihr entgegen.
Mariella schlang ihre Arme um ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust.
„War´s schlimm Liebling?“
„Lisa ist komplett durcheinander. Es war furchtbar. Aber sie hat Richards Namen wiederholt. Ich muss davon ausgehen, das er es wirklich getan hat!“
David schwieg zu diesem Punkt. Mariella hatte auf ein Wunder gehofft, das ihren Bruder entlastete. Vergeblich gehofft. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Komm, lass uns gehen.“
„Nein, David. Ich bleibe hier – ich will bei Lisa sein, wenn sie wieder aufwacht.“
„Dann bleibe ich auch.“
„Nein, geh nur. Du kannst hier doch nicht helfen. Könntest Du nicht kurz zu Jürgen fahren und ihm alles erzählen?“
David zögerte kurz „ok – mach ich. Aber Du rufst sofort an, wenn was ist, ja?“
„Versprochen.“
Mariella sprach noch kurz mit Dr. Vidras, dann holte sie sich aus der Krankenhauscaféteria einen Kaffee und ein Croissant und ging damit in die zum Komplex gehörenden Grünanlagen. Sie setzte sich auf eine der Parkbänke und warf einen Blick auf die Uhr. Noch konnte Lisa nicht wieder wach werden, sie konnte noch bleiben.
Sie gestattete sich kurz die Augen zu schließen und sich die Sonne auf das Gesicht scheinen zu lassen.
„Mariella?“
Sie zuckte zusammen und sah hoch. Im Gegenlicht stand vor ihr…
„Richard? Was zum Teufel machst Du hier?“
Er setzte sich neben sie und sah sie mit einem undefinierbaren Ausdruck an „Wie geht es Lisa?“
„Das wagst Du noch zu fragen?!“ Mariella starrte ihren Bruder entsetzt an. Da saß er hier neben ihr auf der Parkbank und ein paar Hundert Meter weiter war das unglückliche Menschenkind, dessen Leben er ruiniert hatte. Er sah müde aus, dasHaaH
Haar nicht gegelt, sondern zerstrubbelt und die Bartstoppeln verbargen nicht die tiefen Kratzer, die Lisa´s Fingernägel gerissen hatten.
Er sah ihr in die Augen „Wie geht es Lisa?!“
„Schlecht, sehr schlecht! Und alle Welt sucht Dich! Richard – wie konntest Du das tun?!“
Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.“
„Du weißt nicht mehr, was Du getan hast?“
„Doch – aber nicht, wie es dazu kommen konnte. Mariella – ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig sein könnte. Und dann noch dieses halbe Kind!“
„Aber Du hast es getan.“
Richard verbarg sein Gesicht in den Händen und nickte. „Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen – aber ich kann es nicht!“
„Richard – wieso? Ich kann es nicht glauben.“
„Da sind wir schon zwei. Hör zu Mariella - ich werde mich in den nächsten Stunden stellen. Hab vorher noch einiges zu regeln – aber Du kannst der Polizei sagen, vor zwanzig Uhr habe ich mich selbst angezeigt und gestellt.“
Er erhob sich rasch, bohrte die Hände in seine Jackentaschen, dann beugte er sich kurz zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. Mit raschen Schritten war er zwischen den Bäumen verschwunden.
„Sag ihr, es tut mir leid.“
Hatte er wirklich eben noch gesagt, als er sich bereits umgedreht hatte.
Das musste sie erst mal verdauen. Ihr Bruder ein Triebtäter. Und er war seltsam gewesen. Er konnte selbst nicht glauben, was er getan hatte und wusste doch, dass er schuldig war?
Sie zückte die Karte, die ihr einer der Beamten Gestern gegeben hatte und teilte mit, das Richard hier gewesen war, aber schon wieder weg und dass er sich selbst stellen wollte.
Mariella blieb noch lange sitzen – in Gedanken weit in der Vergangenheit. Ihr großer Bruder, ihr Beschützer – was war nur geschehen?
Schließlich raffte sie sich auf und ging zurück ins Gebäude, sie betrat leise Lisa´s Zimmer, zog sich einen der Stühle heran und setzte sich dicht neben das Bett. Meine Güte, sah sie jung und verletzlich aus und ohne Brille… Die Brille. Obwohl im Krankenhaus verboten schickte sie David noch rasch eine SMS, dass er bei Lisa´s Eltern eine Ersatzbrille besorgen sollte. Dann stellte sie das Handy aus und richtete sich auf langes Warten ein.
Was sie letztendlich aus ihrem Halbschlaf geweckt hatte, wusste sie nicht, aber Lisa begann sich zu regen. Ihr Schlaf wurde zunehmend unruhiger. Mariella dachte nicht weiter nach, sondern setzte sich auf das Bett und nahm die Hand des Mädchens. Des Mädchens, das gerade mal vier Jahre jünger war als sie selbst.
„Wo bin ich?“
Himmel, das hörte sich fast klar an „Im Krankenhaus.“
„Mariella?“
„Ja – möchtest Du, dass ich Deine Mutter anrufe? Oder soll Jürgen oder David kommen?“
„Nein.“ Lisa blickte mit großen offenen Augen zur Decke „Meine Brille?“
„David fährt zu Deinen Eltern und holt Dir Deine Ersatzbrille.“
Lisa nickte leicht. Dann drückte sie zu Mariellas Überraschung ihre Hand. „Es war kein Traum oder? Es ist wirklich passiert…“
„Ja Lisa.“
Lisa schloss die Augen und sie sagte eine ganze Weile gar nichts. Auch Mariella schwieg und wartete, hoffte, bangte, dass Lisa sich nicht wieder in ihr Schneckenhaus zurückzog.
„Danke.“
„Wofür denn?“
„Du warst die ganze Zeit bei mir nicht war?“
„Nicht die ganze Zeit..“ Mariella streichelte Lisa´s Arm „Kann ich irgendetwas für Dich tun?“
„Ich möchte auf die Toilette und ich möchte duschen.“
„Ich frage die Schwester.“ Als Mariella sich erhob, fiel es Lisa sehr schwer die Hand der anderen Frau loszulassen. Doch sie tat es.
Mariella kam wenig später mit Frau Dr. Vidras zurück. Sie fühlte Lisa den Puls und sah ihr in die Augen. „Sie wollen aufstehen?“
„Bitte – ich möchte mich saubermachen!“
Die Ärztin zögerte.
„Ich bleibe bei ihr, die ganze Zeit.“
„Nun gut.“ Dr. Vidras entfernte die Kanüle und klebte ein Pflaster über die Einstichstelle. „Aber immer ganz langsam, ja?“
Mariella öffnete erst die Badezimmertür und half dann Lisa hoch.
Lisa sah Mariella zwar reichlich verschwommen, aber so von Nahem ging es schon besser. „Ist Dir das nicht peinlich?“
„Nein.“ Und es war die Wahrheit. Mariella war froh irgendwie behilflich sein zu können.
Sie ließ Lisa kurz auf der Toilette alleine, half ihr aber dann beim Duschen, indem sie Lisa hinsetzte und sie im Sitzen einseifte und abduschte. Ihren Intimbereich wusch Lisa sich selbst und sie tat das so intensiv, dass Mariella irgendwann protestierte. „Lisa – hör auf!“
„Ich muss da sauber werden!“
„Es ist gut Lisa – es ist gut.“
Als Lisa schon wieder im Bett lag, klopfte es leise an der Tür und David trat ein. Sonst hatte David´s Anblick bei ihr immer andere Gefühle ausgelöst, jetzt ergriff sie Mariella´s Hand und verkrampfte sich. Doch David hatte seine Lektion von Gestern gelernt. Er kam nur so nahe, dass er seiner Frau die Ersatzbrille geben konnte, dann lächelte er Lisa zu, wünschte Gute Besserung und verschwand rasch wieder nach draußen.
Lisa´s Atem beruhigte sich langsam wieder. Sie nahm die Brille entgegen und setzte sie sich auf die Nase – es war ein mindestens genauso hässliches Kassengestell wie das letzte. „Wird das so bleiben? Kann ich nie wieder einen Mann in der Nähe ertragen?“
„Unsinn!“ Mariella schüttelte mehr entschlossen als überzeugt den Kopf „das war doch David – hattest Du je Angst vor David?“
„Nein – noch nie – aber eben doch...“
„Es wird alles wieder. Bestimmt. Du brauchst nur Zeit.“
„Mariella – wieso tust Du das für mich?“
„Ich weiß es nicht Lisa – aber ich tue es gerne. Deine Eltern wollen Dich Morgen besuchen, dürfen sie das?“
„Bitte nur Mama. Meinst Du Papa wäre dann sehr böse?“
„Ich erkläre es ihnen.“
„Mariella…“
„Ja Liebes?“
„Richard… weißt Du was mit ihm ist?“
„Nein. Aber er hat gesagt, dass er sich stellen will.“
„Du hast mit ihm gesprochen?“
„Ja – er hat mich kurz getroffen, aber keine Angst, er kommt hier nicht rein.“
„Hat er wieder gesagt, dass es ihm leid tut?“
Mariella war verblüfft über diese Frage „Ja – hat er.“
Lisa´s Stimme wurde ganz leise „Das hat er den Abend auch gesagt. Immer wieder.“
Die Schwester kam herein und gab Lisa etwas zum Einschlafen für die Nacht.
Es wirkte schnell. Mit bereits kleinen Augen fragte Lisa „Kommst Du morgen wieder?“
„Nein Liebes – ich bleibe hier.“
„Das musst Du nicht.“
„Ich möchte es aber.“
Täuschte sie sich oder huschte da ein ganz kleines Lächeln über Lisa´s Gesicht?
Um neunzehn Uhr im Polizeirevier, mitten in Berlin, kam ein Man herein. Ein gepflegter, gut angezogener Mann mit kaum verheilten Wunden im Gesicht. Er trat an die Theke des Reviers, legte seinen Personalausweis darauf ab und sagte mit ruhiger Stimme zu dem Wachhabenden „Mein Name ist Richard von Bramberg. Ich möchte mich selbst anzeigen, wegen Vergewaltigung von Elisabeth Maria Plenske.“