Kapitel 23
„Auch wenn Du mich noch so ungläubig ansiehst, ich habe schon mal Fleisch geschnitten.“ Amüsiert grinste Richard Lisa an und scheuchte sie in Richtung Kühlschrank. „Wir haben uns doch auf die Aufgabenteilung geeinigt – oder irre ich mich? Du machst die Soßen und die Beilagen und ich kümmere mich um Fleisch und Brot.“ Sein Lachen war ansteckend und Lisa ließ sich gerne mitreißen. Schon das Einkaufen war witzig gewesen und zum ersten Mal seit Jahren hatte Richard den Fuß in einen riesigen Einkaufstempel gesetzt. Keine Verkäuferin, die ihm die Entscheidungen abnahm und niemand der ihm die Einkaufstüten zum Auto trug. Lisa hatte ihn zu Beginn etwas skeptisch angesehen, aber musste bald zugeben, dass er nicht ganz so hilflos war, wie er tat. Sie hatten ziemlichen Spaß am Aussuchen der Zutaten für den Abend gehabt und Richard hatte sich als äußerst fantasievoll in Bezug auf Eis und Schokolade erwiesen. Kichernd waren sie durch die Gänge gefegt und hatten alles zusammen getragen, worauf sie Gusto hatten. Immer wieder hatte sie ihn auf den einen oder anderen schmachtenden Blick aufmerksam gemacht, der ihm folgte, was Richard nur mit einem verschmitzten Lächeln zur Kenntnis genommen hatte. Doch das Glitzern in seinen Augen war ein eindeutiges Zeichen dafür gewesen, dass es ihm gefiel.
Schwer beladen waren sie nach knapp einer Stunde wieder in Lisas Wohnung gelandet und Lisa hatte Mühe gehabt, die gekauften Sachen in ihrer kleinen Küche unterzubringen. Sie seufzte auf, als sie an die Unmengen von Essen dachte, die jetzt im Kühlschrank lagerten und widmete sich der Herstellung der Soßen. Sie zuckte zusammen, als sich Richards Hände sanft um ihre Taille legten. „Darf ich schon kosten?“ wollte er neugierig wissen und griff dankbar nach dem Minilöffel, den Lisa ihm hinhielt. „Hm lecker, Knoblauch.“ Sein Blick wanderte weiter und auch die Curry-Ananas-Soße fand seine Zustimmung. „Und was ist das?“ fragte er lauernd, als er die extrem pinkfarbene dritte Soße auf den Löffel hob. „Cocktailsoße. Warum?“ wollte Lisa wissen und sah ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag an. „Wegen der geilen Farbe. Was hast Du denn da rein getan? Schmeckt aber superlecker“, lobte er sofort, um Lisa nicht zu verunsichern. Lisa hielt ihm eine kleine Röhre mit roter Farbe entgegen. „Speisefarbe. Ich mag es, wenn sie so knallig aussieht ... außerdem passt es zum Geschirr“, erklärte sie ihm und drehte sich in seinen Armen um. „Das Fleisch und Brot ist fertig geschnitten?“ wollte sie wissen und applaudierte, als Richard dies bejahte.
„Wo ist denn nun dieses supertolle Fondue-Set?“ erkundigte er sich und sah Lisa fassungslos an, als sie kurz darauf wieder ins Zimmer kam. „Ähm ja, ziemlich auffällig“, bemerkte er und konnte das Lachen nicht lange unterdrücken. Der Fonduekessel war nicht besonders groß, strahlte dafür im fröhlichen Pink, verziert mit dunkelrotem Blumenmuster. „Ja, stimmt. Ist doch niedlich?“ strahlte Lisa ihn an und brach in schallendes Gelächter aus. „Sag ja nix gegen den Topf. Ich hab da noch einige Pfannen und Töpfe in diesem Design. Hat mir Tante Henriette zu meinem 18. Geburtstag geschenkt, für die Aussteuer.“ „Alles klar, aber solltest Du einen Mann finden, dann kauf Dir dezenteres Geschirr oder nimm Dir einen mit Sehfehler. Das Muster macht auf Dauer sicher krank“, neckte er sie und besah sich den Topf näher. „Das ist vielleicht schon ein Sammlerstück?“ überlegte er und handelte sich einen Rippenstoß ein. „So lange hab ich das Ding auch wieder nicht“, murrte Lisa gespielt grantig und wich seinen Händen aus. „Auswaschen und dann Öl rein. Los, ich habe Hunger“, dirigierte sie Richard zur Abwasch und grinste in sich hinein. Richard hatte die passenden Teller noch nicht gesehen und so beeilte sie sich, im Wohnzimmer aufzudecken, während er den Fondue-Kessel vorbereitete. An der Türe begegneten sie sich und als sie Richard theatralisches Aufstöhnen hörte, war es mit ihrer Beherrschung endgültig geschehen. „Lisa, das ist jetzt aber nicht Dein Ernst“, kam es aus dem Wohnzimmer und schon steckte Richard den Kopf wieder in die Küche. „Das nächste Mal kochen wir bei mir. Wer weiß, was da noch alles in den Schränken schlummert“, meinte er leicht verzweifelt, grinste aber so spitzbübisch, dass es Lisa so richtig warm wurde.
Knapp 2 Stunden später lehnte sich Richard völlig satt und erschöpft in seinem Sessel zurück und verweigerte das letzte Stück Fleisch, das Lisa ihm hinhielt. „Nein mein Schatz, wenn ich das noch esse platze ich. Da geht nie wieder was rein.“ Er bemühte sich, seinen Bauch herauszustrecken und strich langsam darüber. „Schau Dir das an. Ich werde langsam fett“, immitierte er Hugos Stimme und wich lachend Lisas Gabel mit dem Fleisch aus. „Na gut, bevor Dir schlecht wird“, zwinkerte sie ihm zu und stand stöhnend auf. „Mein Gott bin ich voll ... beim Fondue kenne ich keine Grenze, da stopfe ich rein, was Platz hat“, grummelte sie und streckte sich durch.
Gemeinsam räumten sie den Tisch ab und Lisa kicherte, als Richard vorschlug, die Teller gleich zu entsorgen und nicht erst in den Geschirrspüler zu räumen. „Nix da. Damit kann ich vielleicht noch jemanden anderen ärgern“, meinte sie vergnügt und strich mit einer zärtlich Bewegung über eines der Teller. Der Geschirrspüler war eines der Highlights der übernommenen Küche und ein Luxus, den Lisa in der kurzen Zeit schon zu schätzen gelernt hatte. Vor allem heute mit den fettigen Soßen war es ihr vollkommen Recht, nicht noch Zeit mit dem Abwasch verbringen zu müssen.
Ein Seitenblick auf Richard sagte ihr, dass dieser vollkommen entspannt war und der Stress der Woche sich eindeutig verflüchtigt hatte. Während des Essens hatte Lisa ihm viel über ihre Vergangenheit erzählt und ihm so gezeigt, wie sehr sie ihm vertraute. Sie hatte über ihre schöne und aufregende Kindheit berichtete, aber auch über die Demütigungen, die gerade vor dem Abi immer mehr geworden waren. Die anderen Mädchen hatten nur mehr ihr Aussehen im Kopf gehabt, während Lisa sich dem Lernen widmete und für die anderen nur interessant war, wenn es darum ging, schwierige Hausaufgaben abzuschreiben. Richard hatte lange schweigend zugehört, aber immer öfters hatten sich seine Lippen unwillig verzogen, wenn er von den Streichen hörte, die ihre Mitschüler ihr gespielt hatten. Sein ‚Warum hast Du nicht mal zurückgeschlagen oder ihnen falsche Lösungen untergejubelt?’ hatte sie mit einem Schulterzucken beantwortete. „Ich weiß es nicht. Das liegt mir nicht“, hatte sie ihm erklärt und war für einige Zeit in ihren Erinnerungen versunken. Sie erzählte ihm von Jürgen und Yvonne, die schon damals zu ihr gehalten hatten und mit denen sie noch heute eine tiefe Freundschaft verband.
Sie erzählte ihm auch von der Zeit, als Yvonne es geschafft hatte, Lisa ein wenig umzustylen und ihre Freude, als sie daraufhin von ihrem großen Schwarm zum Schulball eingeladen wurde, nur um kurz darauf festzustellen, dass dieser eine Wette verloren hatte und dazu gezwungen wurde, sich dafür aber gleich einige Bosheiten zurecht gelegt hatte, um Lisa so richtig lächerlich zu machen. Damals hatte sie gelernt, dass nur das veränderte Aussehen nichts bewirkte, wenn Menschen eine eingefahrene Meinung über einen hatten. Deshalb war Lisa auch so erstaunt gewesen, wie sehr ihre Umwelt auf ihre jetzige Typänderung reagierte. „Ich hab nicht geglaubt, dass sich was ändert“, hatte sie ihm gestanden. „Wahrscheinlich glauben noch immer alle, ich bin das Landei aus Göberitz, nur mit polierter Schale“, hatte sie nachdenklich geäußert und Richard fragend angesehen. Dieser hatte nur die Schultern gehoben und seine Hand mit der ihren verschränkt. „Ich denke, dass die meisten kapiert haben, dass Du ein toller Mensch bist und zufällig auch gut aussiehst. Und die, die es nicht verstanden haben, denen fehlt ein bisschen Grips – siehe Max oder Sabrina. Die sind so unsicher, dass sie immer einen anderen Menschen brauchen, auf dem sie herumhacken können. Ignoriere sie einfach, sie sind es nicht wert, dass Du Dir darüber Gedanken machst“, hatte Richard ehrlich und überzeugend geantwortet und Lisa damit mehr als getröstet.
Richards warme Hände auf ihrer Taille holten Lisa wieder in die Wirklichkeit zurück. „Ich hab Gusto auf ein Bier und dann eine Runde Kuscheln auf der Couch. Glaubt die Gastgeberin, dass dies möglich wäre?“ raunte er ihr ins Ohr und zwinkerte ihr zu. Lisa lehnte sich kurz zurück und genoss Richards Nähe. Sie runzelte die Stirn und legte ihre Hände auf die seinen. „Sag mal, kann man eigentlich zwei Menschen zur gleichen Zeit wahnsinnig gern haben?“ flüsterte sie und drehte ihren Kopf so, dass sie ihn ansehen konnte. „Wenn man so ein großes Herz hat wie Du ganz sicher sogar“, murmelte Richard und küsste sie sanft auf die Lippen. „Hm.“ Lisa war ein wenig verunsichert, da sie sich so ungemein wohl mit ihm fühlte, aber seit Davids Küssen wusste sie genau, was zwischen Richard und ihr fehlte. Da war dieses unheimlich gute Gefühl, wenn er sie hielt, sie leicht küsste, aber dieses Kribbeln im Bauch fehlte, das Gefühl, dass sie gleich abheben würde und sich dabei so wohl fühlte, wie noch nie im Leben. „Du könntest mir ruhig ein wenig vom Hier und Jetzt erzählen. Gibt es etwas, was mich interessieren könnte?“, meinte Richard nachdenklich und legte seine Stirn auf Lisas Schulter. „Später, vielleicht. Ja, o.k.?“ bat sie und löste sich von ihm. „Mach es Dir im Wohnzimmer bequem, ich komme gleich“, versprach sie und seufzte leise auf. Wie so oft an diesem Nachmittag und Abend hatte sie die beiden im Moment wichtigsten Männer ihres Lebens miteinander verglichen und war nach wie vor verunsichert. Richard war ein komplizierter Mensch, aber zumindest konnte sie ihn ganz gut einschätzen und kam gut mit ihm zurecht. David hingegen war ihr ein Rätsel und sein Verhalten in der letzten Woche verunsicherte sie. So freundlich und zärtlich er zumeist zu ihr war, wartete sie stets auf eine abwertende Meldung oder auf den ‚richtigen’ David, der vor ihren Augen ein Models abschleppte oder herumknutschte. Sie versuchte, ihm zu glauben, dass er Interesse hatte, aber ihre Erfahrungen mit ihm hatten sie vorsichtig gemacht.
Mit einem voll beladenen Tablett mit Bier, Apfelsaft, Chips und Schokobananen betrat Lisa das Wohnzimmer und machte es sich bei Richard auf der Couch bequem. Er zog sie an sich und küsste sanft ihren Scheitel. „Worüber grübelst Du denn so angestrengt?“ wollte er wissen und zeichnete große Kringel auf ihre Oberarme. „Dass schlechte Erfahrungen einen Menschen sehr prägen können“, kam es leise von Lisa, die sich so drehte, dass sie in Richards Armen lag und ihn ansehen konnte. Sie hob die Hand und fuhr langsam seine kantigen Gesichtszüge nach. „So wie bei Dir. Jemand muss Dir mal sehr wehgetan haben, sonst würdest Du nicht immer so heftig reagieren, wenn das Gespräch auf die alten Zeiten oder auf Beziehungen kommt“, wagte sie einen Vorstoß und hielt den Atem an. Sie sah, wie sich seine Augen verengten und er sie sehr ernst ansah. „Du wirst jetzt nicht aufhören nachzubohren, bis Du erfahren hast, was Du wissen willst“, stellt er ein wenig genervt fest, musste aber zugeben, dass es ihn nicht wirklich nervte, dass Lisa sich für seine Vergangenheit interessierte. Im Laufe der Woche hatte er festgestellt, dass das Wochenende mit Lisa keine Laune war, sondern wohl der Beginn einer richtigen Freundschaft. Sie wusste bereits mehr über ihn als seine gesamt Familie und mit ihrer Art schaffte sie es, ihm ein gutes Gefühl zu geben und sich zu öffnen. Ein Gefühl, das er sich jahrelang versagt hatte, in ihrer Gegenwart aber zunehmend selbstverständlich wurde.
Lisa war schon sicher zu weit gegangen zu sein, als Richard sie seufzend enger an sich zog und spürbar anspannte. „Du machst mich fertig mit Deiner Art, aber Du hast Recht. Ich war schon immer das schwarze Schaf und immer der ‚Böse’. Meine Mutter ist nicht unbedingt eine herzensgute und liebenswerte Frau und sie hat es – wie ich jetzt weiß – nie verkraftet, dass Friedrich Laura ihr vorgezogen hat. Noch dazu waren die beiden recht glücklich oder schafften es zumindest ihre Ehe immer wieder neu zu definieren. Claus von Brahmberg war ein guter Vater und ich weiß bis heute nicht, ob er gewusst hat, dass ich nicht sein Sohn bin. Zumindest bei ihm gab es keinen Unterschied zwischen Mariella und mir. Bei Mutter schon. Sie hat Mariella verhätschelt und mich nur angetrieben, besser, härter und konsequenter zu sein. Als Negativbeispiel hat sie mir in all den Jahren David vor die Nase gehalten, mit dem ich mich aber ganz gut verstanden habe. Irgendwann aber haben Mutters Einimpfungen gefruchtet und ich habe mich zu einem mürrischen, herrischen und gefühlskalten jungen Mann entwickelt. Mariella war mit David glücklich, dem alle Herzen zuflogen, der immer alles schaffte und die Menschen in seiner Umgebung mit seinem Charme in seinen Bann zog. Mir blieb die Rolle des Ekels. Heute weiß ich, dass es meine Entscheidung war, so zu wirken, aber ich kann das alles nicht mehr ändern.“ Richard starrte auf einen Punkt auf der gegenüberliegenden Wand und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche.
„Die beste Entscheidung war damals, nach London zu gehen. Meredith hat mich so lange bearbeitet, bis ich meine Koffer gepackt habe um mein Studium in London zu beginnen. Sie hat die Formalitäten geregelt und mir eine winzige Wohnung gesucht, damit ich ‚aus den Fängen von Sophie befreit werde’. Diese Worte höre ich heute noch und bin ihr dafür auch unendlich dankbar. Auch wenn das heute nicht so wirkt, aber sie hat mir damals wahnsinnig geholfen. Während des Studiums habe ich dann neue Leute kennen gelernt, ich war nur mehr Richard. Keine Vorgeschichte, keine Erwartungen, keine Vorurteile. Es war unglaublich befreiend. Zum Teil bestand mein Freundeskreis auch aus den Kindern von Merediths Freunden und Torstens Geschäftspartnern, aber auch die hatten kein Interesse an meiner Vergangenheit.“ Wieder erfolgte eine Pause, die etwas länger dauerte. Er kämpfte mit sich, dann aber ging ein Ruck durch Richards Körper.
„Zu diesem Zeitpunkt war Liebe und Zuneigung bei mir nur durch schnellen Sex mit zumeist älteren Frauen definiert. Ich wechselte meine ‚Freundinnen’ in relativ rascher Abfolge, bis ... bis ich Sarah traf. Sie war einige Monate jünger als ich und es war Liebe auf den ersten Blick. Meredith hatte mich zum Abendessen eingeladen und Helen hatte überraschender Weise nicht nur Geoffrey, sondern auch ihre Tochter mitgebracht. Man könnte es Schicksal nennen, aber ab diesem Tag waren wir unzertrennlich. Sarah tat mir gut. Sie war so unkompliziert und lebensbejahend. Immer zu irgendeinem Scherz aufgelegt und manchmal hatte ich am Morgen ‚Angst’ die Augen zu öffnen, da ich nicht wusste, was passieren würde. Sie war absolut unberechenbar, aber wahnsinnig liebevoll und zärtlich. Meine manchmal schlechte Laune ertrug sie mit Gelassenheit und grinste mich immer nur an, wenn ich grummelte. Sie nahm das nicht ernst und hatte immer das richtige Rezept um mich auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen.“ Richard seufzte leise und Lisa sah erstaunt, wie weich und verletzlich Richards Gesichtszüge waren. Sie hatte wohl gehofft, dass er sich öffnen würde, aber so viel Vertrauen hatte sie nicht erwartet.
Es entstand eine längere Pause in der sich Richard ein wenig aufsetzte, Lisa jedoch nicht losließ. „Dann begann sie sich zu ändern. Ich dachte immer, dass das Zusammenleben nach 1 ½ Jahren halt nicht mehr so sorgenfrei und unbeschert sei und habe lange nicht kapiert, dass sich Sarah von mir entfernte. Sie hatte wieder mehr Kontakt zu ihrer Mutter und kam öfters nicht nach Hause. Immer wieder sagte sie mir, dass sie mich liebte und es an ihr liege. Dass sie noch viel zu jung sei für eine so ernste Beziehung und sie ein wenig mehr Freiraum bräuchte. Es war kein Problem für mich, ihr diesen auch zu lassen. Ich wollte, dass es ihr gut geht und die Zeit, die wir miteinander verbrachten war wunderschön, bis ....“ Richards Gesicht verdunkelte sich und er biss sich kurz auf die Lippen. „Eines Tages kam sie nach Hause und begann ihre Sachen zusammen zu packen. Sie konnte mir nicht in die Augen sehen und erst als ich so richtig auszuckte, war sie bereit mit mir zu reden. Sie erzählte mir, dass sie einen anderen Mann kennen gelernt hatte, der ihr genau das bieten würde, was sie brauchte. Eine gesicherte Zukunft und Respekt in der Londoner Gesellschaft. Ohne große Umschweife erklärte sie mir, dass sie Charles Stevenson heiraten würde um sich mit ihm ein neues Leben in Neuseeland aufzubauen. Ich konnte das damals nicht verstehen und habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt um sie zu halten. Aber sie ist einfach gegangen. Hat mich noch einmal umarmt, mir gesagt, dass sie mich wahnsinnig gern hat und dann ist sie einfach aus meinem Leben verschwunden. Das war die Hölle für mich. Mir vorzustellen, dass sie bei einem anderen Mann war, mit ihm die Dinge tat, sie ich nur für mich haben wollte, hat mich fertig gemacht. Aber dann ist der alte Richard wieder durchgekommen. Mit Zynismus und Härte habe ich die mitleidigen Blicke unserer Freunde ertragen. Es gab viele Gerüchte und bald erhärtete sich mein Verdacht, dass Sarah nicht so ganz freiwillig in diese Ehe eingewilligt hatte. Die Derwoods hatten auf einmal jede Menge Geld zur Verfügung um ihre Ländereien herzurichten bzw. Geld, das Derwood in den diversen Spielhöllen durchbrachte.“ Richards Stimme war immer leiser geworden und gegen Ende hatte Lisa große Schwierigkeiten, ihn zu verstehen.
Sie richtete sich auf und küsste ihn sanft auf die Lippen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie und kuschelte ihren Kopf an seinen Hals. Völlig abwesend streichelte Richard ihre Arme und schüttelte den Kopf. „Ist schon o.k. Aber ich habe daraus gelernt, dass man sich nie einem anderen Menschen so ausliefern sollte.“ Als er schwieg, sah Lisa auf und holte tief Luft. „Hast Du sie noch einmal gesehen?“ wollte sie wissen und spürte, wie er hart die Luft einzog. „Ja, ein einziges Mal und das hätte ich mir sparen sollen. Die Hochzeit war überraschend kurzfristig angesetzt worden und einige Tage vor dem ‚großen Ereignis’ bin ich ihr zufällig bei Harrods über den Weg gelaufen. Sie war blass und sah nicht gut aus und ich konnte nicht anders. Ich hab mir Sorgen um sie gemacht, aber sie hat mich nur kurz angesehen und ist dann meinem Blick ausgewichen. ‚Mach es bitte nicht noch schlimmer’ hat sie geflüstert und ist vor mir zurückgewichen. Dann hat sie sich umgedreht und ist davongelaufen. Das nächste was ich von ihr sah waren die Berichte von der glanzvollen Hochzeit und dann später die Geburtsanzeige ihres Sohnes, der für die ‚noble Gesellschaft’ etwas zu knapp nach der Hochzeit auf die Welt kam.“ Richard schnaubte verächtlich. „Zumindest ist mir klar geworden, warum Sarah am Ende unserer Beziehung so komisch war. Sie musste damals schon ein Verhältnis mit Stevenson gehabt haben und dieser Gedanken hat mich wahnsinnig gemacht. Kannst Du jetzt verstehen, warum ich keiner Frau vertraue? Warum ich nicht will, dass mir eine zu nahe kommt? Nenn es verletzte Eitelkeit oder jugendliche Dummheit, aber eine Frau – die man über alles liebt – an einen 10 Jahre älteren, dafür aber steinreichen Mann zu verlieren, das prägt. Mich zumindest hat es geprägt.“