Kapitel 6
Obwohl sie sich noch immer nicht sicher war, ob sie ihr Aussehen wirklich so radikal verändern sollte stand Lisa vor dem eleganten Friseurgeschäft und wendete immer wieder die kleine Grußkarte, die Hugo ihr mit einem lieben Lächeln zugesteckt hatte, in den Händen. „Damit kommen Sie auf jeden Fall sofort dran, mein Liebe“, hatte er ihr zugeflüstert und anerkennend die enge schwarze Jeans gemustert, die Lisa seit Wochenbeginn abwechselnd mit der ausgewaschenen blauen trug. Nur ihre Oberteile ließen noch zu wünschen übrig, aber Hugo hatte bei einem Gespräch zwischen Hannah und Lisa mitbekommen, dass sein kleines Sorgenkind, wie er Lisa manchmal scherzhaft nannte, auch hier neuere Teile besaß, aber noch nicht den Mut hatte, diese anzuziehen.
Lisa atmete tief durch und betrat den Salon. Überraschend freundlich wurde sie begrüßt und Hugos Grußkarte schaffte es tatsächlich, ihr einen sofortigen Termin zu beschaffen. Ein wenig schüchtern sah sie sich um und musterte die vielen Bilder von schönen Menschen und noch schöneren Frisuren. „So meine Liebe und was machen wir mit ihren Haaren?“ Die Frage des jungen Friseurs konnte Lisa nicht wirklich beantworten. „Ich weiß es nicht. Das einzige was ich weiß ist, dass ich sie nicht ganz kurz haben will ... aber sonst? Ich hätte gerne schöne Wellen, nicht so eine Krause“, flüsterte sie und sah ihn bittend an. „Ich hoffe, Sie haben genügend Zeit mitgebracht, aber wir bekommen das hin.“ Als Lisa ihn zweifelnd ansah, legte er ihr die Hand auf die Schulter und zwinkerte ihr zu. „Ganz sicher, ich hab ja einen Ruf zu verlieren“, feixte er und bat Lisa zum Waschplatz. Sie atmete tief durch und folgte ihm langsam. ‚Der letzte Schritt, dann gibt es kein Zurück mehr’, dachte sie bei sich und ein eigenartiges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit.
Während ihre Haare gepflegt, geglättet, geschnitten und behandelt wurden dachte Lisa über die vergangenen, zum Teil sehr verrückten Tage nach. Immer wieder war ihr der Satz mit dem Selbstmitleid von Friedrich Seidel eingefallen und Lisa war ehrlich genug um sich einzugestehen, dass die Angst, es würde sich nach einer Veränderung ihres Aussehens nichts am Umgang der Menschen mit ihr ändern, sie lange von diesem Schritt abgehalten hatte. Aber wie hatte Richard so schön gesagt. „Wenn Sie sich ändern wollen, dann tun sie es für sich. Wenn sie einem bestimmten anderen damit besser gefallen – schön für sie und für ihn.“ Er hatte wohl zugegeben, dass er Lisas Äußeres mehr oder minder hässlich fand, aber mit der Art, wie er es sagte, konnte Lisa umgehen. Mit seinen Worten hatte der von Brahmberg ja auch Recht und Lisa freute sich schon jetzt über anerkennende Blicke, wenn sie die engen Hosen trug. Obwohl sie sich lange eingeredet hatte, dass es egal war, wie sie aussah musste sie zugeben, dass sie einfach einmal ein wenig schicker und modischer sein wollte und die London-Reise war ein guter Zeitpunkt für eine Veränderung, auch wenn es jetzt so aussah, als ob sie von den Seidels dazu gezwungen wurde, sich dem gängigen Standard anzupassen.
Am Wochenende hatte sie erstmals geprobt, wie ihr neues Outfit mit den Kontaktlinsen und einem Pferdeschwanz wirkte und war ein wenig verunsichert gewesen, als ihre Eltern das einfach nur zur Kenntnis genommen hatten und ohne viele Worte zum ‚Tagesgeschäft’ übergingen. Bernds gebrummtes ‚Bist ja so und so mein Schnattchen’ hatte sie ein wenig gekränkt und erst Jürgens Blick, der am Nachmittag auf einen Kaffee vorbeikam hatte sie in ihrem Vorhaben bestätigt. Dieser Blick war eindeutig bewundernd gewesen und war durch ein genussvolles Pfeifen unterstrichen worden. Liebevoll hatte er sie in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. „Also mal ganz ehrlich, wenn Du nicht meine beste Freundin wärst würde ich Dich jetzt gnadenlos anbaggern. Aber so sind wir Männer eben. Wir wissen vielleicht, was wir an Euch haben, aber es ist besser es uns auch optisch zu zeigen“, hatte er gewitzelt und war mit ihr im Schlafzimmer verschwunden um die neuen ‚Basics’ im Kleiderschrank zu begutachten.
‚Ist auch egal, wenn alle glauben, dass ich das nur aus Angst oder Ehrfurcht vor dem von Brahmberg mache’, dachte sie trotzig und fuhr mit der Zunge über ihre glatten Zähne. Der gefürchtete Besuch beim Zahnarzt war gar nicht so schmerzhaft gewesen wie befürchtet und auf dem Weg zum Friseur war sie bei jedem zweiten Schaufenster stehen geblieben, um sich selbst zu bewundern. Ihre neue Brille konnte sie morgen holen und dann war die Veränderung abgeschlossen. Lisa hatte beschlossen, erst am Donnerstag in völlig neuem Outfit bei Kerima zu erscheinen. Einerseits wollte sie wissen, wie die Leute auf sie reagieren würden, andererseits ging ihr Flieger kurz vor 18 Uhr und Lisa musste sowieso ihren Koffer mit zu Kerima nehmen.
Sie war schon sehr gespannt auf ihre Unterredung mit Friedrich Seidel, der sie und Richard für Donnerstag, 14 Uhr in sein Büro bestellt hatte. Richard war kurz nach dem Erhalt des Mails bei Lisa aufgetaucht und hatte sie verschwörerisch angesehen. „Es bleibt dabei, dass wir Harmonie und Eintracht ausstrahlen?“ hatte er leise gefragt und Lisa hatte ihn mit einem strahlenden Lächeln bedacht. „Nichts und niemand wird mir den Aufenthalt in London vermiesen“, hatte sie geantwortet und Richard damit wieder einmal zum Lachen gebracht. Immer öfters war er in den letzten Tagen mit Problem und Arbeitsaufträgen zu ihr gekommen und hatte sie verzweifelt angesehen. Sein neuester Standardspruch war „Könnten Sie das bitte erledigen? Wenn ich das Sabrina machen lasse, dann kann Kerima bald zusperren.“
Am Anfang war Lisa noch erschrocken, wenn er sich vor ihr aufbaute, aber bald wurde es zur Gewohnheit und da David seit einigen Tagen wenig in der Firma war, konnte sie die Arbeiten für Richard leicht miterledigen. Sie harmonierten gut in der Arbeit und langsam hatte Lisa das Gefühl, dass Richard sie zumindest akzeptierte. Sein Kommentar zu der schwarzen Jeans am Montag war ziemlich eindeutig gewesen. „Schaut gut aus, noch besser aber mit dem weißen Hemd“, hatte er gebrummt und auf ihre Brille getippt. „Mit ohne Brille haben Sie mir am Freitag besser gefallen.“ Lisa hatte herzlich über diesen Spruch gelacht und mit den Schultern gezuckt. „Die Kontaktlinsen sind super, aber ich muss mich noch ein bisschen daran gewöhnen und den ganzen Tag vor dem Bildschirm trau ich mich nicht“, hatte sie geantwortet und war schnell wieder zu ihrem Schreibtisch zurückgekehrt.
Sie hatte am vergangenen Freitag etwas früher Schluss gemacht um sich in Ruhe wegen einer neuen Brille umzusehen und war nach dem Einkaufsbummel, bei dem ihr der Optiker auch gleich Kontaktlinsen verpasst hatte, zufällig Richard über den Weg gelaufen. Grinsend hatte er zur Kenntnis genommen, dass ihre Brille verschwunden war und sie schelmisch angesehen. „Und wann fällt die Zahnspange?“ hatte er sie geneckt, war dann doch erstaunt gewesen, als Lisa spontan erzählte, dass sie am Mittwoch einen Zahnarzttermin hatte. Nach dem Austausch einiger Höflichkeitsfloskeln hatten sie sich verabschiedet und Lisa war wie auf Wolken nach Hause gegangen. Sie war sich nicht sicher, warum Richards Anerkennung sie so fröhlich stimmte, aber sie nahm es einfach zur Kenntnis und freute sich darüber.
„Wie wäre es mit ein paar Strähnchen?“ holte sie Jean in die Gegenwart zurück und hielt eine Farbpalette an ihr Haar. Er überlegte kurz, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, doch nicht. Das ist zu aufgesetzt“ entschied er und begann Lisas Haare auf große Wickler zu drehen. Lisa schloss wieder die Augen und dachte an David, der sich in den letzten Tagen rar gemacht hatte. Babette war mittlerweile durch Nathalie und dann durch Susan ersetzt worden und Lisa fragte sich, was David so daran reizte, jeden Abend - oder fast jeden Abend - mit einer anderen Frau zu verbringen. Selbst ihre der Männerwelt sehr aufgeschlossene Freundin Yvonne schüttelte immer nur den Kopf, wenn es um David ging. „Das ist schon ein wenig zu viel des Guten, das kann er doch nicht genießen“, hatte sie gestern Abend verwundert von sich gegeben, als sie und Lisa David in der Tikki-Bar getroffen hatten und dieser während seines Treffens mit Susan eine hübsche Rothaarige anflirtete.
Nach ihrem eher unfreiwilligen Zusammentreffen am späten Donnerstagabend war David mit einem unübersehbaren schlechten Gewissen in die Firma gekommen. Er hatte sich selbst Kaffee geholt und ihr ohne Kommentar ihren wieder aufgefüllten Becher sowie zwei Schokoriegel hingelegt. Eine Geste, über die sie sich in der Vergangenheit immer gefreut hatte, aber am Freitag hatte er damit ihre Wut auf ihn noch entfacht. Glaubte er tatsächlich, dass es reichte, der dummen Vorzimmerpute ein bisschen Schoki zukommen zu lassen und schon würde sie über alles hinwegsehen, was er tat. Ihre Gedanken hatten sie schockiert, denn da war nichts, worüber sie hätte hinwegsehen können. David war ein freier Mann und wenn es ihm einen besonderen Kick hab, seine Freundin im Foyer von Kerima flachzulegen, dann war es sein gutes Recht. ‚Aber er muss doch gewusst haben, dass Du noch da bist’, hatte ihre innere Stimme gemotzt und Lisa dazu gebracht, noch ein wenig wütender zu werden. ‚Natürlich hätte er das wissen müssen, schließlich hat er Dich ja dazu verdonnert, dieses dumme Protokoll zu schreiben“, hatte die Stimme weitergequengelt und es so geschafft, dass es Lisa einfach reichte.
Mit verschlossener Miene und der Post war sie in sein Büro gegangen und hatte vermieden ihn anzusehen. Konzentriert waren sie die Post durchgegangen und erst nachdem sich David einige Male geräuspert hatte war Lisa bereit gewesen ihn anzusehen. „Was?“ hatte sie genervt wissen wollen und erstaunt festgestellt, dass er tatsächlich schuldbewusst aussah. „Lisa, das gestern. Das war ziemlich hirnrissig. Ich weiß auch nicht, aber ich hab einfach nicht mehr daran gedacht, dass Du noch da sein könntest. Es war doch schon so spät und na ja, ich bin ein Doofkopf.“ Charmant hatte er sie angelächelt und seine braunen Teddybär-Augen hatten sie angestrahlt. Doch zum ersten Mal seit sie ihn kannte hatte sie nicht wirklich darauf reagiert, bzw. nicht so, wie David es erwartet hatte. Sie hatte nur genickt, die Post geschnappt und war ohne ein Wort zu ihrem Schreibtisch zurückgekehrt. Dass sie David damit in ziemliche Verwirrung gestürzt hatte, war ihr nicht bewusst, aber er tat sich in den nächsten Tag schwer, Lisa ohne schlechtes Gewissen bzw. mit einem unguten Gefühl zu begegnen.
Das leise Piepsen ihrer Trockenhaube holte Lisa wieder in die Gegenwart zurück und sie rutschte erwartungsvoll auf ihrem Sessel hin und her. Es dauerte noch eine Weile, bis die Wickler entfernt wurden, doch schon bald wurde ihr bewusst, welches Wunder Jean bewirkt hatte. Ihre Haare waren nur mehr schulterlang, durchgestuft und fielen in großen Wellen. Der freche Pony verlieh ihr ein pfiffiges Aussehen. Lange starrte Lisa einfach nur in den Spiegel, dann hob sie den Blick und begegnete dem lächelnden Blick ihres Friseurs. „Na, hab ich zuviel versprochen?“ wollte er wissen und fuhr nochmals durch ihre Haare um sie aufzulockern. „Das sieht echt Klasse aus“, lobte er sich selbst und deutete auf die neben ihr aufgebauten Schminkutensilien. „Und jetzt noch ein bisschen Schminke?“ Er wartete nicht auf eine Antworte, sondern begann, Lisa ein unauffälliges aber sehr effektvolles Make-up aufzulegen. Geduldig erklärte er ihr, wie genau sie sich schminken sollte und zum Schluss machte er sich die Mühe, ihr genau aufzuschreiben, welche Kosmetik sie sich besorgen sollte. Er verstand sein Fach und Lisa starrte die junge, ihr sehr fremde Frau im Spiegel an. Das war eindeutig sie, aber so ganz konnte sie es nicht glauben. Nur die Brille störte den Gesamteindruck, aber auch die würde am nächsten Tag verschwinden. Mit zitternden Beinen ging sie zur Kassa. „Es ist schon alles bezahlt“, wurde ihr mitgeteilt, was Lisa völlig verunsicherte. „Herr Haas hat angerufen und erklärt, dass er das übernimmt und wir sollen ihnen ausrichten, dass er keine Widerspruch duldet“, meinte die junge Dame an der Kassa und reichte Lisa ein Säcken mit Shampoo, Pflegespülung und einigen anderen Dingen. Völlig verwirrt stand Lisa da, dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Glücklich küsste sie Jean auf die Wage und verließ nach einem heiteren Wortgeplänkel mit einem breiten Lächeln den Salon.
Während Lisa es sich einige Zeit später zufrieden zu Hause bequem machte und sich nach dem Kofferpacken eine heiße Schokolade und einen leckeren Muffin gönnte, lehnte Richard gelangweilt seit mehr als einer Stunde an der Bar und hörte den schon so oft gehörten Geschichten von Max, David und Marc zu. David hatte die Männer zu einem spontanen Männerabend überredet und nun ‚feierten’ sie Richards Londontrip mit der Vogelscheuche, wie Max immer wieder betonte. In seiner Euphorie fiel ihm gar nicht auf, dass weder David noch Richard sich dazu äußerten und Marc wie immer betonte, dass Lisas Qualitäten halt auf einem ganz anderen Gebiet lagen. Marc Trojan, der Lieblingsfotograph von Hugo Haas, mochte Lisa seit ihrer ersten Begegnung und war von Anfang an sicher, dass sich hinter Lisas äußerst merkwürdiger Maskerade eine interessante, wenn auch ein wenig unsichere Frau verbarg.
Im Gegensatz zu David, der Lisa ja auch ziemlich mochte - es aber nicht zugab, hatte Marc dies auch immer wieder laut gesagt und so manche Diskussion mit Max und Richard geführt. Dass dieser heute so ruhig war, erstaunte den jungen Mann etwas und so stand nach einiger Zeit Richard im Fadenkreuz des Interesses. „Nun sag schon, was hast Du mit der Plenske in London vor“, wollte Max wissen und zwinkerte Richard zu. Dieser zuckte die Schultern und sah Max gelangweilt an. „Nichts besonderes, wir werden uns schon amüsieren.“ Max grinste schon ein wenig angetrunken. „Du mit einer schönen Frau, ist schon klar und die Plenske?“ wollte er wissen, zuckte aber ziemlich zusammen, als Richard sein Glas hart abstellte. „Was weiß denn ich? Wen interessiert das schon“, blaffte er Max an und warf einen großen Geldschein auf die Theke. Ohne ein weiters Wort verließ er die Bar und ging mit schnellen Schritten zu seinem Auto.
Lange saß er nur da und starrte in die Nacht. „Warum glauben eigentlich alle, dass ich so ein Ars*** bin?“ brummelte er vor sich hin und schlug mit der Hand gegen das Lenkrad. Er musste sich eingestehen, dass Lisa ihn in den letzten Tagen zu interessieren begonnen hatte und das lag nicht nur an ihrem äußerlichen Wandel. Seit sie anscheinend beschlossen hatte, ihm mit einer großen Portion Humor zu begegnen, reizten ihn die Wortgefechte. Sie war nicht mehr so zurückhaltend und gab ihm - wenn es sein musste - manchmal ziemliche Widerworte. Er konnte das Gefühl nicht richtig deuten, aber Lisa Plenske war eindeutig dabei, seine menschliche Seite, die er seit vielen Jahren sehr gut und auch sehr erfolgreich versteckte herauszukitzeln und das behagte ihm ganz und gar nicht.