Navigation |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Chap 7 - Die Handtasche einer Frau
Lisa brauchte einige Zeit, um diese Informationen zu verarbeiten. Langsam sichtete sie den Stapel Papier, den Raimund ausgedruckt hatte. Ok – auf den letzten von ihr gemachten Bildern sah sie etwas besser aus – obwohl dieser seltsame Matrosenanzug, den sie da trug…
Sie bekam kaum mit, dass ihr Begleiter sie zum Wagen bugsierte und kurze Zeit später wieder herausbeförderte und erst als er ihr eine Speisekarte vor die Nase hielt, begriff sie, dass er sie quasi entführt hatte.
„Suchen Sie lieber selber aus – sonst heißt es wieder, ich wäre zu bestimmend“ – brummte er.
Doch heute hatte Lisa keinen Kopf dafür. Sie wies die Karte zurück „Suchen Sie aus…“
Und versenkte sich wieder in die Ausdrucke.
Der verlockende Duft einer Suppe brachte sie schließlich dazu den Papierkrieg beiseite zu legen.
In ihrem Kopf war ein einziges Chaos.
„Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn! Ich bin weiß Gott keine Schönheit! Im Gegenteil – auf den Bildern bin ich hässlich. Und dennoch sollen sich zwei Männer um mich gestritten haben, die beide – gelinde gesagt - nicht schlecht aussehen?“
Er sah sie nachdenklich an „Vielleicht haben die beiden ihre inneren Werte erkannt?“
Sie runzelte die Stirn „Also ich weiß nicht… vielleicht hatten die Kerima Moda Anteile auch was damit zu tun… Und selbst wenn – was ist denn das für eine Art am Polterabend noch den anderen zu küssen? Und dann zu verschwinden? Warum denn nur??“
Raimund zuckte die Achseln – „das Rätsel gilt es wohl zu lösen oder?“
„Nur wie? Mein Gehirn gibt nichts preis… und die Geschichte wird immer wirrer. Ich bin also vor neuen Jahren abgehauen – am Tag vor meiner Hochzeit mit Rokko Kowalski. Und zwar mit einem dritten Mann – mit Jürgen Decker, den ich dann auch geheiratet habe. Und dann beschließen er und ich plötzlich wieder nach Berlin zu kommen. Brechen alle Brücken ab – aber wir kommen nicht an, da Jürgen in den Kopf geschossen wird und stirbt.“
„So in etwa.“
Lisa rieb sich die schmerzende Schläfe „Kann ich nicht eine ganz normale Vergangenheit haben? Von mir aus als langweiliger Single, als Verkäuferin arbeitend und stinknormale Tage verbringend?“
„Lisa … äh Frau Decker..“ – er fasste nach ihrer Hand, drückte sie leicht „das Rätsel wird sich lösen, bestimmt.“
Sie lächelte ihn traurig an „So langsam weiß ich gar nicht, ob ich es noch lösen will. Jede neue Information macht mich ganz krank! Was wenn ich kein guter Mensch bin? Was wenn ich alle manipuliere? Was, wenn ich mich selbst gar nicht leiden kann?“
„Das glaube ich nicht. Wir bleiben am Ball – und ich bleibe so lange bei Ihnen, wie Sie mich brauchen können.“
„Wieso? Wieso tun Sie das?“
Er grinste schief „Hab eh nichts anderes vor. Und Sie in diesem Dilemma alleine sitzen zu lassen – das kommt ja man gar nicht in Frage!“
„Hey Lieselotte!“
Jürgen stand hinter der Eistheke und hielt ihr eine Waffel hin.
Sie nahm sie und grinste ihn an „willst Du jetzt jede Nacht kommen und mich mästen?“
Er griente zurück, rückte sich sein Dreieckscappy zurecht und fragte „Würd Dich das stören?“
„Nein.“ Sie blickte sich um. Die Eisdiele war leer, aber blitzesauber.
„War ein toller Laden“ – sagte Jürgen und sah sich voller Stolz um. „Hab gerne hier gearbeitet. Zuerst hatten wir nur den Kiosk – den genialen Einfall mit dem Eis hattest Du natürlich mal wieder…“
Lisa strich über die strahlend weiße Theke „Hab ich hier auch gearbeitet?“
„Nee. Du hast… was anderes gemacht. Das hier war mein Ding sozusagen.“
„Was anderes gemacht?“
Er nickte, sagte aber nichts weiter und sie fragte nicht weiter.
Lisa setzte sich auf einen der hohen Hocker und sah ihren Mann an „Jürgen – war ich, bin ich ein schlechter Mensch?“
Seine Gesichtszüge entgleisten „Ob Du was bist? Spinnst Du jetzt komplett??“
Sie senkte den Blick „Je mehr ich über mich erfahre, desto schrecklicher finde ich das alles...“
„Jetzt hör mal zu Frau Decker! Ich hab fast neun Jahre mit Dir verbracht. Täglich! Und ich bereue nicht einen.“
Eine Träne lief ihre Wange hinab „Waren wir denn glücklich zusammen?“
„J..a“ – sagte er zögernd „hör mal Süße – wir waren nicht das totale Liebespaar – aber wir waren die allerbesten Freunde. Du bist das Wertvollste in meinem Leben. Wirst es immer sein. Ja – wir waren glücklich miteinander – und wir wollten uns auch nicht trennen, falls Du das fragen wolltest.“
„Aber Jürgen – ich war mit dem einen verlobt, hab den anderen geküsst und bin dann mit dem Dritten durchgebrannt. Was ist das denn??!“
Er trat vorm, strich ihr sachte über die Wange „Lisa. Süße. Dafür gibt es eine Erklärung – glaub mir!“
Sie schmiegte ihr Gesicht in seine Handfläche.
Seine Hand glitt tiefer, unter ihr Kinn und hob es an „Fahr nach Hamburg, Süße und hol Dir Deine Handtasche.“ Er beugte sich vor und küsste sie ganz sanft auf den Mund – es fühlte sich kühl und weich an. „Süße – sei stark, wenn Du reinguckt, weil…“
Doch in diesem Moment löste er sich auf und er konnte den Satz nicht vollenden.
Lisa wachte tränenüberströmt auf und presste ihr Gesicht in das Kopfkissen. Ich wünschte Du wärest hier Jürgen – ich glaube, dann wäre alles leichter… Und was – um Himmels Willen erwartete sie in ihrer Handtasche?!
Ich bleib einfach hier liegen! Ich steh nicht mehr auf! Ich will nicht mehr!
Doch in diesem Moment tauchte Raimunds Gesicht vor ihr auf – entschlossen ihre unmittelbare Zukunft in die Hand zu nehmen. Wider Willen musste sie lächeln. Sie würde Morgen aufstehen. Sie wollte keinesfalls aus dem Bett gezerrt, angezogen und gefüttert werden…
Noch immer im Gefühlschaos versunken und voller Angst, was die Zukunft bringen würde, schlief sie wieder ein.
Gegen elf fuhren sie aus Esbjerg fort. Sie hatten ihre Brillen und die Linsen abgeholt und während Raimund fuhr, versank Lisa wiederum in die Papiere aus dem Netz. Doch es brachte nicht mehr viel Neues.
Sie packte sie ins Handschuhfach und seufzte aus tiefstem Herzen.
„Himmel – das klingt ja furchtbar.“
Im Versuch, die Situation aufzulockern, antwortete sie „na ja – meine Situation ist ja auch ziemlich verwickelt und obendrein gehen mir die Anziehsachen aus. Was da noch in meiner Tasche ist, kann ich unmöglich anziehen!“
„Ok – dann kaufen wir noch ein, bevor wir die Handtasche abholen.“
„Ach was – so wichtig ist das nicht. Und außerdem zu teuer. Irgendwo werde ich jawohl meine Kleidung gelassen haben.“
„Ich nehme mal an gleich zum neuen Haus in Berlin geschickt oder?“
Verblüfft antwortete sie „darauf wäre ich nie gekommen!“
„Nein – das ist ganz einfache männliche Logik. Aber wenn die Sachen ähnlich sind, wie die jetzigen, dann haben Sie ein Problem!“
„Wenn das mein einziges Problem wäre!“
Kurze Zeit später holte Lisa überrascht Luft, denn der Wagen bog von der Straße ab und hielt – schon in Hamburg – vor einem kleinen Second Hand Laden.
Sie lieferten sich einen kleinen Zank, ob das jetzt nötig wäre, da Lisa zur Handtasche wollte, aber schließlich betrat sie denn doch den Laden.
Es war ein wunderbarer Tag für die Ladenbesitzerin. Die Preise waren zivil, die Sachen vollkommen in Ordnung und es gab sogar einen Markenständer.
Raimund ließ sich in einen Regiestuhl fallen und machte alle Anstalten dort längere Zeit zu verbringen.
Er hatte Recht.
Lisa kaufte Kleider, T-Shirts, Hosen, Schuhe, Sandalen und einen neuen Mantel. Die Verkäuferin beriet Lisa gut und wurde ganz rot vor Freude als Lisa ganze dreihundert Euro bei ihr ließ. Da alle Sachen frisch gewaschen waren behielt Lisa eine Jeans und ein T-Shirt mit Schmetterlingsapplikationen gleich an. Sie band sich die Haare mit einer neuen – gebrauchten – Haarspange zurück und wippte auf ihren neuen (wirklich neuen) Turnschuhen vor ihrem Weggefährten auf und ab.
„Viel besser“, brummte er – „wirklich!“
„Danke“ strahlte Lisa und fühlte sich – trotz alle Misslichkeiten – besser.
So gestärkt hatte Lisa nichts dagegen, dass Raimund auch noch vor einem Wäschegeschäft hielt, wo sie erneut Geld ausgab, um sich auch darunter wohl zu fühlen. Diesmal ging sie allerdings alleine in den Laden.
Ihre Stimmung war recht gut, als sie bei der Kripo ankamen.
Lisa quittierte den Erhalt ihrer Handtasche und erfuhr, dass es in ihrem „Fall“ nichts Neues gäbe.
Noch auf dem Parkplatz packte Lisa die Handtasche aus, wobei sie die Motorhaube des schwarzen Ungeheuers als Tablett benutzte.
„Sieh an – ich habe einen Führerschein!“ meinte sie fröhlich und begann weitere Dinge zutage zu fördern. Einen Labello, einen Kamm, eine Geldbörse mit Kreditkarte und fast sechshundert Euro, ein Schlüsselbund mit diversen Schlüsseln, Taschentücher, Aspirin, einen Zettel mit der – nun schon bekannten – Adresse des neuen Hauses, eine Ersatzbrille (wie hässlich!), ihr Handy – dessen Akku natürlich leer war – und schließlich ein kleines Einsteckalbum.
Zitternd schlug sie es auf. David Seidel und sie grinsten in die Kamera, sein Arm war um ihre Schultern gelegt, ein älteres Ehepaar, das sehr gestellt lächelte, Jürgen grinsend, eine junge Frau, die keck lachte und ein Baby hochhielt, Rokko Kowalski – die Daumen in seiner Jeans verhakt und lockenverweht und dann das Hochzeitsfoto von ihr und Jürgen. So richtig glücklich sahen sie da aber nicht aus! Das nächste Foto ließ sie nach Luft schnappen, das Album fiel zu Boden und es rauschte in ihren Ohren. Mit beiden Händen stützte sie sich auf der schwarzen Motorhaube ab.
Raimunds Arme umschlossen sie fest, führten sie zum Beifahrersitz und drückten sie darauf nieder. Dann ging er rasch wieder nach vorne, hob das Album auf und sah es nun seinerseits durch.
Ihre Blicke begegneten sich durch die Frontscheibe hindurch und in ihnen stand die gleiche Verblüffung und Frage.
|
|
|
|
|
|
|
Seit dem 29.02.2008 waren schon 112612 Besucher (248223 Hits) auf dieser Seite! |
|
|
|
|
|
|
|