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8. Chap Tierparktunnel
Sie fuhren wieder.
Raimund hatte schweigend alle Sachen eingepackt, ihr das Album gegeben, den Navi programmiert und den Wagen gestartet.
Lisa sammelte sich und schlug das Album wieder auf. Es war ein niedliches Bild – anscheinend noch im Krankenhaus aufgenommen – ihre Haare verwuschelter denn je und ungeheuer stolz, aber müde, strahlte sie in die Kamera. An ihrer Brust lag ein Säugling, ein winziger Säugling. Wahrscheinlich war das Foto ziemlich bald nach der Geburt aufgenommen worden. Oh Gott – dachte sie nur – ich hab sogar mein eigenes Kind vergessen!
Die nächsten Fotos zeigten die Entwicklung des Kindes. Es war ein hübsches Kind. Recht zierlich anfangs – aber dann zunehmend drahtiger. Laufend – an der Hand von Jürgen, beim Fahrrad fahren mit Stützrädern, in Badehose mit Schwimmflügeln, mit Jürgen in einer Lore aus der Geisterbahn kommend, die Einschulung mit riesiger Tüte… die neuesten Fotos stellten einen Jungen dar, der noch etwas älter war. Lisa holte das Bild mit dem Säugling aus der Schutzhülle – das Datum stand darauf. Es war neun Monate nach ihrem Verschwinden aus Berlin aufgenommen… Somit musste das Kind nun acht Jahre alt sein.
„Es ist ein Junge“, sagte Lisa mit belegter Stimme „acht Jahre alt. Ein hübsches Kind – er hat nicht Jürgens Segelohren geerbt.“
Wenn er überhaupt von Jürgen ist, sprach da eine ungebetene Stimme in ihr. Vielleicht ist es ja auch von einem der beiden Kontrahenten. Und wo ist das Kind?!
Lisa legte den Kopf an die Scheibe und dachte krampfhaft nach – doch in ihrem Gehirn bewegte sich nichts. Du bist eine Rabenmutter! Wie kannst Du Dein eigenes Kind vergessen!!
„Lisa“ – so sanft hatte seine Stimme noch nie geklungen „wir finden ihn. Schau mal – ich meine, schauen Sie mal – da ist das Bankschließfach, die Adresse des Anwaltes in Berlin und schließlich noch das Handy, das wir bloß wieder aufladen müssen. Zu blöd, dass Jürgen keine Adressen gespeichert hat!“
Lisa schniefte auf „Was soll der Knirps denn nur denken? Und wo ist er nur? Geht es ihm gut? Gott – ich weiß nicht einmal seinen Namen!“
„Wir finden ihn!“
„Ich will in ein Erdloch! Was wenn dem Jungen was passiert ist – war er etwa mit ihm Wagen?!?“
„Nein! Bestimmt nicht. Dann hätte die Polizei ihn gefunden. Es geht ihm bestimmt gut! Vielleicht ist er bei Freunden oder Verwandten…“
„Aber an die erinnere ich mich nicht!“
Sie stieß den Kopf gegen das Fenster – zu nichts nutze, dieses Ding, das sie da auf dem Hals trug!
Nach knapp drei Stunden waren sie in Berlin angekommen. Das schwarze Ungeheuer war ganz schön über die Autobahn geheizt…
Raimund hielt als erstes vor einem Telefonladen und erstand ein Ladegerät für das Handy (das von Jürgen passte nicht).
Danach ging es direkt weiter zur Bank.
Da Lisa sowohl ihren eigenen Pass, als auch den von Jürgen dabei hatte, war es kein Problem zum Schließfach zu gelangen.
Ihre Hand zitterte allerdings so sehr, dass Raimund die Kassette öffnete.
Oben auf lag der Original Kaufvertrag für das Haus. Darunter ein ganzes Paket Kerima Moda Aktien und ein Sparbuch. Lisa klappte es auf und sah, dass darauf über hunderttausend Euro waren.
An das Sparbuch war mit einer Büroklammer eine Visitenkarte angeheftet. Die Prägeschrift kam ihr sofort bekannt vor – es war dieselbe, die ihr der Notar in Dänemark gezeigt hatte. Lisa zog die Karte ab und reichte sie Raimund. Dieser nickte und steckte sie ein.
Sie taten die Sachen alle in die Kassette und schlossen sie wieder.
Schweigend verließen sie nebeneinander die Bank. Lisa zog sofort Jürgens Handy hervor und wählte anhand der Nummer auf der Visitenkarte.
Es ging nur die Sekretärin ran. Dr. Diebholt sei heute auf Geschäftsreise, nein, sie könne jetzt nicht durchstellen, auch wenn dies ein Notfall sei, bei solchen Gelegenheiten stelle ihr Arbeitgeber sein Handy ab und rufe die Mailbox abends auf. Sie gab Lisa die Handy-Nummer und kurz darauf sprach Lisa eine Nachricht mit der dringenden Bitte um Rückruf – egal um welche Uhrzeit – darauf.
„Und nun?“ etwas ratlos und verzagt blickte Lisa den Mann an ihrer Seite an. Wie schnell man sich daran gewöhnen kann, dass ein anderer für einen entscheidet, wenn man nicht mag…
„Nun fahren wir erstmal zu dem neuen Haus. Vielleicht ist der Junge ja dort – oder Gepäck oder sonst etwas, das uns einen Hinweis gibt.“
„Einverstanden.“
Das Navi war diesmal schon schneller programmiert und nachdem das schwarze Ungeheuer mal wieder genug zu trinken bekommen hatte, machten sie sich auf den Weg.
Der elektronische Ratgeber dirigierte sie direkt durch die Berliner Innenstadt. Lisa saß gedankenverloren auf dem Beifahrersitz und achtete nicht auf den Weg.
Als der Wagen langsamer wurde, sah sie auf – aber sie waren immer noch mitten in Berlin, ein Schild wies gerade darauf hin, dass sie sich auf der Bundesstraße 96 befanden und der Tiergartentunnel 2,4 km lang sei. Man konnte auch schon die Öffnung des Tunnels sehen.
„Was ist – sind wir doch falsch?“ Sie blickte ihren Fahrer an und erschrak. Raimunds Gesicht glänzte vor kaltem Schweiß, seine Finger umklammerten das Lenkrad und der Wagen wurde immer langsamer.
„Herr Bruckner?“
Keine Reaktion.
„Herr Bruckner! Raimund!“
Er zuckte zusammen, sah sie mit schneeweißem Gesicht an „ich kann nicht - ich kann da nicht durch… ich wusste nicht, dass die Route durch den Tunnel führt…“
Sie wurden schon zum Verkehrshindernis.
„Rechts ran – auf den Seitenstreifen – los! Blinker raus!“
Mechanisch tat er, was sie sagte. Der Wagen kam zum Halten und blinkte noch immer.
„Ich kann hier nicht mehr drehen“ – sagte er mit gepresster Stimme.
Lisa sah auf den Schaltknüppel – es war ein Automatikwagen. Konnte sie den fahren? Nun, es wurde Zeit das herauszufinden.
„Ich fahre“ – sie versuchte sicher zu klingen.
Er nickte kraftlos, sah dann in den Spiegel, passte eine Lücke im Verkehr ab und stieg rasch aus. Lisa rutschte im Auto auf den Fahrersitz.
Ok liebes Auto – denn mal los.
Raimund saß nun auf dem Beifahrersitz, noch immer schwitzend und mit immer rascher werdender Atmung.
„Ich fürchte, wir müssen da jetzt durch…“
„Können Sie mich nicht k.o. schlagen?“ fragte er kläglich.
Lisa angelte nach hinten zu einer der vielen Tüten und zog eine dunkle Bluse heraus. Ohne sein Einverständnis abzuwarten, machte sie eine Rolle daraus und verband ihm damit die Augen. Dann schüttelte sie den Rest der Tüte auf die Rückbank und drückte sie ihm in die Hand „Falls sie spucken müssen – bitte hierein…“
Er saß komplett steif da, hielt die Tüte in der Hand und einzelne Schweißtropfen rannen ihm über das Gesicht. Es ging ihm wirklich schlecht.
Lisa klickte ihren Sicherheitsgurt ein und schaltete auf „D“. Blinker raus – na geht doch.
Der Wagen fädelte sich wieder in den Verkehr ein und Lisa steuerte ihn umsichtig in den Tunnel. Es war ein neuer und schön heller Tunnel – es ließ sich prima fahren und auch der Wagen gehorchte ihr wunderbar.
Neben ihr machte ihr seine Atmung allerdings langsam Sorge – war das schon Hyperventilieren?
„Sind wir schon drin?“ fragte er angespannt, als Lisa gerade die Mittelmarke passierte.
„Ich sag Bescheid, wenn es soweit ist“ – flunkerte sie.
Als das Tageslicht sie wieder hatte, sagte sie fast fröhlich „Sie können meine Bluse ausziehen.“
Was er tat – doch seine Atmung war immer noch nicht viel besser.
Nun war es Lisa, die den Randstreifen ansteuerte. Sie nahm ihm die Tüte aus den Fingern und öffnete sie. „Hier. Halten sie sich die vor den Mund und atmen Sie.“
„Ich werde nicht kotzen!“
„Nein – Sie Dummer – Sie sollen hineinatmen. Das beruhigt – weil Sie dann nur die verbrauchte Luft atmen!“
Er sah sie stirnrunzelnd und keuchend an.
Ok Lisa – dann anders.
Sie löste den Gurt, ergriff die Tüte, raffte sie vorne zusammen und beugte sich zu ihm hinüber. Mit einer Hand hielt sie ihm die Tüte vor, ihre andere lag auf seinem Arm – er war eiskalt.
Tatsächlich begann er nun in die Tüte zu atmen.
Wahrscheinlich hört er nie auf andere! Fuhr es ihr durch den Kopf.
Endlich wurde sein Atem ruhiger. Nach ein paar weiteren Atemzügen nahm Lisa die Tüte weg und rückte von ihm ab.
„Besser?“
„Ja danke. Ist mir furchtbar peinlich. Ich fahre wieder.“
„Nein. Sie sehen immer noch bescheiden aus – ich fahre.“
Sprachs, gurtete sich wieder an und warf den Blinker raus. Das Navi brachte sie sicher ans Ziel und der Wagen ließ sich leichter fahren, als sie gedacht hatte.
„Göberitz“ – las Lisa vor, als sie das Ortsschild passierten „scheint ein ziemlich kleines Nest zu sein.“
Raimund setzte sich gerader hin und musterte das Haus vor dem Lisa das schwarze Monster parkte. Es war ein hübsches Häuschen – wie gemacht für eine Familie. Im Vorgarten gab es einen gut gepflegten Steingarten, die Fassade des Hauses erstrahlte im gelblich weiß und dass Dach war glänzend und dunkel.
Lisa kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund und betete. Der Schlüssel ließ sich leicht drehen. Raimund, der hinter ihr stand, gab ein „Aha“ von sich und sie betraten das Haus, in dem Jürgen und Lisa Decker eigentlich hatten leben wollen.
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