Richard und Sophie von Brahmberg Fanpage
  Freundschaften
 
(Lisa freie FF!)

Kapitel 1

„Rieke, hopp, Einsatz“.
Ihr Vorgesetzter öffnete die Bürotüre schwungvoll und schreckte Friederike Buhr aus ihrem Dämmerzustand auf. Sie hatte Berichte getippt am PC, um sich die Zeit der Nachtschicht zu verkürzen und musste darüber wohl am Schreibtisch beinahe eingeschlafen sein.
„Oh nein, bisher war’s doch so ruhig“ maulte Rieke. „Was ist denn los?“
Friederike Buhr war mit Leib und Seele Polizistin, wollte nie etwas anderes werden und verfolgte zielstrebig ihre Karriere bei der Kriminalpolizei in Berlin. Aber Nachtschichten hasste sie, hatte sie immer gehasst, da sah man das hässlichste Gesicht der Stadt und der Menschen, die diese Stadt ausmachten.
„Schlägerei oder so was, mutwillige Körperverletzung“ brummte ihr Vorgesetzter Horst Kreuzer.
„Ach, und warum machen das nicht die Kollegen von der Schutzpolizei?“ fragte Rieke, während sie aber schon ihre Jacke vom Haken nahm und sie sich überstreifte.
„Weil es nicht irgendwo im Tiergarten ist, sondern bei den feinen Leuten von Kerima Moda. Als ob wir nicht genug zu tun hätten mit dem ganzen Abschaum der Stadt, nein, jetzt fangen auch noch die Reichen und Schönen an sich gegenseitig eine rein zuhauen“ schnaubte Horst genervt. „Komm“ er hielt ihr die Tür zum Treppenhaus auf und gemeinsam gingen sie zügig zu ihrem Dienstwagen.

‚Kerima Moda’ dachte Rieke sehnsüchtig, während sie Richtung Potsdamer Platz zu der Kerima Zentrale fuhren. Sie kannte den Store auf dem Kurfürstendamm, war schon häufiger vorm Schaufenster gestanden und hatte die Kreationen bewundert oder sich versonnen gefragt, wann sie wohl mal eine Gelegenheit bekommen würde, so etwas anzuziehen. Sie wusste, dass der Designer Hugo Haas hieß, er war nahezu ebenso häufig in der Boulevard Presse zu sehen wie der Juniorchef des Hauses, David Seidel. Auch er war ein häufiger Partygast in der Berliner Mode- und Promiszene. Sie erinnerte sich wage an eine sehr hübsche brünette Frau an seiner Seite und dass sie etwas von einer bevorstehenden Hochzeit gelesen hatte, aber das war auch schon alles, was ihr zu dem Namen „Kerima“ einfiel.

„Träumst Du?“ Horst schaute durch die geöffnete Türe amüsiert zurück ins Auto. „Wir sind da, los, aussteigen.“ Er grinste noch mal und warf dann seine Autotür zu während Rieke sich beeilte auszusteigen um ihm in die Empfangshalle des beeindruckenden Bürohauses zu folgen.
Der Pförtner teilte ihnen mit, dass sie in den 14. Stock müssten, dort sei die Chefetage des Bürokomplexes von Kerima Moda.

„Was ist dass denn um Himmels Willen?“ platzte Rieke raus, als sich die Fahrstuhltüre zu einem großen Foyer voller Menschen hin öffnete. Und die sahen alle extrem merkwürdig aus, ‚um es mal höflich zu formulieren’ dachte Rieke.
„Kostümball“ raunte ihr Horst aus dem Mundwinkel zu, „guter Zweck und so.“ Dabei verdrehte er leicht die Augen, setzte aber direkt wieder sein professionelles Gesicht auf, als ein Mann auf ihn zukam mit langen Zottelhaaren und zerrissener Kleidung.
„Rokko Kowalski, PR Abteilung Kerima Moda. Entschuldigen Sie bitte meine Aufmachung, das hier ist ein Kostümfest. Sie sind von der Polizei?“ dabei schaute er Rieke an, streckte aber Horst Kreuzer die Hand hin.
‚Und was bitte stellst Du dar?’ fragte sich Rieke gerade verzweifelt, als eine Prinzessin und ein Prinz in ihr Blickfeld gerieten. Der Prinz wurde gerade von einem Sanitäter verbunden, anscheinend blutetet er stark am Arm oder der Hand. ‚Interessant’, dachte sie, normal schlugen sich die Leute die Nasen ein, aber blutige Arme ohne einen Kratzer im Gesicht hatte sie bisher nur bei Messerstechereien gesehen. Vielleicht wollte ihn auch einfach jemand für dieses scheußliche Kostüm mit den kurzen Pumphosen bestrafen, das könnte sie absolut nachvollziehen.

„Kreuzer mein Name, Kripo Berlin, das ist meine Kollegin Frau Buhr“ stellte Horst sich vor. „Sie können uns sagen, was genau vorgefallen ist?“
„Naja, alle Einzelheiten habe ich auch nicht mitbekommen, aber für einen ersten Einblick dürfte es reichen“ antwortete Kowalski und sah dann stumm Rieke an.
„Mhm,“ räusperte sich ihr Vorgesetzter, „und möchten Sie uns diesen Einblick auch geben, Herr…“
„Kowalski, Rokko Kowalski. Entschuldigen Sie, selbstverständlich“. Er schaute sich noch mal kurz im Raum um, dann meinte er: „Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro, da ist es ruhiger!“
Er zeigte mit der Linken die Richtung an und ging dann mit einem gemurmelten ‚Sie erlauben’ voran zu einer Bürotüre, die seinen Namen trug.
„Treten Sie bitte ein“ Kowalski blieb in der Türe stehen und ließ den beiden Polizisten den Vortritt.

Beim Durchqueren des Foyers hatte Rieke weitere Eindrücke der Szenerie gesammelt: eine Frau im Rollstuhl, ebenfalls eine Prinzessin oder eine Königin stritt sich bitter mit einer weiteren Dame mittleren Alters, offensichtlich eine schwarze Königin der Nacht. Rieke hatte nur ein ‚was hast Du nur aus Deinem Sohn gemacht’ deutlich mitbekommen, die gezischte Antwort der schwarzen Dame konnte Sie nicht verstehen. Nicht weit von den beiden Frauen saß ein älterer, grauhaariger Mann, verkleidet als Bischof, wenn sie das richtig erkannt hatte, und hatte das Gesicht in einer verzweifelt wirkenden Geste in den Händen vergraben. Der Rest der Gäste schien sich fast ausschließlich um die Bar versammelt zu haben und die Ereignisse zu diskutieren.

„Einen Moment bitte“ sagte Rieke, bevor sie das Büro von Rokko Kowalski betrat und ging hinüber zu der Gruppe an der Bar.
„Guten Abend, mein Name ist Buhr, Kriminalpolizei Berlin“ stellte sie sich vor und zeigte kurz Ihren Ausweis. „Würden Sie bitte alle noch so lange hier bleiben, bis wir kurz mit Ihnen gesprochen haben?“
Einige Köpfe nickten zustimmend, anscheinend hatte sowieso keiner der Anwesenden große Lust, nach Hause zu gehen.
„Wir sind gleich bei Ihnen“ versicherte Rieke der Gruppe und ging zurück ins Büro von Herrn Kowalski, wo die beiden Herren schon Platz genommen hatten und auf sie warteten.

„Also, wenn Sie uns bitte alles erzählen würden, was sich hier heute Abend zugetragen hat“ forderte Horst Kreuzer den Kerima Moda Vertreter auf zu sprechen.
„Ja, selbstverständlich“ Rokko Kowalski setzte sich nochmals gerade hin und begann:
„Wie Sie ja schon wissen, findet hier heute das jährliche Kerima Moda Kostümfest zugunsten eines wechselnden guten Zweckes statt. Es sind…, waren besser gesagt, alle Angehörigen der Geschäftsleitung von Kerima Moda anwesend.“
„Wer ist nun nicht mehr da?“ warf Horst Kreuzer ein.
„Richard von Brahmberg, der zweite Geschäftsführer neben David Seidel.“ Er schaute die beiden Kripobeamten erwartungsvoll an, so, als müsste das nun alles erklären.
„Aha“, bemerkte Rieke, „und verraten Sie uns auch, warum Herr von Brahmberg als einziger das Fest schon verlassen hat?“ Neugierig zog sie die Augenbrauen hoch.
„Oh, natürlich, selbstverständlich. Er ist abgehauen!“ Wieder schaute dieser komische Vogel neugierig von einem zum anderen.
Horst Kreuzer rollte genervt mit den Augen.
„Herr Kowalski,  würden Sie uns bitte kurz und dafür umso schneller nun endlich die Ereignisse hier heute Abend schildern, die uns hergeführt haben? Um ein Ratequiz zu veranstalten haben wir keine Zeit!“ Sein Ton wurde nun schon schärfer.
„Oh, ja, natürlich. Also Herr von Brahmberg ist, oder sollte ich vielleicht besser sagen, war, mit Frau Hofmann, unserer Empfangsdame liiert. Nicht, dass das irgendjemand nachvollziehen konnte, denn die beiden sind nun wirklich ein seltsames Paar und …“
„Herr Kowalski, ist das wichtig?“ unterbrach in Horst Kreuzer barsch.
„Äh, nein, oder doch, also, zum Teil. Nun, Frau Hofmann erwartet ein Kind von Herrn von Brahmberg, also, heißt es. Die beiden haben sich aber heute Abend gestritten, ziemlich lautstark möchte ich betonen, also nicht dass Sie denken, ich hätte gelauscht oder so. Und Frau Hofmann ist dann auf die Bühne gegangen und hat allen verkündet, dass der von Brahmberg doch nicht der Vater ihres Kindes sei, weil er es nämlich nicht bringen würde.“ Hier machte er wieder eine Pause und sah bedeutungsvoll von einem zum anderen.
„Nun ja, das ist ja nun noch nicht wirklich ein Verbrechen Herr Kowalski“ bemerkte Rieke und schaute zweifelnd zwischen ihm und ihrem Vorgesetzten hin und her, während Horst Kreuzer anfing, ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne zu trommeln.
„Nein, natürlich, obwohl man sich schon fragen muss, also vom moralischen Standpunkt aus gesehen...“
„Weshalb sind wir hier?“ unterbrach Kreuzer ihn wieder barsch. „Es war die Rede von schwerer Körperverletzung“
„Ja, also, Herr von Brahmberg hat nach diesem dramatischen Auftritt Frau Hofmann wütend gepackt und im darauf folgenden Handgemenge von der Bühne gestoßen, wo sie bewusstlos liegen blieb. Sie ist mittlerweile mit dem Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Herr von Brahmberg versuchte unmittelbar darauf zu gehen, aber sein Bruder, das heißt, Halbbruder, also David Seidel, hat sich ihm in den Weg gestellt.“
Wieder legte er eine Pause ein, als könne man sich den ganzen Rest schon denken.
„Der verletzte Prinz im Foyer?“ fragte Rieke.
„Sehr aufmerksam, ja, das ist David Seidel, der zusammen mit seinem Bruder, also Halbbruder, die Firma leitet. Mehrheitseignerin ist Frau Lisa Plenske. Die ist auch da.“
„Die Dame im Rollstuhl?“ riet Rieke, denn diese hatte trotz ihrer offensichtlichen Behinderung eine natürliche Kompetenz ausgestrahlt.
„Nein, nein, das ist Frau Laura Seidel, die Mutter von David und Ehegattin von Friedrich Seidel, Firmengründer und Vater der beiden Geschäftsführer.“
„Und womit hat Herr von Brahmberg Herrn Seidel denn verletzt?“ fragte Horst Kreuzer.
„Oh, die beiden haben ihre jeweils zum Kostüm gehörenden Waffen gezogen“.
„Also, Herr Seidel einen Degen, Herr von Brahmberg ein Schwert“ beeilte er sich hinzuzufügen, als er einen bösen Blick von Kreuzer auffing.
„Die hatten echte Waffen an den Kostümen?“ fragte Rieke leicht fassungslos.
„Ja, so sieht’s aus“ Kowalski zuckte leicht mit den Schultern. „Ich habe nicht mitbekommen, ob Herr von Brahmberg auch verletzt wurde, aber Herr Seidel hat eine Wunde am Unterarm, die stark blutete. Die Sanitäter kümmern sich um ihn, wie sie ja gesehen haben. Der Herr von Brahmberg ist in der Aufregung dann entkommen.“
„Dann werden wir am Besten mal mit Herrn Seidel reden, ob er Anzeige erstatten möchte“ bemerkte Kreuzer und stand auf. „Vielen Dank für den Über…, äh, Einblick in die Familiengeschichte, Herr Kowalski“.
Er wand sich zur Türe, die er seiner Kollegin aufhielt. Als Rieke an ihm vorbei ging rollte er erneut mit den Augen und zeigte somit an, dass er diesen Kowalski nicht ganz voll nahm.
„Du die Leute an der Bar, ich den blutenden Prinzen, oder umgekehrt?“ fragte er Rieke.
„Das Prinzenpaar steht mittlerweile bei den anderen an der Bar, also machen wir beide alle zusammen“ stellte Rieke nach einem Blick ins Foyer fest.
„Na denn mal los“ brummte Kreuzer und steuerte die Menge an, die mittlerweile wohl verstummt war.

Kapitel 2

„Puh, was für eine wirre Geschichte“ seufzte Rieke und ließ sich in den Beifahrersitz neben Horst plumpsen.
„Na, das kannst Du aber laut sagen, erst waren sie alle ganz stumm und dann konnten sie gar nicht schnell genug alle schlechten Eigenschaften dieses von Brahmbergs aufzählen. Viele Freunde hat der in der Firma wahrlich nicht.“
„Jepp, schaut so aus. Dafür hat er nun eine Anzeige wegen Körperverletzung von seinem Bruder am Hals und diese Frau Hofmann wird ja vermutlich auch noch Anzeige erstatten“ bemerkte Rieke. „Und was machen wir jetzt?“
„Wir fahren jetzt erstmal zu diesem netten Herrn nach Hause und schauen mal, ob er auch was dazu zu sagen hat. Falls er denn da ist“ fügte Horst viel sagend hinzu.

Eine halbe Stunde später standen die beiden Kriminalbeamten vor einem schicken Appartementhaus am Rande der Berliner City.
„Dann wollen wir mal“ brummte Horst Kreuzer und ließ seiner Kollegin den Vortritt in den Fahrstuhl, der sie in das oberste Stockwerk brachte. „Penthouse, schick“ murmelte Kreuzer als sie angekommen waren und aus dem Fahrstuhl in den Gang hinaus traten. Als sie sich umschauten sahen sie, dass es hier zwei Wohnungstüren gab – anscheinend teilte sich Herr von Brahmberg den obersten Stock noch mit weiteren Bewohnern. Mit einem kurzen Blick auf die Uhr stellte Rieke aber fest: „Fast halb drei. Die Nachbarn können wir jetzt nicht mehr befragen, was für einer der von Brahmberg wohl so ist!“
„Lass’ uns erst mal klingeln, vielleicht ist das saubere Bürschchen ja doch zu Hause“ meinte Horst und ließ seinen Finger sekundenlang auf dem Klingelknopf. Man hörte, wie in der Wohnung eine wohlklingende Melodie ertönte, aber auch nachdem Horst Kreuzer noch mehrmals lang anhaltend  auf den Knopf gedrückt hatte rührte sich nichts.
„Tja, der Vogel ist ausgeflogen. Oder sitzt irgendwo rum und betrinkt sich. Schließlich wurde sein männliches Ego enorm angekratzt heute Abend“ bemerkte Kreuzer mit einem schiefen Grinsen zu Rieke.
„Ich weiß ja nicht“ erwiderte sie, „ er trägt ja wohl noch sein Kostüm, wo sollte er da hin, ohne groß aufzufallen?“
Kreuzer zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, aber vielleicht hatte er ja auch Sportklamotten im Wagen. Ich hab meine Tasche meistens im Kofferraum.“
„Du?“ Rieke musterte ihn von oben bis unten. Ihr Chef war nicht gerade dick, aber durchtrainiert würde sie ihn nun auch nicht gerade nennen.
Kreuzer knuffte sie in die Seite.
„Ja, ich! Und jetzt vergiss es einfach wieder, ich weiß selber, dass ich sie auch ab und zu mal raus nehmen sollte, um Sport zu machen“. Er zwinkerte ihr zu und drehte sich Richtung Fahrstuhl.
„Lass uns gehen, hier können wir im Moment eh nichts ausrichten. Und der Typ ist ja nicht gerade ein Serienkiller, also reicht es wohl auch, wenn wir uns morgen weiter mit ihm befassen!“
„Ok, aber wir können ja wenigstens noch kurz einen Abstecher in die Tiefgarage machen um zu schauen, ob sein Auto tatsächlich nicht da ist, oder er einfach nur nicht öffnet“ entgegnete Rieke und drückte den entsprechenden Knopf im Fahrstuhl, der sie von ganz oben nach ganz unten bringen würde.

Auf dem Weg nach unten fragte Kreuzer: „Nach was für einem Auto schauen wir denn? Hast Du das bei Kerima mitbekommen?“
„Ja, dieser seltsame Kowalski hat es mir noch gesagt, kurz bevor wir gegangen sind. Porsche, 911er, Kennzeichen: B – KM 182, Farbe schwarz-metallic. Zugelassen auf die Firma, allerdings zur alleinigen und ausschließlichen Nutzung von Herrn von Brahmberg“ äffte sie den Tonfall von Rokko Kowalski nach.
Horst lachte auf. „Na, der war ja auch nicht ganz richtig im Oberstübchen möchte ich mal meinen!“
Sie traten aus dem Fahrstuhl raus und standen direkt in der Tiefgarage des Hauses, die etwa 30 Stellplätze umfasste. Nach einem kurzen Blick in die Runde stellte Rieke fest:
„Porsche ja, aber nicht der den wir suchen. Die Lücke da ist frei“ sie zeigte mit dem Finger links an Kreuzer vorbei hinter seinen Rücken, „da würde er wohl stehen müssen. Die angegebene Nummer könnte mit der Wohnung übereinstimmten: 10./1. Kann ‚zehnter Stock, Wohnung 1’ heißen“ mutmaßte sie.
„Ja“ stimmte ihr Kreuzer zu, „da könntest Du Recht haben. Nutzt aber nix, es ist keiner da. Lass uns versuchen ein paar Stunden Schlaf zu bekommen und dann sehen wir morgen weiter, ob wir den Brahmberg auftreiben können.“ Er dirigierte Rieke Richtung Fahrstuhl und dann durch die kleine Eingangshalle des Appartementhauses zu ihrem Wagen.
Genau in dem Moment, als die beiden einstiegen, öffnete sich auf der anderen Seite des Gebäudes die Garagentüre und ein schwarzer Porsche fuhr langsam die Rampe hinunter.

Am nächsten Vormittag saß Rieke an ihrem Schreibtisch im Präsidium und surfte gerade auf der Kerima Moda Seite im Internet. Sie hatte den Bericht über die Vorkommnisse in der Nacht fertig und wartete nun auf ihren Chef, der zu dieser Frau Hofmann ins Krankenhaus gefahren war, um heraus zu finden, ob sie ebenfalls, wie David Seidel, eine Strafanzeige gegen Richard von Brahmberg erstatten wollte. Während sie noch verschiedene Bildergalerien von Modenschauen durchklickte fiel ihr auf, dass David Seidel und Hugo Haas deutlich häufiger zu sehen waren als der von Brahmberg. Auch Max Petersen, der Personalchef von Kerima ließ sich anscheinend gerne mit den Models ablichten. Richard von Brahmberg dagegen war nur auf den offiziellen Bildern zu sehen, gestellten Gruppenfotos der Geschäftsleitung oder bei Empfängen, wobei er da überwiegend im Hintergrund stand.
Meist zeigte er ein recht verdrossenes, wenn nicht strenges Gesicht oder er hatte einfach eine ziemlich ausdrucklose Miene, ganz im Gegensatz zu seinem Halbbruder, der stets in die Kamera strahlte, mal mit, mal ohne Model im Arm. Auf den offiziellen Bildern wurde die schöne Brünette, an die sich Rieke wage erinnerte, als David Seidels Verlobte Mariella von Brahmberg bezeichnet. Rieke rätselte gerade darüber nach, warum sie wohl gestern Abend nicht auf dem Kostümfest gewesen war, als Horst Kreuzer zurück ins Büro kam.

Er schmiss seine Jacke über die Rückenlehne seines Stuhls und ließ sich drauf fallen.
„Das nächste Mal gehst Du wieder zu den heulenden Frauen“ motzte er los. „Man, war die unerträglich.“
Rieke grinste. Ihr Chef war so wenig ein ‚Frauenversteher’ wie er ein Sportler war.
„So schlimm?“ fragte sie mitfühlend.
„Schlimmer!“ grollte Kreuzer. „Hat die ganze Zeit entweder Löcher in die Luft gestarrt oder geheult. Nix Vernünftiges aus ihr rauszubekommen.“ Er kreiselte mit seinem Zeigefinger vor seiner Schläfe um anzuzeigen, dass er Frau Hofmann für leicht irre hielt.
„Will sie denn Anzeige erstatten?“ fragte Rieke neugierig.
„Das wusste Madame noch nicht“ nölte Kreuzer. „Meinte, er sei ja doch der Vater ihres Kindes und blablabla. Als ich sie damit konfrontiert habe, gestern Abend habe sie aber was ganz anderes behauptet, noch dazu vor allen Leuten, meinte sie, das wäre ja alles nicht so gemeint gewesen und sie wüsste jetzt auch nicht was sie machen sollte und jammer, jammer, jammer. Nix Vernünftiges, sag ich doch!“
„Bitte was?“ Rieke glotzte ihn blöde an. „Und dass sie jetzt im Krankenhaus liegt war auch nur ein Spaß, oder wie?“ verwundert schüttelte sie den Kopf.
„Naja, das liegt daran, dass sie wegen des Sturzes erstmal liegen muss um das Baby nicht zu verlieren. Wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, war sie heute Nacht nahe dran. Seltsam ist nur, dass ein junger Mann an ihrem Bett saß als ich kam, Rosen mitgebracht hatte, und die Vaterschaft für sich beanspruchte“ resümierte Horst mit viel sagend nach oben gezogenen Augenbrauen.
„Ach? Noch ein Vater? Und das ist der echte? Hat vermutlich keine Kohle, was?“ grinste Rieke.
„Woher weißt Du das? Er hat einen Kiosk.“ Horst sah erstaunt über den Tisch zu seiner Kollegin. Dann winkte er ab und meinte nur „ihr Frauen wollt ja eh immer nur das Eine von uns Männern.“
„Klar, eure Brieftasche, so sie denn dick genug ist“ bestätigte Rieke ihm mit einem zuckersüßen Lächeln.
Theatralisch griff sich Horst an die Brust.
„Dass Du auch so eine bist bricht mir das Herz! Ich hatte eine so hohe Meinung von Dir!“
„Tja, der Kontakt mit dem Geldadel von Berlin hat meinen Charakter verdorben. Und das innerhalb einer Nacht“ lachte Rieke und griff nach ihrer Jacke. „Na komm, dann lass uns doch noch mal zur Wohnung vom Brahmberg fahren, um unser Protokoll zu vervollständigen. Mittlerweile dürfte er ja wohl zu Hause sein.“

Aber auch heute hatten sie kein Glück, niemand öffnete auf ihr hartnäckiges klingeln hin. Auch in der Nachbarswohnung war niemand zu erreichen. Sie beschlossen, mal zu schauen, ob es einen Hausmeisterdienst oder ähnliches gäbe.
„Die Claasens sind seit ein paar Tagen verreist“ informierte sie der Hausmeister, nachdem sie ihn endlich gefunden hatten. „Und den Herrn von Brahmberg hab ich heute noch nicht gesehen, aber sein Wagen steht in der Tiefgarage. Kommen Sie, ich zeig’s ihnen“ winkte er die beiden zu sich und ging voraus ins Treppenhaus, um einen Stock tiefer in die Garage zu gehen.
„Da, schauen Sie… äh, der muss gerade weggefahren sein, vor einer Viertelstunde stand der Wagen da noch“. Der Hausmeister zeigte auf den leeren Platz 10./1, den sie in der Nacht schon gesehen hatten.
Kreuzer und Rieke wechselten einen Blick.
„Wissen Sie vielleicht, wann Herr von Brahmberg heute Nacht nach Hause gekommen ist?“ fragte Rieke.
„Nein, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß nur, dass sein Auto heute Morgen um halb sieben, als ich zum Dienst gekommen bin, auf dem Parkplatz stand und gerade eben vorhin auch noch. Sie müssen ihn knapp verpasst haben. Was hat er denn ausgefressen?“ zeigte der Hausmeister sich auf einmal interessiert. Anscheinend war ihm gerade erst aufgefallen, dass sich die beiden Polizisten doch etwas zu interessiert zeigten.
„Wir brauchen nur eine Zeugenaussage von Herrn von Brahmberg, weiter nichts“ beeilte sich Horst Kreuzer zu sagen. Er wollte auf keinen Fall, dass dieser von Brahmberg ihn nachher noch wegen Rufmords anzeigte, falls sich der ganze Fall als Nullnummer herausstellen sollte. Und bislang lag ja auch wirklich nur die Anzeige von seinem Halbbruder gegen ihn vor. Körperverletzung, sicher, damit war nicht zu spaßen, aber wer wusste schon, ob die sich nicht auf einmal wieder vertragen würden, falls z.B. die Presse Wind bekommen würde, und es galt, einen Imageschaden von der Firma abzuwenden. Er hatte in seiner langen Laufbahn schon zu viel erlebt in Bezug auf zurückgezogene Anzeigen und widerrufene Aussagen, so dass er vorsichtig geworden war.
„Vielen Dank dann erstmal. Wir werfen Herrn von Brahmberg eine Benachrichtigung in den Briefkasten dass er uns anrufen soll, wenn er wieder zurück ist.“ Rieke drückte dem Hausmeister entschlossen die Hand und die beiden gingen wieder hoch ins Foyer, ohne den Hausmeister weiter zu beachten.

Dann nahm sie eine ihrer Visitenkarten, kritzelte ‚rufen Sie mich bitte so schnell wie möglich an. Danke’ auf die Rückseite und warf es in den Briefkasten mit der Aufschrift: „R. vB“.
„Prima, mehr können wir erstmal nicht machen. Komm, es gibt Wichtigeres, wir können ja alle paar Tage mal schauen, was es Neues gibt“ bemerkte Horst dazu, „fahren wir zurück ins Büro!“


Kapitel 3

„Ich hab jemanden kennen gelernt“ flüsterte Rieke ins Telefon. Sie war im Büro und wollte nicht, dass alle hörten, was sie sagte, aber sie konnte auch nicht länger warten, ihrer besten Freundin die Neuigkeiten mitzuteilen.
„Waaaaaaaaaas? Wann? Wen?“ Ihre Freundin Jule brüllte so laut ins Telefon, dass Rieke schon befürchtete, nun seien doch alle Kollegen aufmerksam geworden, aber zum Glück achtete weiter keiner auf sie und ihr Chef Kreuzer war auch gerade nicht in der Nähe.
„Er heißt Volker und ich hab ihn vor vier Tagen umgerannt, hier direkt vorm Präsidium. Aber er war total nett und hat alles auf sich genommen und am nächsten Tag stand er da mit einer Rose und einem Bauhelm auf dem Kopf“ kicherte Rieke.
„Wie süüüüß. Aber auch albern, oder? Aber schon sehr romantisch, mit einer Rose“ seufzte Jule. „Uuuuuund?“ setzte sie dann hinzu.
„Nix ‚und’, was denkst Du denn. Wir waren Abendessen, so eine Einladung konnte ich doch nicht ausschlagen. Und gestern waren wir kurz in einer Bar, aber er musste heute sehr früh auf Geschäftsreise, deshalb sind wir nicht so lange geblieben. Aber er hat beim Pförtner was für mich abgeben lassen, von einem Kurier“ schmachtete Rieke.
„Oh Gott, Rieke, spann mich doch nicht so auf die Folter, verdammt. Sag schon, was hat er dir geschickt?“ drängelte Jule.
Rieke wurde leicht rot, was ihre Freundin zum Glück nicht sehen konnte. Volker hatte ihre eine kleine Box geschickt, in der in Rosenblättern eine Badeessenz, eine Duft-Kerze und ein Body-Öl lagen. Zusätzlich war ein kleiner handschriftlicher Zettel dabei: ‚ich freue mich darauf wenn ich Dich wieder sehe und Du außer diesem Duft nichts auf der Haut trägst’.
Sie erzählte es ihrer Freundin, die daraufhin  trocken meinte:
„Hat der einen Bruder?“
Sie verabredeten sich für den Abend, um alles noch mal ausführlich zu bequatschen. Jule war Fotografin und viel beschäftigt, in Berlin war ja immer was los. Deshalb war Rieke glücklich, so kurzfristig mit ihrer Freundin einen Abend verbringen zu können. Morgen Abend wäre Volker wieder da, und da wollte sie vorher ein entspannendes Bad nehmen.

Nachdem die beiden Freundinnen bei einigen Gläsern Rotwein ausführlich über das jeweils aktuelle Liebesleben geredet hatten – Jule traf sich gerade mit einem Tenor der Berliner Oper und war deshalb auf dem Mozart-Trip – tauschten sie sich noch kurz über besondere Vorkommnisse im Beruf aus. Rieke kannte Jule seit sie drei Jahre alt waren – Jule war damals mit ihren Eltern ins Nebenhaus gezogen und fortan waren die beiden Mädchen unzertrennlich – gemeinsamer Kindergarten, Schule, erste Lieben und ersten Kummer deshalb, die gegenseitige Unterstützung bei den Berufszielen – alles hatten sie seither geteilt und vertrauten sich gegenseitig 100prozentig. Deshalb hatte Rieke auch keine Bedenken ihrer Freundin von dem Vorfall bei Kerima Moda zu erzählen, der nun mittlerweile schon über eine Woche her war.
„Richard von Brahmberg hat sich immer noch nicht bei uns gemeldet. Ich bin sogar noch mal hingefahren, aber sein Auto ist nicht in der Garage und seit Tagen hat ihn keiner gesehen“ berichtete Rieke.
„Der hat sich wohl verdrückt. Dabei hat diese Frau Hofmann noch nicht mal Anzeige gegen ihn erstattet!“
„Ich find das ganz schön komisch“ erwiderte Jule. „Ich kenn den, der schien mir total sympathisch!“
Rieke riss die Augen auf.
„Du kennst den von Brahmberg?“
„Naja, kennen wäre vielleicht ein bisschen viel gesagt, aber ich hab schon bei einigen der Kerima Events fotografiert. Da hab ich ihn mal aus Versehen angerempelt und seinen Champagner verschüttet beim rückwärts gehen, du weißt schon, wenn ich am fotografieren bin, krieg ich nix um mich herum mit.“ Jule machte ein schuldbewusstes Gesicht.
„Und dann? Hat er Dich rausgeworfen, oder was?“ kicherte Rieke.
„Nein, ganz im Gegenteil. Mir war das natürlich alles sehr peinlich, aber er meinte das wäre doch nicht schlimm, und so. Wir haben dann vielleicht zehn Minuten recht angeregt miteinander geplaudert, bis jemand kam und ihn zu einem Termin mitnahm. Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, aber ich weiß noch ganz genau, dass er unheimlich nett war.“
„Und grüne Augen hat er“ setzte Jule mit einem verträumten Gesicht nach.
„Tja“ versetzte Rieke spöttisch, „wenn er natürlich grüne Augen hat, konnte er ja nur nett sein“.
Sie kannte die Vorliebe ihrer Freundin für Männer mit dieser Augenfarbe, was schon zu der einen oder anderen Enttäuschung geführt hatte, denn natürlich waren auch unter diesen Männern Reinfälle zu beklagen. Aber Jule lernte es wohl nicht mehr. Frech grinste sie ihre Freundin an.
„Womit ich leider deinem Urteil, dass der von Brahmberg total sympathisch ist, keinerlei Bedeutung beimessen kann“ sagte Rieke.
„Alle anderen mit denen wir gesprochen haben, finden, dass er so was wie die wandelnde Hölle auf Erden ist“.
Jule schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, das kann ich nicht glauben. Er ist wirklich nett. Ich hab ihn später noch ein paar Mal getroffen und immer hat er sich die Zeit genommen, kurz mit mir zu reden. Der war nie arrogant oder so was.“
„Naja, ist ja auch egal. Jetzt ist er erstmal unauffindbar und die Tatsache, dass er eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals hat kannst auch Du nicht wegreden.“
Dem musste Jule, wenn auch widerstrebend, zustimmen.

Als sie sich schließlich voneinander verabschiedeten meinte Jule, während sie Rieke heftig umarmte:
„Halt mich auf dem Laufenden über deinen Volker, ich will beim nächsten Mal ALLES über seine Qualitäten als Liebhaber wissen.“
„Du kannst es nicht lassen, was?“ lachte Rieke. „Aber mehr als ein ‚top oder flop’ wirst Du von mir nicht erfahren, ich bin diskret!“
„Ooooch, komm“ maulte Jule.
Aber dann lachte sie auf und flüsterte Rieke ins Ohr:
„Ich werde mich dann mal weiterhin ausgiebig mit der Zauberflöte beschäftigen!“
„Du bist unmöglich“ warf Rieke ihrer Freundin vor, aber auch sie musste laut kichern. „Dann viel Spaß!“

Als Rieke am nächsten Vormittag an ihrem Schreibtisch saß, brachte ein Bote einen Umschlag mit einer CD und einem Notizzettel von Jule.

‚Das sind die Fotos, die ich bei den letzten drei großen Kerima Moda Events gemacht habe. Vielleicht kannst Du es ja mal gebrauchen, ansonsten genieß einfach die schönen Kleider. Küsse, Jule’

Da in dem Moment ihr Telefon klingelte und sie zu einer Besprechung gerufen wurde legte Rieke die CD erstmal in ihre Schublade mit dem Entschluss, vielleicht später mal rein zu schauen, denn natürlich waren die Fotos nicht wirklich wichtig in diesem Fall. Trotzdem freute sie sich, dass ihre Freundin sich die Mühe gemacht hatte und nahm sich vor, gleich nach der Besprechung noch eine sms an Jule zu schicken.

Aber als sie zurück an ihrem Platz war kam schon der nächste Anruf.
„Spreche ich mit Frau Buhr?“ fragte eine Herrenstimme behutsam.
„Ja, das bin ich. Wie ist denn ihr Name und was kann ich für Sie tun?“ fragte Rieke vorsichtig. Normal wurden externe Anrufe von der Zentrale durch gestellt, aber dieser Anrufer hatte anscheinend ihre direkte Bürodurchwahl. Rieke konnte sich nur nicht erinnern, sie in letzter Zeit herausgegeben zu haben.
„Mein Name ich Claasen, Hermann Claasen. Meine Frau und ich wohnen neben Herrn von Brahmberg und haben seinen Briefkasten geleert. Dabei haben wir Ihre Visitenkarte gefunden. Ist etwas passiert?“ kam es zögerlich aus dem Hörer.
„Nein, nein“ beeilte sich Rieke ihm zu versichern. „Wir wollten Herrn von Brahmberg lediglich wegen einer Zeugenaussage sprechen.“
„Ach so, das ist alles?“ Herr Claasen schien nicht überzeugt, seinem skeptischen Tonfall nach, was Rieke neugierig machte.
„Ja, warum?“ fragte sie nach.
„Naja, wissen Sie, es ist nur so ungewöhnlich, dass er unseren Briefkasten nicht geleert hat. Wir waren 10 Tage verreist müssen Sie wissen, und Richard war immer gewissenhaft, hat sich um unsere Pflanzen gekümmert und so.“ Claasen klang bedrückt.

In diesem Moment reichte Horst Kreuzer, der gerade selber am Telefon gewesen war und nun aufgelegt hatte, ihr mit einem viel sagenden Blick einen Zettel rüber.
‚Brahmbergs’ Porsche wurde am Flughafen gefunden. Stand dort in der Kurzparkzone und wurde nun abgeschleppt’ stand darauf.
Rieke reagierte schnell.
„Herr Claasen, würde es Ihnen und Ihrer Frau etwas ausmachen, wenn ich mal kurz bei Ihnen vorbei kommen würde? Persönlich lässt sich doch immer besser reden als am Telefon!“
„Ja, gerne, wenn Sie möchten kommen Sie doch heute Nachmittag bei uns vorbei“ sagte ihr Herr Claasen zu und beendete das Gespräch.
Rieke tauschte Ihre Informationen kurz mit Horst aus.
„Gute Idee“ bestätigte er, „frag mal die Nachbarn ein bisschen aus, vielleicht wissen die ja, wo er sein könnte.“
„Richard ist ein guter Junge!“
Zwei Stunden später saß Rieke bei den Claasens’ am Kaffeetisch. Die beiden waren Mitte sechzig, seit 40 Jahren verheiratet und seit knapp 5 Jahren die Nachbarn von Richard von Brahmberg.
Und Rieke war nun völlig irritiert. Das Bild, das die Claasens’ von Richard von Brahmberg zeichneten stimmte in beinahe keinem Punkt mit dem überein, was sie von seiner Familie und den Angestellten von Kerima gehört hatte.
„Wissen Sie“ erzählte Herr Claasen, „damals als Richard die Wohnung neben uns kaufte, hatte ich gerade ein Gipsbein. Ich war beim Fallschirmspringen blöd aufgekommen und hatte mir den Knöchel gebrochen. Seither spiele ich nur noch Golf, sehr zu meinem Leidwesen aber der Freude meiner Frau“ beeilte er sich hinzuzufügen.
„Ja, und Richard hat sich, als er das sah, spontan bereit erklärt, uns zu helfen, solange mein Mann nichts tun konnte wegen des Gipsbeines“ warf Frau Claasen ein. „Er fuhr mit mir zum einkaufen oder meinen Mann zum Arzt. Ich selber habe leider nie den Führerschein gemacht, also war Richards Hilfsbereitschaft ein Himmelsgeschenk. Daraus hat sich eine intensive Freundschaft entwickelt.“
„Bei seinen Angestellten und seinem Halbbruder, David Seidel, ist er weniger beliebt, wenn ich das richtig verstanden habe“ warf Rieke zögerlich ein.
Die beiden Claasens’ tauschten einen Blick.
„Ja, das wissen wir!“ bestätigte Herr Claasen. „Aber das ist etwas, was uns nichts angeht. Wir haben versucht, ihm diesbezüglich ein bisschen ins Gewissen zu reden, aber wenn es um Kerima oder David Seidel geht verschließt er sich wie eine Auster!“
Frau Claasen seufzte.
„Dabei ist er, sobald er Freizeit hat, wie ausgewechselt. Nur manchmal kommt dann diese Wut durch, die er in sich trägt.“ Sie sah zu ihrem Mann, der unmerklich nickte.
„Wissen Sie, Frau Buhr“ vertraulich legte sie Rieke die Hand auf den Arm, „wir kennen einige Leute aus der Berliner Modeszene, und immer wieder hören wir, wie streng und unnahbar Richard geschäftlich ist, und dass ihn viele für einen übellaunigen Gesellen halten. Aber wir haben noch nicht herausgefunden, was der Grund für sein Verhalten ist.“
„Kennen Sie Frau Sabrina Hofmann?“ wagte Rieke einen Vorstoß.
Die beiden zuckten mit den Schultern.
„Kennen wäre zu viel gesagt, sie war einmal bei einem Abendessen dabei, zu dem Richard uns eingeladen hatte. Keine sehr helle Person, aber Richard sah wohl noch etwas anderes in ihr“ meinte Herr Claasen.
„Wissen Sie, dass sie ein Kind erwartet von Herrn von Brahmberg?“
Wieder tauschten die beiden einen Blick.
„Richard hat uns erzählt, dass Frau Hofmann schwanger ist, aber er nicht der Vater sei“ seufzte Frau Claasen. „Er hätte eine andere Frau verdient, ganz ehrlich, aber er wollte wohl eine eigene Familie, und als sie sagte, sie sei schwanger, da hat er für das Kind sorgen wollen.“
„Er wusste es?“ fragte Rieke ungläubig nach.
„Ja, warum? Hat das etwas mit seiner Zeugenaussage zu tun?“ fragte Herr Claasen misstrauisch.

Rieke erzählte den Beiden die ganze Geschichte, wie Richard Sabrina von der Bühne gestoßen hatte und dann noch David Seidel verletzt hatte und dieser ihn wegen Körperverletzung angezeigt hatte.
„Am Tag des Kostümballs bei Kerima?“ ungläubig schaute Frau Claasen Rieke an.
„Dann ist er seit über 8 Tagen verschwunden? Das kann ich kaum glauben, warum sollte er so etwas tun?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten“ entgegnete Rieke. „Ich weiß nur, dass sein Porsche heute am Flughafen abgeschleppt wurde, weil er länger als eine Woche in der Kurzparkzone stand. Meine Kollegen versuchen heraus zu finden, wie der Wagen dort hinkam.“
„Das muss alles ein großes Missverständnis sein“ meinte Frau Claasen kopfschüttelnd.
„Er würde nie verreisen ohne uns vorher Bescheid zu geben“ stellte sie entschlossen fest und stand auf.
„Kommen Sie, wir gehen mal rüber in seine Wohnung und schauen, ob er wirklich Koffer gepackt hat.“

„Und? Haben Sie das Gefühl es fehlt etwas?“ Ein bisschen ratlos schaute sich Rieke in der gepflegten Wohnung um. Die Einrichtung war eine Mischung aus Antiquitäten und zeitlos-modernem, sehr maskulin, dennoch einladend, hell und freundlich. Auch wenn es nicht allzu viele persönliche Gegenstände gab, zum Beispiel keinerlei Bilder von Freunden oder Familienmitgliedern. In der Luft hing noch ganz leicht der Duft eines Herrenparfums, den Rieke als sehr angenehm empfand. Aber ansonsten wies nichts darauf hin, dass in letzter Zeit jemand da gewesen wäre.
„Frau Stein, unsere und auch Richards Zugehfrau, hat wohl aufgeräumt vorgestern. Sie kommt immer montags müssen Sie wissen“ bemerkte Herr Claasen.
„Irgendwie ist es merkwürdig“ murmelte seine Frau, während sie über den weichen Teppich im Schlafzimmer in ein angrenzendes Ankleidezimmer mit Regalen und Kleiderstangen ging.
„Was ist merkwürdig?“ fragte Rieke nach.
„Abgesehen von der Tatsache, dass wir in Richards Wohnung rumstöbern? Ich kann es Ihnen nicht sagen, es ist mehr so ein Gefühl.“ Frau Claasen zuckte mit den Schultern.
„Sehen Sie, es fehlen eindeutig Sachen,“ sie zeigte auf Lücken zwischen den ordentlich aufgereihten Herrenschuhen am Boden des Schrankes, auch einige Bügel waren leer, „aber nur Anzüge und Anzugschuhe. Normalerweise nimmt er selbst wenn er geschäftlich unterwegs ist, seine Sportsachen mit. Aber sehen Sie“ sie machte Rieke auf eine Reihe verschiedener Turnschuhe aufmerksam, „alle da. Auch seine Golfausrüstung ist da, und die nimmt er immer mit, wenn er in den Urlaub fährt.“
„Naja, er hatte es ja wohl etwas eilig“ gab Rieke zu bedenken.
„Richard ist nicht abgehauen, wenn Sie das damit andeuten möchten“ fuhr Frau Claasen sie an, „niemals!“ Auch ihr Mann nickte bekräftigend.
Rieke allerdings zog es vor, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Sie ging wieder zurück in den großen Wohnraum, wo es auch eine Arbeitsecke mit einem großen antiken Schreibtisch gab. Ein Stapel Briefe lag darauf, den wohl Frau Claasen früher am Tag hereingelegt hatte, als sie festgestellt hatten, dass Richard von Brahmberg weder ihren noch seinen eigenen Briefkasten geleert hatte.
Auch eine lederne Schreibmappe lag da, die Rieke nun aufschlug. Ein paar Briefe waren darin, die Verlängerung der Mitgliedschaft im Golfclub, ein paar Einladungen zu gesellschaftlichen Ereignissen und… Rieke stutzte: ein ausgedrucktes Email mit einer Flugbestätigung, Flug-Datum zwei Tage nach dem Kostümball, Flugroute: Berlin – London - Los Angeles - Rio de Janeiro. Einfach. Kein Rückflugticket. Auf den Namen Richard von Brahmberg, bezahlt mit Kreditkarte.
„Es tut mir leid“ flüsterte Rieke fast, und hielt dem Ehepaar Claasen den Ausdruck hin. Es tat ihr wirklich für diese beiden netten Menschen leid, die sich wohl ziemlich in ihrem Nachbarn getäuscht hatten.

Kapitel 4

In den nächsten zwei Wochen vergaß Rieke Kerima Moda und die Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern vollkommen. Sie hatte soweit ihre Pflicht getan, indem sie alle verfügbaren Informationen zusammen gesucht hatte, ja, sie war sogar noch einmal im Bürogebäude von Kerima  gewesen und hatte mit David Seidel und Lisa Plenske, der Mehrheitseignerin, gesprochen. Beide trauten Richard von Brahmberg ohne mit der Wimper zu zucken eine solche „Flucht“ zu. Eine mögliche Anlaufadresse, eventuelle alte Freunde oder Bekannte, wo man ihn hätte aufspüren können, wussten sie allerdings auch nicht. Wie es schien, hatte David Seidel sowieso andere Sorgen, aber Rieke erfuhr nicht, welche. Sie registrierte nur, dass er schlecht aussah, übernächtigt und erschöpft war.
 
Also ging sie zu anderen Aufgaben über, genug zu tun gab es ja immer für die Polizei in Berlin. Und ihre Feierabende und freien Tage verbrachte sie, so weit es möglich war, mit Volker.
Ihre Freundin Jule jammerte am Telefon schon, dass Rieke sie vernachlässigen würde, also traf sie sich zumindest mal in der Mittagspause auf einen schnellen Kaffee mit ihr.
„Und? Was macht Dein Vaterkomplex?“ ärgerte Jule ihre Freundin zur Begrüßung.
„Ach, komm, so alt ist er nun auch nicht“ lachte Rieke und umarmte sie. „Außerdem ist er ganz gut in Schuss“ fügte sie mit einem viel sagenden Grinsen hinzu.
Zunächst hatte Rieke auch gezögert, denn Volker war tatsächlich um einiges älter. Sein genaues Alter hatte er ihr nicht verraten, aber sie schätze ihn auf Mitte 50, auch wenn er aussah wie Anfang Vierzig. Er hielt sich mit viel Sport fit, war durchtrainiert und leicht braungebrannt, auch jetzt im Winter. Außerdem war Volker ein Gentleman, weltgewandt, konnte gut erzählen und legte Wert auf kulturelle Unternehmungen. Er führte Rieke ins Theater aus, sie gingen in die Oper und besichtigten Museen. Alles Dinge, die Rieke sonst nie getan hatte, aber außerordentlich genoss. Ab und zu musste Volker für eine Geschäftsreise für ein oder zwei Nächte weg von Berlin, aber wenn er da war, war er ganz für Rieke da. Tagsüber arbeitete er in seiner erfolgreichen Import – Export Firma, wie er Rieke erzählte, und manchmal wurde es auch spät abends. Dann kam er noch kurz bei ihr vorbei und sie tranken ein Glas Wein zusammen und oft blieb er auch über Nacht bei ihr.
Nach ungefähr drei Wochen hatte Volker Rieke gefragt, ob sie ihm nicht einen Schlüssel geben würde, dann könnte er auch noch spät bei ihr vorbei kommen und müsste sie nicht wecken, falls sie schon schlief. Und so kam es, dass er quasi unbemerkt beinahe schon bei ihr wohnte. Rieke störte das wenig, na ja, ein bisschen schon, denn es war schon vorgekommen, dass Volker bereits in ihrer Wohnung auf sie wartete, ohne dass sie davon wusste und ihr dann Vorwürfe machte, warum sie so spät kommen würde. Rieke war sehr irritiert gewesen, aber gleich drauf war Volker wieder charmant wie eh und je und hatte sie aufgefordert, ihm während des Essens von ihren spannenden Fällen zu erzählen. Das tat Rieke zwar auch nur widerwillig, aber ab und zu ließ sie sich doch ein paar Informationen entlocken.

Als Rieke nun an diesem verregneten Donnerstagmorgen ins Büro kam, hatte sie eine nahezu schlaflose Nacht hinter sich. Volker war unruhig in der Wohnung auf und ab gelaufen, hatte fiebrig glänzende Augen und fuhr sie nur barsch an, als sie am späten Abend vom Präsidium nach Hause kam. Auf ihre Rückfrage, was denn passiert sei, bekam sie keine zufrieden stellende Antwort, Volker murmelte nur etwas von ‚geschäftliche Angelegenheit, muss endlich geklärt werden’ und alle weiteren Gesprächsversuche von Rieke liefen ins Leere. Sie hatte sich dann ins Bett gelegt, aber schlafen konnte sie dennoch nicht. Sie hörte, wie Volker im Wohnzimmer telefonierte, verstehen was gesagt wurde konnte sie allerdings nicht. Als sie heute früh dann völlig übernächtigt aus dem Schlafzimmer gekommen war, hatte Volker offensichtlich die Wohnung schon verlassen.  Sie grübelte nach, ob sie etwas falsch gemacht hatte, kam aber zu dem Schluss, dass er wohl einfach nur einen schlechten Tag gehabt hatte, und ihn eventuell Sorgen bzgl. des Geschäfts plagten. Sicher hatte es nichts mit ihr zu tun, sagte sie sich selber.

Kaum saß Rieke an ihrem Schreibtisch, als Horst Kreuzer mit finsterer Miene ins Büro kam.
„Wir müssen mal wieder zu Kerima Moda, besser gesagt, in die Villa Seidel“ brummte er.
„Warum? Ist Richard von Brahmberg wieder aufgetaucht?“ Rieke hatte den Fall beinahe schon vergessen.
„Sieht so aus. David Seidel wurde vermisst gemeldet und bei seinen Eltern ist eine Lösegeldforderung eingetroffen.“
„Der soll seinen eigenen Bruder entführt haben?“ mit großen Augen schaute Rieke ihren Chef ungläubig an.
Kreuzer zuckte mit den Achseln.
„Zumindest ist das der erste Verdacht, der geäußert wurde von der Familie Seidel. Komm, wir fahren hin und sprechen persönlich mal mit den Eltern!“

„Hier“ mit grimmiger Miene reichte Friedrich Seidel Kreuzer den Brief, der heute Morgen gekommen war.

„Die Söhne bezahlen für die Sünden der Väter“
€40 Millionen oder David ist tot – weitere Anweisungen folgen

Das war alles, was auf dem Brief stand, den irgendjemand schon vorsorglich in eine Plastiktüte gesteckt hatte.

Kreuzer reichte das Schreiben an Rieke weiter und fragte:
„Und Sie halten tatsächlich ihren anderen Sohn, Richard von Brahmberg, für fähig, seinen Halb-Bruder zu entführen.“ Er runzelte die Stirn und sah in die Runde. Neben Friedrich Seidel war auch seine Frau Laura anwesenden, sowie Frau Plenske, die Mehrheitseignerin von Kerima. Wie diese junge Frau dazu gekommen war, die Aktienmehrheit von Kerima zu erlangen, würde ihn ja auch mal brennend interessieren. Aber im Moment waren andere Dinge wichtiger.
„Muss ich ja wohl, oder? Richard hat versucht David geschäftlich Steine in den Weg zu legen wo es nur ging, und nachdem ihm das nicht gelungen ist…“ Friedrich Seidel ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen.

Rieke musterte unterdessen interessiert die Gesichter der beiden Frauen. Das der jüngeren, Lisa Plenske, zeigte nur Entsetzen. Sie war es gewesen, die Alarm geschlagen hatte, als David Seidel vor zwei Tagen nicht zu einer Verabredung mit ihr zum Abendessen erschienen war. Zunächst hatten seine Eltern allerdings noch geglaubt, er sei zur Modemesse nach London geflogen, aber Lisa konnte wohl glaubwürdig versichern, dass er dass nie getan hätte, ohne ihr Bescheid zu sagen. Als dann heute Morgen der Brief vor der Türe lag – nun, da mussten die Seidels zugeben, dass Lisas Gefühl sie doch nicht betrogen hatte.
„Und Sie, Frau Plenske? Was denken Sie?“ fragte Rieke.
„Ich, na ja, ich kenne Herrn von Brahmberg ja nicht privat, aber es stimmt schon, er hat mit allen Mitteln gekämpft, um David aus der Firma zu drängen. Ich würde es ihm also schon zutrauen. Bitte, machen Sie doch schnell was“ schickte sie dann mit einem flehenden Blick zu den beiden Beamten hinterher.
Während Frau Plenske entsetzt und ängstlich war und Herr Seidel zwischen Wut und Resignation zu schwanken schien, zeigte Laura Seidels Gesicht deutliche Zweifel an den geäußerten Vorwürfen.
Aber sie sagte weiter nichts, bat Kreuzer nur mit traurigem Blick: „Bringen Sie mir bitte meinen Sohn wieder“. Dann drehte sie sich um und starrte aus dem Fenster in den großen Garten hinter der Villa.

„Wir werden hier bei ihnen eine Fangschaltung am Telefon anbringen, auch ihre Mobiltelefone werden wir überwachen, wenn Sie das genehmigen. Meinen Sie, dass es auch im Büro von Kerima notwendig sein wird?“
Friedrich Seidel schüttelte den Kopf.
„Nein, der Brief kam hierher und sicherlich schickt Richard die weiteren Anweisungen auch hierher“ meinte er bitter.
„Es ist noch nicht bewiesen, dass Herr von Brahmberg hinter der Sache steckt“ bemerkte Rieke leise und sah, wie sich Laura Seidel bei diesen Worten nach ihr umdrehte und sie fest anblickte.
„Wir werden zunächst noch mal in die Wohnung von Herrn von Brahmberg fahren und mal schauen, ob sich Anzeichen finden, dass er eventuell zurück ist. Außerdem werden wir die Fluglisten und Hotels in Berlin überprüfen. Unser Überwachungsteam wird spätestens in einer Stunde bei Ihnen sein und alles installieren. Bis der oder die Entführer sich wieder melden, können wir nur abwarten.“ Kreuzer nickte den Anwesenden kurz zu und wand sich zum gehen.

„Ich bringe Sie zur Türe“ Laura Seidel drehte sich hastig um und folgte ihnen durch das große Wohnzimmer.
Draußen nahm sie Rieke leicht am Arm und hielt sie so zurück.
„Ich kann nicht glauben, dass Richard so etwas getan haben soll. Ich, wir, haben uns ab und zu unterhalten, er war verbittert, ja, aber niemals würde er David oder seiner Familie so etwas antun“ beschwor sie Rieke leise.
„Bitte, ermitteln Sie nicht nur in der Richtung, ich bin sicher, das ist verschwendete Zeit.“
Dann drehte Laura Seidel sich abrupt um und ging wieder hinein.
Rieke setzte sich nachdenklich ins Auto und nahm gar nicht richtig wahr, dass Horst mit ihr sprach.
„Erde an Rieke, Erde an Rieke“ grinste er sie von der Seite an, nachdem sie nicht auf seine Frage reagiert hatte.
„Oh, entschuldige“ sagte sie hastig, „ich muss das erstmal verdauen. Der alte Seidel traut tatsächlich seinem eigenen Sohn zu, seinen anderen Sohn zu entführen und seinen Vater um Lösegeld zu erpressen!“ Ratlos schüttelte sie den Kopf.
„Ja, Geld verdirbt den Charakter, hab ich schon immer gesagt“ brummte Horst. „Aber noch ist ja nichts bewiesen. Würdest Du noch mal in die Wohnung gehen und Dich da ein bisschen umsehen, ob die Südamerikareise eventuell doch wieder beendet wurde? Dann veranlasse ich alles weitere mit den Kollegen.“
„Ja, klar, mach ich. Kannst Du mich dort bitte absetzen? Ich komm dann schon irgendwie zurück nachher“ bestätigte Rieke.

Rieke bekam von Frau Claasen den Schlüssel zur Wohnung von Richard von Brahmberg. Die beiden machten sich nach wie vor große Sorgen und trotz der Tatsachen, wie den fehlenden Kleidungsstücken, dem Flugticket und dem am Flughafen gefundenen Porsche wollten sie noch immer nicht glauben, dass Richard einfach so abgehauen war. Rieke wollte sie mit dem neuen Verdacht gegen ihn nicht weiter beunruhigen und machte, dass sie so schnell wie möglich in der Wohnung verschwand.
Es hatte sich, zumindest auf den ersten Blick, nichts verändert seit ihrem ersten Besuch hier vor knapp drei Wochen. Der angenehme Herrenduft hing noch in der Luft, aber deutlich schwächer. Wenn er hier gewesen war, so hatte er den zumindest nicht benutzt. Rieke ging langsam von Raum zu Raum, unsicher, wo sie anfangen sollte nach Anzeichen zu suchen, dass in dieser Wohnung eventuell ein Entführer wohnte.
Deshalb ging sie zunächst in den Ankleideraum neben dem Schlafzimmer, aber alles war noch genauso, wie sie es schon gesehen hatte. Einige Schuhe fehlten, Anzüge, Hemden. Die Sportsachen und Turnschuhe waren ebenso noch da wie die Golfausrüstung. Mit einem Seufzer schloss Rieke die Schranktüre wieder und sah sich weiter um. Das Bett war ebenso unberührt wie die Sofaecke im Wohnzimmer. Im Vorbeigehen legte sie kurz die Hand auf den Fernseher, aber der war natürlich kalt, sie hatte eigentlich sowieso nichts anderes erwartet.
Rieke schaute in den Kühlschrank: Weißwein, eine Flasche Champagner, ein paar Bierflaschen. Keinerlei frische Sachen. Die Küche war tiptop aufgeräumt, sicher hatte das die Zugehfrau erledigt. Mehr aus Neugierde als aus beruflicher Notwendigkeit schaute Rieke in die Schränke: teure Töpfe und Pfannen, alles als deutlich in Benutzung erkennbar und nicht nur zur Dekoration, schlichtes, aber edles weißes Geschirr und ein Designerbesteck fand sie. Außerdem so ziemlich jede mögliche Variante an nützlichen Küchengeräten. Anscheinend war Richard von Brahmberg ein passionierter Hobbykoch stellte Rieke leicht überrascht fest. Dieser Mann hatte wohl mehr Facetten, als er der Öffentlichkeit zeigte oder zeigen wollte.

Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Jule und dabei fiel ihr auch wieder ein, dass ja die CD mit den Bildern, die Jule auf den Kerima Moda Events gemacht hatte, noch in ihrer Schreibtischschublade lag. Die hatte sie tatsächlich ganz vergessen. Jule fand ihn nett, weil er grüne Augen hatte, was würde sie erst sagen, wenn sie wüsste, dass er kochte? Lächelnd beim Gedanken, wie begeistert ihre beste Freundin über so einen Mann wäre ging Rieke weiter ins Bad. ‚Er hat nur einen Haken: er könnte ein Schwerverbrecher sein’ hörte sie sich in Gedanken Jule warnen. Dann schüttelte sie den Kopf über sich selber und machte weiter mit ihrer Besichtigung.

Das Bad war groß und modern eingerichtet – weiße Keramik, Chrom, Glas waren vorherrschend. Auf der Ablage unter dem Spiegel am Waschbecken stand ein Parfumflakon und Rieke konnte nicht widerstehen, ihn mal kurz aufzudrehen und dran zu schnuppern. Ja, das war eindeutig der Duft des Hausherren, der in allen Räumen schwach zu vernehmen war. Sie sah Rasierpinsel und Rasierapparat, elektrische Zahnbürste und ein teures Duschgel aus der gleichen Linie wie das Parfum. Alles Sachen, die man in einem Bad erwartete. Rieke drehte sich einmal um die eigene Achse, um noch mehr von dem Raum zu erfassen und sah einen geflochtenen Wäschekorb in der Ecke stehen. Mit wenig Hoffnung nahm sie den Deckel hoch aber er war, wie erwartet, leer.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich an den Schreibtisch, wo sie vor drei Wochen die Email mit der Flugbuchung gefunden hatte. Die lederne Mappe lag noch an der gleichen Stelle, nur daneben lag ein mittlerweile zu beachtlicher Größe angewachsener Stapel ungeöffneter Post. Rieke sah die Umschläge kurz durch, aber nichts fiel ihr als ungewöhnlich ins Auge und sie legte den Stapel wieder hin, um die Schubladen zu öffnen.
Aber auch hier wurde sie enttäuscht, nichts, was auch nur annähernd interessant gewesen wäre. Außer, dass eine Schublade, die größte,  abgeschlossen war.

Gerade als Rieke überlegte, wo sie am ehesten einen Schlüssel dazu finden könnte, klingelte ihr Telefon.
„Ich bin’s, Horst“ meldete sich ihr Chef. „Bist Du noch in der Wohnung?“
„Ja, aber hier ist nichts zu finden“ seufzte Rieke.
„Komm runter, ich hol Dich in zwei Minuten vorm Haus wieder ab – wir müssen noch mal zurück zu den Seidels, es ist ein zweites Schreiben eingegangen!“
„Klar, bin schon unterwegs“ rief sie ins Telefon, schnappte sich ihre Jacke, warf die Tür hinter sich zu und lief ins Treppenhaus, um grade noch den Aufzug zu erwischen. Unten angekommen sah sie sich kurz suchend um, dann hörte sie das Hupen und bemerkte Horst, der den Wagen in zweiter Reihe geparkt hatte. Sie sprang schnell rein und wieder ging’s raus zur Villa der Familie Seidel.

Kapitel 5

Erst am späten Nachmittag war Rieke wieder in ihrem Büro und konnte sich, wie geplant, die Bilder von Jule anschauen. Es waren natürlich hunderte, und Rieke klickte sich schnell durch, sah sich nur die Bilder länger an, auf denen Richard von Brahmberg zu sehen war. Sie hoffte, eventuell etwas zu sehen, jemand, mit dem er sich intensiv unterhielt oder sonstige verdächtige Personen.
Der zweite Brief, der bei den Seidels angekommen war, war mehr oder weniger nur eine Bekräftigung der ersten Forderungen gewesen.

„Die Väter müssen für ihre Söhne bezahlen“
€40 Millionen oder David ist tot – Du hast zwei Tage Zeit

Kreuzer war in der Villa geblieben, auch wenn er heute nicht mehr mit einer weiteren Kontaktaufnahme rechnete, aber er hoffte dennoch, eventuell mehr über die Familie und etwaige Feinde, außer Richard von Brahmberg, heraus zu finden.

Während Rieke die unzähligen Bilder von Modenschauen, Empfängen, Präsentationen durchschaute, machte sie in Gedanken eine „Pro und Contra Richard von Brahmberg“ Liste.
Die spektakuläre Flucht zugetraut hatten ihm: David Seidel und Lisa Plenske, ebenso dieser Kowalski, Max Petersen der Personalchef bei Kerima, auch Hugo Haas war nicht gut auf ihn zu sprechen. Genauso wenig Frau Hofmann und der Großteil der Kerima Angestellten. Von der Entführung wussten nur die Seidels und Frau Plenske, und auch hier stand es zwei zu eins gegen ihn. Immerhin, Laura Seidel konnte sich nicht vorstellen, dass er so ein Verbrechen begehen könnte. Die gleiche Antwort würde Rieke sicherlich von den Claasens bekommen, wenn sie sie fragen würde. Mhm, Richard von Brahmberg hatte nicht gerade viele Fürsprecher. ‚Jule noch’ fügte Rieke grinsend in Gedanken hinzu, ‚aber die zählt nicht wirklich’. Und gegen ihn sprachen natürlich auch die Fakten: er hatte seinen Bruder angegriffen, mit seiner Kreditkarte war das Flugticket gekauft worden, es fehlten Kleidungsstücke, und sogar die Auswahl der Kleidung ließ, wenn man Frau Claasen Glauben schenkte, auf eine sehr schnelle und hektische Aktion schließen.
Riekes Blick blieb an einem der Fotos hängen, die sie mechanisch auf ihrem Bildschirm während ihrer Überlegungen durchgeklickt hatte. Es zeigte Richard von Brahmberg, der sich in diesem Moment der Kamera sicherlich nicht bewusst gewesen war, wie er mit spöttisch herunter gezogenen Mundwinkeln und lachenden Augen jemanden beobachtete. Er lehnte an einem Türrahmen, ließ lässig zwischen zwei Fingern ein Champagnerglas baumeln und strahlte eine enorme Männlichkeit aus. Rieke starrte das Bild an.
Wow! Das war ein anderer Mensch, als der auf den sonstigen Bildern. Sie blätterte vorsichtig zurück und vor, ob es sich bei dem Bild um eine Serie handelte, aber es war tatsächlich zunächst nur dieses eine, bei dem es Jule gelungen war, ihn ohne seine undurchdringliche Fassade abzulichten. Aus dem übernächsten Bild, wo man noch am Rand seinen Arm sehen konnte, schloss Rieke, dass es seine Schwester war, die er da beobachtete, denn auf diesem Bild war Mariella von Brahmberg zu sehen, mit einem großen blonden Mann, schüchtern lächelnd, sich nicht dessen bewusst, dass ihr großer Bruder sie beim flirten beobachtete.
 
Seufzend klickte Rieke weiter, das war nicht, was sie suchte. Auch wenn es interessant war zu sehen, wie sich Menschen doch durch das Bewusstsein einer Kamera veränderten. Rieke wusste inzwischen, dass Mariella die Verlobung mit David Seidel aufgelöst hatte und in die USA gezogen war. ‚Ob wohl der Blonde da mit Schuld war?’ fragte sich Rieke. Sie hatten Mariella von Brahmberg noch nicht erreicht, um zu erfahren, ob ihr Bruder sich in den letzten Wochen eventuell bei ihr gemeldet hatte. Aber Rieke hatte eh wenig Hoffnung, dass dem so wäre. Richard von Brahmberg hatte seine Spuren gut verwischt, auch wenn es komisch war, dass er den Fehler mit dem Auto begangen hatte.

Während Rieke weiter Bilder durchsah, grübelte sie da noch ein bisschen dran rum. Warum hatte er das Auto nicht irgendwo in Berlin abgestellt und war mit dem Taxi zum Flughafen gefahren? Dann hätte man das Auto womöglich erst in einigen Monaten gefunden und er konnte schon lange sonst wo sein. So hatten sie die Flugbuchung gefunden und, weil es nicht so lange her war, auch ohne Probleme noch die Bestätigung der Fluggesellschaft bekommen, dass das Ticket auch abgeholt worden war.
Wieder stockte Rieke: ein anderer Event, ein anderer Anzug, aber wieder ein Bild ohne Fassade von Richard von Brahmberg. Dieses Mal saß er seitlich auf der Lehne eines großen Sessels, in dem Laura Seidel saß. Anscheinend lachte er gerade über etwas, dass sie gesagt hatte, warf den Kopf leicht in den Nacken und war gerade im Begriff, seine Hand auf ihre zu legen, die vertraulich auf seinem Oberschenkel lag.
‚Da schau her’ dachte Rieke. ‚Das sieht aber sehr intim aus!’
Wieder blätterte sie vor und zurück, um eventuell noch mehr zu sehen und auf den nächsten Bildern konnte man die beiden auch noch im Hintergrund zusammen sehen, aber es war so klein, dass Rieke die Gesichtsausdrücke nicht erkennen konnte. Aber die beiden waren auf jeden Fall nicht am streiten, so viel stand mal fest.

Rieke sah noch unzählige „offizielle“ Bilder, wo die beiden Familien Seidel und von Brahmberg für die Kamera posierten, Richard stets mit demselben gleichgültig-arroganten Gesichtsausdruck, den er anscheinend für solche Fotos einstudiert hatte. Sie fand nur noch ein anderes, auch hier stand Richard eher im Hintergrund, war wohl mehr zufällig auf dem Foto. Er wirkte müde, aber Rieke war sich da nicht so sicher. Sie wollte das Bild an Jule zurückschicken, damit sie ihr den Ausschnitt vergrößerte. Schnell speicherte sie eine Kopie und schickte sie mit ihrer Bitte per Email an ihre Freundin. Dann stellte sie erschrocken fest, dass es ja schon nach neun Uhr war und machte Feierabend!

„Wo kommst Du so spät her“ fauchte Volker sie an, kaum dass sie die Türe zu ihrer Wohnung aufgeschlossen hatte. „Ich warte schon eine Ewigkeit auf Dich!“ Mit beleidigtem Gesicht und verschränkten Armen stand er im Rahmen der Küchentür.
Rieke war müde und ihre Augen brannten vom Bildschirm und eigentlich hatte sie gehofft, die Wohnung, IHRE Wohnung, heute Abend für sich alleine zu haben. Aber um zu streiten fehlte ihr auch die Kraft.
„Wir hatten heute einen schweren Tag“ murmelte sie, während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte.
Volker warf ihr einen skeptischen Blick zu.
„Warum? Was gibt es denn Besonderes?“ fragte er mit lauerndem Blick.
Rieke seufzte.
„Du weißt, dass ich Dir das nicht sagen kann.“
„Ach komm, was soll schon passieren, wenn Du mir ein bisschen davon erzählst, was Dich belastet?“ Volkers Ton wurde weicher, schmeichelnder.
„Komm, setz Dich zu mir aufs Sofa und ich massiere Dir ein bisschen die Schultern, während Du Dir den Ballast von der Seele redest.“
Rieke wusste, dass sie sich zu leicht einwickeln ließ, aber die Aussicht auf eine Massage ihrer verspannten Schultern war zu verlockend. Und wenigstens war damit ein Streit abgewendet, den sie gehasst hätte.
„Es ist jemand entführt worden“ murmelte sie leise.
„Oh“ entfuhr es Volker, der mit jeder Minute munterer zu werden schien, während Rieke schon fast schlief. „Das ist ja spannend. Jemand Berühmtes?“
„Keine Ahnung, hier in Berlin werden ihn schon ein paar kennen, aber richtig berühmt? Glaub ich nicht!“
„Und was macht ihr da jetzt in so einem Fall?“ Volker massierte zwar weiter ihre Schultern, aber eindeutig war er mehr an diesem Entführungsfall interessiert, als an Rieke. Aber die war so müde, dass sie das nicht weiter registrierte.
„Na ja,  Telefon überwachen, Umfeld checken, jeden Stein umdrehen, versuchen die Presse im Unklaren zu lassen! Einen Verdächtigen gibt es schon, aber der ist momentan unauffindbar. Aber mehr darf ich Dir auch wirklich nicht sagen“ brummte Rieke.
„Och, schade! Das ist so spannend. Aber ich versteh das natürlich!“ Damit sprang Volker auf und rief „ich geh ins Bad“ und Rieke plumpste unsanft rückwärts aufs Sofa.
‚Na toll, und ich?’ schmollte sie. Sie beschloss auf dem Sofa zu warten, bis Volker fertig war, aber anscheinend war sie innerhalb von wenigen Minuten eingeschlafen.
Sie wachte gegen zwei Uhr früh auf, mit fürchterlichen Kreuzschmerzen, wankte ins Bad, putzte sich die Zähne und verfluchte Volker, dass er sie nicht geweckt hatte. Danach legte sie sich zu ihm in ihr Bett, konnte aber nicht wieder einschlafen. Irgendetwas ging ihr im Kopf herum, etwas, das ihr aufgefallen war, aber doch nicht, irgendein Detail, dass sie nicht zu fassen bekam. Irgendwann fiel sie doch in einen unruhigen Schlummer, träumte von Richard von Brahmbergs’ Wohnung, von Laura Seidel, die sie am Arm festhielt, einem schwarzen Porsche, der durch ein weißes Bad fuhr. Völlig gerädert und schweißnass wachte sie kurz vor sechs auf und ging leise unter die Dusche.
Dann machte sie Kaffee und deckte den Frühstückstisch, weckte Volker. Aber der wurde auch nicht recht munter und so schwiegen sie sich mehr oder weniger an, bis Rieke ihre Tasche und ihre Jacke schnappte und mit einem kurzen ‚ich muss los’ fluchtartig ihre eigene Wohnung verließ.
Vor der Haustür stellte sie fest, dass sie noch die Schlüssel, die ihr Frau Claasen gegeben hatte, in der Jackentasche hatte. Sie würde nachher kurz anrufen müssen und Bescheid geben.

Im Büro angekommen machten Horst Kreuzer und Rieke zunächst einmal Einsatzbesprechung mit dem Team, dass ihnen für diesen Entführungsfall zugewiesen worden war. Aber eigentlich war alles schon angestoßen, die üblichen Maßnahmen waren ergriffen worden und nun hieß es: warten auf die nächste Botschaft. Die an diesem Tag aber nicht kam. Rieke und Horst waren noch mal zu den Seidels gefahren, aber mehr als ihnen versichern, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würden konnten sie auch nicht.

Rieke nahm bei der ersten Gelegenheit Laura Seidel zur Seite.
„Ich möchte nicht indiskret sein“ begann sie zögernd, „aber würden sie mir sagen, welcher Art ihr Verhältnis zu Richard von Brahmberg ist?“
Laura Seidel sah sie lange mit durchdringendem Blick an. Dann seufzte sie.
„Nicht so, wie sie anscheinend denken. Richard ist zwanzig Jahre jünger als ich!“
„Wir verstehen uns einfach gut, auch wenn wir sehr selten die Gelegenheit bekommen, uns zu sehen. Er weiß, dass er jederzeit zu mir kommen kann, wenn er Probleme hat und umgekehrt. Deshalb ist es mir auch ein Rätsel, warum er so überstürzt nach Südamerika ist, ohne dass es einen guten Grund gegeben hätte. Zumindest nichts, was man nicht hätte aus der Welt schaffen können!“ Resigniert zuckte Laura Seidel mit den Schultern.
Dann schaute sie Rieke neugierig an.
„Woher wissen sie es? Nur weil ich sagte, ich glaube nicht, dass Richard meinen Sohn entführt hat?“
„Nein, offen gestanden habe ich ein Foto gesehen, von einer Kerima Veranstaltung, nicht mehr als ein Schnappschuss von Ihnen Beiden, aber es sah sehr vertraut aus.“
Wissend nickte Laura Seidel. „Ja, wir haben uns sicher mal unterhalten wenn wir uns unbeobachtet fühlten. Was leider selten genug der Fall war.“ Sie schaute Rieke nachdenklich an. „Richard und David sind fast gleich alt, wussten Sie das?“
„Ja“ bestätigte Rieke, „ich hab die Geburtsdaten gesehen“.
Und sie hatte sich dann auch zusammen gereimt, dass Friedrich Seidel wohl von einem Bett ins andere gezogen war ohne große Zeitverluste. Die beiden Jungen waren gerade mal im Abstand von 6 Wochen geboren, wobei Richard der Ältere war. Dennoch mussten Laura und Friedrich Seidel schon verheiratet gewesen sein, als er Richard mit seiner Geliebten zeugte.
„Wir waren alle sehr jung damals“ bemerkte Laura Seidel in einem beinahe entschuldigenden Ton, so als ob sie genau wüsste, welche Gedanken Rieke gerade durch den Kopf gingen.
Rieke wechselte schnell das Thema, denn das ging sie nichts an.
„Darf ich Sie noch etwas anderes fragen?“
„Bitte“ Laura Seidel lächelte sie an.
„Am Abend des Kostümballs bei Kerima, da waren sie im Rollstuhl gesessen, aber nun nicht mehr. Ein Unfall?“
„Ja“ bestätigte Laura ihr, „ich habe hart gearbeitet um wieder laufen zu können. David hat mir sehr dabei geholfen.“ In ihren Augen glitzerten Tränen.
„Warum er?“ flüsterte sie verzweifelt.

Rieke wusste nicht was sie sagen sollte. Die Chancen bei Entführungen standen immer eher schlecht dass das Opfer überlebte, aber so krass wollte sie das Laura Seidel nicht sagen, denn sie mochte die Frau bisher sehr gerne. Aber die üblichen Plattheiten wollte sie ihr auch nicht zumuten.
„Ich weiß es nicht“ sagte sie deshalb einfach. „Aber ich hoffe, wir werden es herausfinden und denjenigen zur Rechenschaft ziehen, der ihrer Familie das antut!“
Laura lächelte sie traurig an. Sie hatte sicherlich gemerkt, wie Rieke sich um eine klare Antwort herum wand.
„Ja, sicher werden sie das“ nickte sie dann. „Danke!“

Kapitel 6

Am Abend war Rieke noch mal zur Adresse von Richard von Brahmberg gefahren um den Schlüssel, den sie aus versehen mit genommen hatte, an Frau Claasen zurück zu geben. Da sie sich aber nicht vorher angekündigt hatte, öffnete niemand. Anscheinend waren die Claasens’ ausgegangen.

Warum genau sie dann noch mal in die Nachbarwohnung ging konnte Rieke nicht sagen. Sie erinnerte sich nur, dass sie irgendein kleines Detail gestört hatte als sie gestern noch mal in der Wohnung gewesen war. Und das zerrte schon den ganzen Tag an ihren Nerven, immer am Rande ihres Bewusstseins, ohne dass sie es zu greifen bekommen hätte.

Vorsichtshalber hatte sie noch mal geklingelt, bevor sie in die Wohnung ging, aber natürlich hatte sie sie leer vorgefunden. Ziellos streifte sie durch die Räume, strich mit den Fingerspitzen über Oberflächen, schaute sich intensiv um, versuchte zu rekonstruieren, was sie gestern gemacht hatte. Sie hatte die Hoffnung, dass ihr dann doch noch auffallen würde, was sie so hartnäckig im Hinterkopf nervte, auch wenn sie nicht wusste, nach was oder wo sie suchen sollte. Nachdem Rieke einmal langsam komplett durch alle Räume gegangen war, war sie keinen Schritt weiter. Sie hatte noch mal alle Schränke in der Küche geöffnet, Schubladen aufgezogen und frustriert wieder zugeschoben, den Kleiderschrank inspiziert, ja, sie war sogar so weit gegangen, einige seiner Jacketts abzutasten in der Hoffnung, in einer der Taschen etwas Interessantes zu entdecken. Aber bis auf die Tatsache, dass er wohl gerne in der Feinkostabteilung des KaDeWe einkaufen ging erfuhr sie nichts Neues. Rieke ging noch mal ins Bad, öffnete den Parfumflakon, schnupperte daran. ‚Kann ein Mann, der so gut riecht, böse sein?’ fragte sie sich selber, um sich dann auch schon im nächsten Moment im Spiegel selber den Vogel zu zeigen.
„Du drehst durch Rieke“ teilte sie ihrem Spiegelbild streng mit und drehte sich weg.
‚Mhm’ überlegte sie, ‚vielleicht muss ich die Perspektive wechseln’. Also ging sie zurück ins Wohnzimmer und fing an, sich auf alle möglichen Gelegenheiten zu setzen. Da blieb sie ein Weilchen sitzen, schaute sich um, stand dann wieder auf und setzte sich woanders hin. Aber nichts half. Schließlich setzte sie sich noch einmal an den Schreibtisch und zog die Schubladen auf.
„Warum willst Du mir nur nichts von Dir verraten?“ murmelte sie vor sich hin. Aber nach wie vor war die eine, abgeschlossene Schublade, wohl die einzige verbleibende Möglichkeit, irgendetwas Privates zu finden, das ihr vielleicht weiterhelfen könnte.

Rieke stützte das Kinn auf ihre Hände und sah sich im Raum um. „Denk nach, wo würdest Du einen solchen Schlüssel verstecken?“ sagte sie laut zu sich selber. „Erstens: Schlüsselbund – hat er sicherlich bei sich; zweitens: Safe – haben wir keinen gefunden; drittens: in der Zuckerdose, wie Oma in der schlechten Zeit!“ Rieke grinste vor sich hin. Das Bild, wie Richard einen kleinen Schlüssel konspirativ in einer seiner Designer-Gewürzdosen versenkte entstand vor ihrem inneren Auge.
„Nee, nicht wirklich“ murmelte sie kichernd. Dabei fiel ihr ein, dass Jule ihr ja heute einen Abzug geschickt hatte mit der Ausschnittvergrößerung um die sie sie gebeten hatte. Rieke holte ihre Tasche, die sie am Eingang hatte stehen lassen und griff nach dem großen Umschlag. Da hatte Jule es echt gut gemeint und gleich ein DIN-A4 Foto draus gemacht. Rieke zog das Bild aus dem Umschlag und las den Zettel, den Jule dazu getan hatte.

‚Wenn Du ihn findest, schick ihn zu mir! Der sieht aus, als ob er ein bisschen Trost brauchen könnte. Küsse, Jule’

Rieke schaute sich das Bild lange an. Ja, Jule hatte Recht, selten hatte sie einen so traurigen Gesichtsausdruck gesehen. Auf dem Originalbild hatte sie gedacht, er würde einfach nur müde ausschauen, aber in der Vergrößerung sah sein Gesicht eher so aus, als hätte er gerade eine sehr deprimierende Nachricht erhalten. Rieke spickte in den Umschlag und tatsächlich, sie wurde nicht enttäuscht: auch ein Abzug des Originalbildes lag dabei. Sie fischte es heraus und meinte, jemand würde ihren Brustkorb quetschen, so zog sich der auf einmal zusammen.
Niemand anderer als David Seidel war derjenige, den Richard da so traurig musterte.
Oh Gott, wusste er zu dem Zeitpunkt wohl schon, dass David Seidel bald tot sein würde? Tat es ihm vielleicht sogar für einen kurzen Moment leid? Hatte Jule genau die Sekunden eingefangen, wo Richard kurz Skrupel bekam bei seinem Plan, seinen Halbbruder zu entführen und eventuell zu töten?
Riekes Herz hämmerte wie wild. Sie wollte das nicht glauben, sie war schon beinahe zu 100% überzeugt gewesen, dass Richard nicht der Entführer sein konnte, entgegen allem, was dafür sprach.
‚Warum?’ konnte sie nur denken, ‚er ist Dein Bruder!’
Langsam ließ sie sich aufs Sofa sinken. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie zurück ins Wohnzimmer gekommen war, starrte nur weiter das Bild in ihrer Hand an.

Dann sah sie sich noch mal im Raum um. Alles wirkte so einladend, freundlich. Die ganze Wohnung vermittelte einem den Eindruck, willkommen zu sein, auch wenn ganz deutlich war, dass man sich auf dem Terrain eines Menschen befand, der wusste, was er will. ‚Ja’ dachte Rieke, ‚ich hab mich hier sofort wohl gefühlt, irgendwie … passt alles.’ Wie in Trance griff sie nach ihrer Tasche, zog die Tür hinter sich zu und fuhr nach Hause, ohne dass sie ihre bedrückte Stimmung richtig einordnen konnte.

Kaum hatte Rieke ihre eigene Wohnung betreten hörte sie Volker schon in der Küche hantieren. Schlagartig war sie schlecht gelaunt, völlig genervt. Wann genau hatte sie eigentlich aufgehört, sich auf Volker zu freuen? Die ersten Wochen mit ihm waren ein Traum gewesen und dann, auf einmal, hatte sich alles verändert. Rieke fühlte sich unwohl, ohne genau benennen zu können, warum. Lag es an ihm? Lag es an ihr? Und was überhaupt? Erschöpft stellte sie ihre Tasche ab und hängte ihre Jacke an die Garderobe.
„Da bist Du ja endlich“ Volker kam freudestrahlend auf sie zu, nahm sie in den Arm, drehte eine Runde mit ihr und setzte sie wieder ab.
„Ich habe für uns gekocht“ verkündete er stolz.
Rieke dachte leicht panisch darüber nach, wie ihre Küche wohl aussehen mag, zwang sich dann aber trotz ihrer Müdigkeit und Skepsis zu einem Lächeln.
„Gibt’s was zu feiern?“ fragte sie und legte ihren Arm um Volkers’ Taille.
„Nein, einfach so“ lachte er, dann küsste er sie und zog sie in die Küche. Wie befürchtet sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, aber es roch verdammt gut. Und Rieke hatte Hunger und das letzte was sie brauchen konnte, war ein Streit. Also ließ sie sich an den Tisch dirigieren, ein Glas Rotwein in die Hand drücken und wartete, bis Volker das Essen auf die Teller verteilt hatte.

Während des Essens plauderte Volker locker vor sich hin, während Rieke nur sehr einsilbig antwortete. Dann allerdings merkte sie, dass er sie langsam genauer beobachtete und riss sich zusammen. Eigentlich wollte sie nur schlafen gehen, aber eine halbe Stunde Gespräch würde sie schon noch überstehen. Also beteiligte sie sich aufmerksamer.

„Ist denn dein berühmter Entführter schon wieder aufgetaucht?“ fragte Volker scheinbar nur am Rande.
Und weil sie sich gerade erst vorgenommen hatte, etwas netter zu sein, antwortete Rieke ohne ihre üblichen Bedenken zu erwähnen, auch wenn sie sie deshalb dennoch im Hinterkopf hatte.
„Nein, aber damit haben wir auch nicht gerechnet. Die Forderung gibt den Angehörigen bis morgen Zeit, das Geld zu beschaffen.“
„Dann ist morgen eine Übergabe?“ fragte Volker eifrig. Anscheinend begann er sich nun doch für das Thema zu erwärmen.
„Keine Ahnung. Wir hoffen morgen meldet sich wieder einer.“
„Und habt ihr schon einen Verdächtigen? Oder eine Spur vom Berühmten?“
„Volker, das dürfte ich Dir alles gar nicht erzählen“ seufzte Rieke.
„Ach komm schon, ich weiß weder um wen es geht, noch hab ich eine Vorstellung von den Dimensionen Eurer Ermittlungen. Was soll schon passieren, wenn Du mir erzählst, ob ihr eine Ahnung habt, wer dahinter stecken könnte? Sollte ich den dann warnen oder was?“ lachte Volker bitter. „Du hast ja echt ein riesiges Vertrauen in Deinen Lebensgefährten“ meinte er dann geringschätzig.
Bei Rieke klingelten Alarmglocken. Seit wann waren sie ‚Lebensgefährten’? Mit großen Augen schaute sie über den Tisch und war zu keiner Antwort fähig.
Volker seufzte und stand auf, kam um den Tisch und stellte sich hinter sie. Er schlang seine Arme um ihre Schultern und legte sein Kinn auf ihren Scheitel.
„Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint! Natürlich vertraust Du mir, nicht wahr? So wie ich Dir vertrauen kann, oder etwa nicht?“
Rieke realisierte, dass er gar nicht mitbekommen hatte, warum sie so entsetzt geschaut hatte. Es war ihr nämlich herzlich egal, wer hier wem vertraute, nur bei einem war sie sich sicher: Volker und sie – niemals würde das was Ernsthaftes werden, das war ihr in diesem Moment schlagartig klar geworden.
Volker hatte mittlerweile angefangen an ihrem Hals zu knabbern und ließ seine Hände über ihren Busen streicheln. Rieke wurde stocksteif.
‚Oh Gott, nein, ich kann das jetzt nicht’ dachte sie. Andererseits wäre sie jetzt auch nicht mehr in der Lage gewesen, ihm auseinander zu setzen, warum ihre Affäre in genau diesem Moment zu Ende war.

Also ließ sie sich wie eine Puppe aus dem Stuhl hochziehen und ins Schlafzimmer dirigieren. Volker drückte sie aufs Bett, zerrte an ihrem Pulli und öffnete ihren Hosenknopf, während er halb auf Rieke drauf lag und sie heftig küsste.
„Ich muss mal schnell ins Bad“ Rieke befreite sich und wand sich aus dem Bett um ins Bad zu fliehen.
„Aber lass mich nicht zu lange warten“ rief Volker hinter ihr her.

Rieke lehnte sich von innen an die geschlossene Badezimmertür. Und jetzt? So lange im Bad bleiben, bis Volker eingeschlafen war? Man, was war nur mit ihr los? Noch vor einer Woche hatte sie für diesen Mann nackt getanzt, und jetzt? Verflucht, wie sollte er auch wissen was los war, wenn sie es selber nicht wusste.
‚Mist, Mist, Mist’ fluchte Rieke leise vor sich hin.
Dann putzte sie sich erstmal ausführlich die Zähne, hantierte ewig mir ihrem Abschminkzeug rum, versuchte so lange wie nur irgend möglich, sich im Bad aufzuhalten.
Als sie dann nichts mehr zu tun fand ging sie zurück ins Schlafzimmer und stellte erleichtert fest, dass Volker anscheinend schon eingeschlafen war. Aber als sie sich vorsichtig neben ihn legte, drehte er sich um und zog sie in seinen Arm.

„Na endlich, ich dachte schon, ich muss ohne Dich anfangen“ murmelte er an ihrem Hals und begann wieder mit seinen Zärtlichkeiten.
‚Ok, Augen zu und durch’ dachte sich Rieke und streichelte ihrerseits halbherzig seinen Rücken. Sie versuchte daran zu denken, wie es noch letzte Woche war um wenigstens ein bisschen in Stimmung zu kommen. Das hätte sie sich allerdings auch sparen können, denn nach ein paar Minuten war eh alles vorbei und Volker stand nur schnell auf um das Kondom zu entsorgen und drehte sich dann weg ohne ein Wort oder noch einen zärtlichen Kuss, wie er es bisher immer getan hatte, wenn sie miteinander geschlafen hatten.
‚Super’ dachte Rieke, ‚das hat sich ja mal richtig gelohnt. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mir den Aufenthalt im Bad sparen können und würde schon seit einer halben Stunde pennen’.  Frustriert wickelte sie sich in ihre Bettdecke und versuchte zu schlafen.

Irgendwann war sie dann auch eingeschlafen, wenn auch nicht so richtig tief. Es glich eher einem Dämmerzustand, als richtigem Schlaf, und wieder wurde sie von seltsamen Träumen heimgesucht. Sie träumte von David Seidel im Prinzenkostüm, nur diesmal über und über mit Blut beschmiert, Laura Seidel stand mit Tränen in den Augen in Richards Bad, sie selber hackte mit einer Axt die verdammte verschlossene Schublade auf, um endlich zu erfahren was da drinnen war und Volker stand in ihrer Küche und hatte das Bild von Richard, das Jule vergrößert hatte, in der Pfanne.

Wieder wachte Rieke schweißgebadet auf und brauchte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie das alles eben geträumt hatte. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es erst halb drei war. Sie versuchte wieder einzuschlafen, aber das wollte ihr nicht gelingen. Also stand sie leise auf und ging in die Küche. Mit einem Glas Wasser setzte sie sich an den Tisch, auf dem noch die Reste des Abendessens standen. Eine Zeit lang saß Rieke nur so da und starrte durch das Fenster raus auf den großen Baum, der vom Mondlicht angestrahlt wurde.
‚Vollmond’ bemerkte sie, ‚vermutlich schlafe ich deshalb so schlecht.’
Das war zwar das erste Mal, dass sie auf den Mond reagierte, aber irgendwann war ja immer das erste Mal. Und eine andere Erklärung, außer dieser nagenden Unruhe, dass sie etwas übersehen hätte oder etwas offensichtliches nicht erkannte im Zusammenhang mit der Entführung von David Seidel wollte ihr nicht einfallen. Vollmond und komische Träume.
Sie hoffte nur, dass das Bild aus ihrem Traum, David Seidel von oben bis unten mit Blut besudelt, keine Vorahnung war. Morgen, so erwarteten sie, würde sich der Entführer wieder bei den Seidels melden, und Rieke wünschte sich inständig, insbesondere für Laura Seidel, dass David eine Chance hätte, nach der Zahlung des Lösegeldes unversehrt aus der Sache heraus zu kommen.

Und Richard? Vor ihr geistiges Auge schob sich das Bild von ihm und Laura, wie sie so vertraut beieinander saßen und gemeinsam lachten. Würde er ihr wirklich so etwas antun? Seinen eigenen Bruder töten? Rieke dachte an die Vergrößerung, diesen traurigen Ausdruck auf Richards Gesicht. Der war nicht gespielt gewesen, er war sich ganz sicher nicht dessen bewusst, dass Jule mit ihrer Kamera in der Nähe gewesen war.

Irgendwann stand sie auf und begann mechanisch, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen und die Küche sauber zu machen. Schlaf fand sie in dieser Nacht sowieso keinen mehr, da konnte sie sich auch nützlich machen.

Kapitel 7


Letztendlich war Rieke am nächsten Morgen schon um kurz nach sechs Uhr im Büro. Die übernächtigten Kollegen der Nachtschicht schauten sie zweifelnd an, denn bisher war sie nicht gerade dadurch aufgefallen, eine Frühaufsteherin zu sein.
„Vollmond“ murmelte sie nur als Antwort und anscheinend gaben sich die Kollegen damit auch zufrieden, denn es kamen keine weiteren Nachfragen mehr.
Sie hatte gestern mit Horst vereinbart, dass sie sich hier gegen halb acht treffen würden um gemeinsam zu den Seidels zu fahren, falls nicht schon vorher ein Anruf käme, dass sich der Entführer wieder gemeldet hatte. Rieke hatte also noch eine gute Stunde Zeit, bis ihr Chef eintreffen würde.

Sie holte sich eine frische Tasse Kaffee und setzte sich an ihren Computer, wo sie die CD mit Jules’ Bildern von Kerima noch mal einlegte. Vielleicht war ja auf den Fotos etwas oder jemand gewesen, dass ihr nun dieses Gefühl bescherte, etwas zu wissen, es aber nicht in ihr Bewusstsein holen zu können.
David Seidel mit Models, David Seidel mit anderen Models, David Seidel mit Hugo Haas, David Seidel mit Mariella von Brahmberg… nix. Models auf dem Laufsteg, die die jeweils aktuelle Kollektion vorführten, Laura und Friedrich Seidel in der ersten Reihe, Richard mit seiner Mutter Sophie daneben. Offizielle Bilder mit David und Richard als den Geschäftsführern von Kerima, der eine charmant lächelnd, der andere gelangweilt - herablassend in die Kamera schauend.

Es war frustrierend. Hunderte von Fotos, und Rieke hatte keinen Schimmer, ob tatsächlich hier etwas drauf war oder ob sie einem Gespenst nachjagte. Müde rieb sie sich über die Augen, klickte nur noch lustlos weiter.
 
Da war wieder das Bild, auf dem Richard so lässig am Türrahmen lehnte und seine Schwester beobachtete. Rieke betrachtete es lange. Er sah wirklich gut aus, wenn er mal seine harte Fassade fallen ließ. Sie konnte Jule ganz gut verstehen, wenn er noch dazu auch ein paar nette Worte verlor, war Richard sicherlich ein angenehmer Gesprächspartner. Rieke angelte den Umschlag aus ihrer Tasche und zog die Vergrößerung raus.
Ja, er hatte wirklich schöne grüne Augen. Rieke stellte erstaunt fest, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte als sie das Bild betrachtete. Schnell steckte sie es zurück in den Umschlag und legte diesen wieder in ihre Tasche, um sich wieder ihrem Bildschirm zuzuwenden. Mechanisch klickte sie die Bilder weiter durch, ohne große Hoffnung noch etwas zu entdecken.
Gerade als sie sich wunderte, warum ihr der Mann, der auf einem der Laufstegbilder im Hintergrund stand, so wage vertraut erschien, kam Horst Kreuzer an.

„Na, so früh schon auf den Beinen?“ versuchte er sie in neckischem Ton zu ärgern, aber es gelang ihm nicht ganz, seine Anspannung zu verbergen.
Rieke schaute auf die Uhr. Kurz nach sieben. Er hatte also auch nicht schlafen können. Eigentlich hatte sie nichts anderes erwartet von ihm, dazu kannten sie sich schon lange und gut genug.

„Glaubst Du heute passiert endlich was?“ fragte Rieke ihren Chef.
„Ich hoffe es, die Warterei ist schrecklich. Wenn sich der oder die Entführer an ihren Plan halten, so müssten sie davon ausgehen, dass Friedrich Seidel das Geld heute hat und zumindest eine Übergabe planen.“
„Ja, ich hoffe es. Und ich hoffe auch, dass wir David Seidel lebend finden“ meinte Rieke.
Horst Kreuzer schaute sie mit einem resignierten Blick an. Er hoffte es ja auch, nur waren inzwischen schon 4 Tage vergangen seit seinem Verschwinden, eine verdammt lange Zeit!
„Komm, wir fahren raus zur Villa“ meinte Horst, „dort können wir genauso gut warten wie hier!“
„Ja, einen Moment, ich schreib nur schnell eine Email!“ erwiderte Rieke. Sie schickte schnell das Bild, das sie als letztes betrachtet hatte an Jule, wieder mit der Bitte um eine Vergrößerung, dann schnappte sie ihre Tasche und verließ mit Horst das Büro.

„Was hast Du da eigentlich vorhin gemacht? Bilder angeschaut?“ fragte Horst, während er den Wagen durch Berlin steuerte in Richtung der vornehmen Villen Gegend, in der die Seidels wohnten.
„Mhm“ brummte Rieke, „Kerima Events. Ich hatte Hoffnung, etwas Ungewöhnliches zu bemerken.“
„Und? Irgendetwas Interessantes? Ein Bild wie der böse Bube Richard von Brahmberg finstere Pläne schmiedet?“
Riekes Herzschlag begann sich schlagartig zu beschleunigen. Das war genau das, was sie selber gestern Abend gedacht hatte, als sie sah, wen Richard da beobachtete. Aber sie wollte einfach nicht glauben, dass er hinter der Sache steckte.
„Nein“ schwindelte sie. „Ich glaub auch nicht, dass er es ist“ fügte sie dann leise hinzu.
Horst sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen fragend von der Seite an.
„Und warum bitte? Bisher spricht doch alles dafür, dass der seinen Bruder entführt hat und seinen Vater nun damit erpresst!“
Rieke schaute auf ihrer Seite zum Fenster hinaus.
„Es ist einfach so ein Gefühl, ich kann’s nicht erklären, deshalb hab ich bisher auch nichts gesagt.“ Rieke zuckte mit den Schultern. Sie wollte es einfach nicht, wollte nicht, dass dieser gut aussehende, interessante Mann mit der wunderschönen Wohnung ein Mistkerl war.
„Dann solltest Du Dein Gefühl mal neu justieren lassen. Ich mein, sorry, Rieke, aber das kannst Du noch nicht wissen: die Kollegen haben gestern einen Anruf von einem Hotel bekommen, dass ein gewisser von Brahmberg da vor ein paar Tagen eingecheckt hätte. Sie haben noch keine Personenbeschreibung aber ganz ehrlich glaube ich nicht, dass es da große Zweifel gibt!“
Rieke wurde ganz schlecht, ihr Magen zog sich zusammen, ihre Hände fingen an zu zittern, während ihr Herz beinahe ihren Brustkorb sprengte.
‚Oh Gott, bitte nicht’ war alles, was sie denken konnte. ‚Bitte nicht, Richard, das hast du nicht getan’.
Sie krampfte die Hände ineinander und zwang sich zu einem Lächeln.
„Dann müssen wir ja nur noch dort auf der Lauer liegen und in Nullkommanix haben wir ihn!“
Horst musterte sie aufmerksam, sagte aber nichts.
„Die Kollegen sind vor Ort“ war alles, was er brummte. Dann fuhren sie auch schon in die Einfahrt zur Villa Seidel.

Zwei Stunden und einige Tassen Kaffee später hatte sich immer noch nichts getan. Unruhig lief Friedrich Seidel auf und ab, während seine Frau Laura und Lisa Plenske, die ebenfalls zur Villa raus gekommen war, sich leise im Wintergarten unterhielten.
Rieke wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken oder tun sollte. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie ihrem Gefühl trauen konnte, dass nicht Richard hinter dieser Sache steckte. Aber was war das wert im Angesicht der Tatsachen? Als ihr Chef den Seidels gegenüber erwähnte, dass man davon ausging, dass Richard von Brahmberg wieder in Berlin war, war sie nicht in der Lage gewesen, in Laura Seidels Augen zu schauen, obwohl sie sehr wohl merkte, dass diese sie beobachtete, wenn sie auch nichts zu dieser Neuigkeit sagte.
Friedrich Seidel dagegen verlangte lautstark zu wissen, warum man ihn denn dann noch nicht festgenommen hatte und wie es kam, dass sein Sohn noch nicht gefunden worden war. Kreuzer hatte alle Hände voll zu tun ihn zu beruhigen und ihm zu versichern, dass man sofort zuschlagen würde, wenn Richard von Bramberg auftauchen sollte, nur müsste man auf der anderen Seite natürlich auch vorsichtig sein, wollte man nicht das Leben von David gefährden.
Den ganzen Vormittag über passierte überhaupt nichts.
Dann, so gegen halb zwei, tauchte ein Fahrradkurier auf, begleitet von einem der Polizisten, die außerhalb der Villa warteten.
Er brachte einen weiteren Brief:

Fahr heute Abend mit der S-Bahn.
Punkt 18.00Uhr gibt es weitere Anweisungen per Telefon!
Die Sünden der Väter bezahlen die Söhne mit ihrem Leben.

Dabei lagen genaue Anweisungen, welche S-Bahn Linie gemeint war, in welches Abteil man zu gehen hatte, dass das Geld in einem silbernen Koffer mitgenommen werden sollte. Natürlich auch der Hinweis ‚keine Polizei, oder David ist tot’. Ein Mobil-Telefon lag dabei, über dass Friedrich Seidel Kontakt zu den oder dem Entführer bekommen sollte.
Kreuzer und sein Team machten sich sofort an die Arbeit um alles vorzubereiten bzw. die vorhandenen Sachen, wie das Telefon, zurück zu verfolgen.
Den Fahrradkurier befragte man auch, aber der hatte den Brief in der Zentrale übernommen und konnte keine Angaben machen, wie er dorthin gekommen war.
„Rieke, kannst Du bitte mal in das Büro fahren und schauen, wer den Auftrag angenommen hat?“ fragte Horst sie.
„Ja, natürlich, kann ich Deinen Wagen nehmen?“ Rieke war mehr als erleichtert, dass sich nun endlich etwas tat und auch, dass sie hier raus kam. Diese Warterei war zermürbend. Horst warf ihr den Schlüssel zu und meinte noch:
„Ich melde mich, wenn wir Dich brauchen!“
„Ok!“ Fluchtartig verließ Rieke die Villa und fuhr zurück in die Stadt.

Aber der Betreiber des Fahrrad-Kurierdienstes konnte Rieke auch nicht weiterhelfen. Laut seinen Angaben hatte er den Brief irgendwann im Laufe des Vormittags in seinem eigenen Briefkasten gefunden, zusammen mit der Zustelladresse und einem Hundert-Euro-Schein.
„Geld stinkt nicht“ hatte er Rieke zur Auskunft gegeben. Wer den Brief bei ihm eingeworfen hatte konnte er natürlich nicht sagen, auch sonst hatte keiner etwas gesehen. Das Büro des Kurierdienstes lag auch noch in einem Hinterhof, zugänglich von mehreren Seiten, da konnte jeder rein und raus, ohne gesehen zu werden. Kein Wunder, dass also genau dieser beauftragt wurde.
Rieke übermittelte ihre Informationen telefonisch an Horst und setzte sich dann wieder ins Auto.

Noch gut drei Stunden bis zur Geldübergabe. Horst hatte soweit alles im Griff. Rieke entschloss sich, noch einen letzten Versuch zu starten.

Zwanzig Minuten später parkte sie vor dem Appartementhaus mit Richards Wohnung. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und klingelte zunächst noch einmal bei den Claasens, aber wieder war keiner zu Hause. Da aber der Briefkasten, wie sie unten kontrolliert hatte, geleert war, ging sie davon aus, dass die beiden nicht weit waren. Vermutlich genossen sie das schöne Frühlingswetter auf dem Golfplatz.
Rieke klingelte auch wieder bei Richards Wohnung, obwohl sie sicher war, dass keiner da war. Dann ging sie wieder durch alle Räume und versuchte sich zu erinnern, was ihr aufgefallen sein könnte. Aber wieder fiel ihr nichts dazu ein. Also legte sie sich schließlich aufs Bett, schloss die Augen und versuchte konzentriert, alles zu rekonstruieren, was sie bisher wusste.

Zuerst war da die Sache mit Frau Hofmann: sie erwartete ein Kind, Richard wusste, dass es nicht von ihm war, wollte es aber, laut den Claasens als seines annehmen. Woher wusste er, dass sie ihn betrogen hatte? Und warum war er erst in dem Moment wütend geworden, als sie es auf dem Kostümfest lautstark verkündete? Es musste doch irgendeinen Auslöser gegeben haben, der ihn so wütend werden ließ, dass er im Anschluss sogar auf seinen Bruder losgegangen war? Sie müsste noch mal die Aussagen der Zeugen vom Abend des Kostümfestes durchgehen. Als sie das damals aufgenommen hatten, war die Sachlage ja eine ganz andere gewesen.
Dann hatte der Hausmeister am nächsten Tag seinen Porsche in der Tiefgarage stehen sehen, aber als Rieke und Horst dort waren, so gegen halb elf, war er schon nicht mehr da gewesen. Also hatte er zumindest diese eine, wenn auch kurze, Nacht zu Hause verbracht. Ob er zu diesem Zeitpunkt noch nicht seine Flucht geplant hatte sondern erst am anderen Tag? Der Flug, dessen Buchungsbestätigung Rieke gefunden hatte, war erst für den nächsten Tag gewesen. Wo war er also in der zweiten Nacht? In seiner Wohnung? Hätte er dann nicht Riekes’ Visitenkarte aus seinem Briefkasten genommen und, wenn er tatsächlich die Flucht und die Entführung schon plante, vernichtet? Dass die Polizei bei ihm gewesen war, muss ihn doch nervös gemacht haben. Was aber, wenn er die Visitenkarte nie gesehen hatte?
Acht Tage später war sein Porsche am Flughafen abgeschleppt worden, weil er mehr als eine Woche da stand.
Am selben Tag hatte Rieke zum ersten Mal die Wohnung betreten, zusammen mit den Claasens.
‚Was ist mir damals als erstes aufgefallen?’ überlegte Rieke.
Der Duft! In der Wohnung war noch sehr deutlich das Parfum wahrnehmbar, das Richard benutzte. Würde jemand, der so eilig Sachen packte und weg wollte erst noch in aller Ruhe duschen, sich rasieren und Duft auflegen? Und wenn ja, überlegte Rieke, würde er dann sein teueres Parfum und Duschgel stehen lassen?
Auf einmal schlug Riekes Herz wie ein Trommelwirbel.
Richard war nicht dumm, warum sollte er also so viele Spuren hinterlassen? Die ausgedruckte Email, der falsch geparkte Porsche, jetzt eine Hotelbenutzung unter seinem eigenen Namen.
Rieke sprang auf, rannte ins Bad. Genau, sie hatte sich doch richtig erinnert: da stand eine lederne Toilettentasche. Wenn Richard nicht gerade zwei dieser teuren Teile hatte war er ohne auf Reisen gegangen. Konnte so was in der Hektik passieren? Erst duschen und dann nicht mal eine Zahnbürste einpacken?
Oder hatte jemand anderes die Sachen aus seinem Kleiderschrank geräumt und gar nicht Richard selber? Zu viele Sachen passten hier einfach nicht zusammen!

So schnell wie möglich fuhr Rieke zurück ins Büro. Sie wollte sich nicht zu viele Hoffnungen machen, aber etwas machte sie fast verrückt. Angekommen nahm sie immer zwei Treppen auf einmal als sie hoch in den zweiten Stock und zu ihrem Schreibtisch raste, wo eine Mappe mit allen Unterlagen zu dem Fall lag.
Da war es endlich. Rieke lachte befreit auf, nun hatte sie gefunden, was die ganze Zeit in ihrem Unterbewusstsein gewesen war:
Das Datum des Emails mit der Flugbuchung war vom selben Tag, wie der Kostümball gewesen war.
Jetzt gab es zwei Möglichkeiten: Richard hatte wirklich alles so geplant und sich bewusst von Frau Hofmann provozieren lassen, um seinen Abgang glaubwürdiger zu gestalten oder jemand anderes wollte es so aussehen lassen, als ob Richard der Entführer von David Seidel war.

Kapitel 8


Um kurz nach 23.00 Uhr sank Rieke erschöpft wieder in ihren Schreibtischstuhl. Sie waren ab fünf Uhr am Nachmittag wegen der Geldübergabe durch Berlin gehetzt. Zunächst hatten sich alle rund um die  und in der S-Bahn verteilt, danach ging es dann nach den telefonischen Anweisungen kreuz und quer durch Berlin. Und obwohl sie mit genug zivil gekleideten Kollegen ständig rings um Friedrich Seidel postiert waren, war es dem Entführer gelungen, ihm im Bruchteil einer Sekunde den Koffer abzunehmen und zu verschwinden. Fieberhaft hatten sie die Gegend abgesucht, sie waren nur 30 Sekunden später bei Friedrich Seidel gewesen, aber der Mann hatte sich in Luft aufgelöst.
Sofort im Anschluss hatten sie an jeder Wohnungstüre geklingelt, jeden Keller in der Umgebung abgesucht, Leute in die Kanalisation geschickt, ohne Erfolg. Der Entführer und das Geld blieben verschwunden. Über einen GPS Sender, der im Koffer angebracht worden war, konnte man diesen zwar orten, aber er lag leer auf der Pritsche eines LKWs, dessen Fahrer glaubhaft versichern konnte, dass er nicht gemerkt hatte, wie ihm jemand den Koffer auf die offene Ladefläche geworfen hatte. Also war das Geld in Windeseile herausgenommen worden und umgepackt, mehr ließ sich beim Besten Willen nicht rekonstruieren. Man ging davon aus, dass der Entführer irgendwo ein Fahrzeug geparkt hatte, mit dem er dann entkommen war, denn auf Grund dessen, dass man nicht wusste, wo genau die Übergabe stattfinden sollte, konnte man auch keine Straßensperren einrichten.  
Nun war die letzte Hoffnung, dass Richard von Brahmberg wieder in diesem Hotel auftauchen würde.  

Rieke war schließlich zurück ins Präsidium gefahren, nachdem Horst Kreuzer gemeinsam mit Herrn Seidel nach Hause gefahren war, in der Hoffnung, dass bald ein Lebenszeichen von David eingehen würde.
Sie hatte ihrem Chef noch nichts von ihrer Entdeckung am Nachmittag erzählt, denn sie selber war sich immer noch unsicher, was das nun zu bedeuten hatte. Die letzten Stunden hatte sie genug zu tun gehabt, um nicht weiter darüber nachzudenken, aber nun war das anders.
Rieke holte sich das vergrößerte Foto von Richard aus dem Umschlag und legte es auf ihren Tisch. Wieder begann ihr Herz zu pochen und ein kribbeliges Gefühl bereitetet sich in ihrem Innern aus.
‚Nein’ dachte sie, ‚auch wenn ich es noch nicht beweisen kann, aber hier stimmt etwas überhaupt nicht, und Du bist sicher nicht der Entführer von David’.

Kurz entschlossen schrieb Rieke eine sms an Volker, dass sie Nachtschicht machen musste und nicht nach Hause kommen würde. Womit sie sich auch gleich gekonnt vor dem anstehenden Gespräch mit ihm drückte. Sie wusste, dass sie ihm in den nächsten Tagen sagen musste, dass er ausziehen sollte und sie ihren Schlüssel wieder haben wollte, aber momentan war es ihr ganz recht, wenn sie ihn einfach erst gar nicht sah. Eine Antwort auf ihre sms bekam sie auch nicht, von daher hakte sie das Thema für diese Nacht einfach ab.

Und dann trieb sie die Neugierde erneut raus, sie setzte sich ins Auto und wie magisch angezogen landete sie wieder vor Richard von Brahmbergs’ Tür. Es war mittlerweile halb eins in der Nacht und ringsum war alles ruhig. Leise schloss sie die Wohnungstüre auf und betrat die ihr nun schon vertraute Umgebung. Einen Moment blieb sie im Flur stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Türe, die sie vorsichtig geschlossen hatte, und versuchte ihren Herzschlag zu kontrollieren. Langsam musste sie sich wohl eingestehen, dass das was sie hier tat und was sie immer wieder hierher zurück zog, nicht mehr allzu viel mit ihrer Arbeit und dem Entführungsfall zu tun hatte. Nein, sie suchte die Nähe zu Richard, den sie nur aus den Erzählungen Dritter und von einigen wenigen Fotos, auf denen man den echten Menschen sah, kannte.
Konnte man sich in einen Menschen verlieben, ohne ihn jemals im Leben persönlich getroffen zu haben?
‚Wahrscheinlich drehe ich einfach durch’ sagte sich Rieke selber.
Aber dennoch blieb dieses Gefühl, das ihr beinahe den Brustkorb abschnürte, so intensiv war es mittlerweile.
„Wo bist Du nur?“ flüsterte sie in die Dunkelheit.

Dann ging sie vorsichtig weiter ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Sie knipste die kleine Stehlampe darauf an und schaute sich im Halbdunkel des Zimmers um.
‚Wo könnte er den Schlüssel für die Schublade haben?’ überlegte sie wieder, während ihre Augen versuchten, die Titel auf den Buchrücken im Regal zu entziffern. Die Bücher standen mehr oder weniger unsortiert da, zumindest konnte Rieke keine Ordnung erkennen. Große standen neben kleinen, alte neben neuen, Sachbücher neben Erzählungen.
Plötzlich erweckte eines der Bücher ihre Aufmerksamkeit: ‚Antiquitäten und ihre Geheimnisse’. Aufgeregt sprang Rieke auf und holte sich das Buch aus dem Regal um es in den Lichtkegel der Lampe auf dem Schreibtisch zu legen. Dieser war ja tatsächlich eine Antiquität und vielleicht war ja die Schublade gar nicht mit einem Schlüssel verschlossen, sondern es gab einen geheimen Mechanismus, mit dem man sie öffnen konnte.
Vorsichtig blätterte Rieke durch das Buch, bis sie ein Kapitel über Schreibtische und deren Schubladen fand. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie sah, dass am Rand ein kleines, mit Bleistift geschriebenes  Ausrufungszeichen war.
Schnell las sie sich den Abschnitt durch, dann tastete sie mit der linken Hand an der bezeichneten Stelle herum.

Verdammt, sie konnte nichts finden, nichts zum ziehen und auch nichts zum drauf drücken. Also ging sie schnell um den Tisch herum, stellte die Lampe nach unten auf den Boden und legte sich unter den Schreibtisch, um etwas sehen zu können. Sie wollte schon wieder frustriert aufgeben, als sie eine Stelle in dem ansonsten dunklen Holz sah, die durch Abnutzung heller geworden war. Mit zittrigen Fingern drückte sie drauf und hörte, wie auf der anderen Seite des Tisches mit einem leichten ‚plopp’ die Schublade aufging.

Sie stand so hastig auf, dass sie sich erstmal ordentlich den Kopf anstieß und zischend die Luft einzog bei dem stechenden Schmerz, der ihr in alle Glieder fuhr. Leicht schwindelig hielt Rieke sich am Rand des Tisches fest und wartete einige Sekunden ab, bis der Raum aufhörte sich um sie zu drehen. Dann stellte sie die Lampe wieder nach oben und ging langsam um den Schreibtisch herum, als hätte sie Angst, die Schublade würde sich wieder verschließen, wenn sie sich ihr zu schnell näherte.
Vorsichtig ließ sie sich wieder im Stuhl nieder und zog behutsam die Schublade weiter auf. Im ersten Moment war sie enttäuscht, denn viel schien nicht drin zu sein. Ein kleines Holzkästchen, ein altes, ledernes Notizbuch, ein großer brauner Briefumschlag.

Sachte nahm sie zuerst das Kästchen heraus und öffnete es.
Ein paar alte Fotos, eine große flache Muschel, ein kleines Taschenmesser.
Rieke betrachtete das erste Bild: zwei Jungs, Arm in Arm, frech in die Kamera grinsend, die bei dieser Aufnahme, die sie in den Händen hielt, wohl so um die zehn Jahre alt gewesen sein müssten. Sie drehte es herum und las:
‚Sommer 87, R und D, für immer Blutsbrüder’
stand da in krakeliger Kinderschrift. Darunter zwei dunkle Flecken, vermutlich das Blut, mit dem sie ihren Schwur besiegelt hatten.
Rieke nahm die anderen Fotos zur Hand, es waren nicht viele. Noch eines zeigte wieder Richard und David, die Arme jeweils um die Schultern des anderen gelegt, so als könnte sie nie etwas trennen. Beide strahlten um die Wette. 1989 stand da nur auf der Rückseite. Auf dem dritten Bild stand 1990, die Jungen posierten stolz in Badehose am Strand vor einer großen Sandburg, etwas abseits saß ein Mädchen mit langen braunen Haaren, das bewundernd zu den beiden aufsah. ‚Sicherlich Mariella’ dachte Rieke.
Das letzte Foto, das auch in der kleinen Kiste ganz unten gelegen hatte, zeigte wieder die drei im Urlaub, aber die Stimmung hatte sich offensichtlich verändert. Nun stand Richard mit gleichgültigem Blick ein Stück abseits, während David seinen Arm besitzergreifend um Mariellas Schultern gelegt hatte, die triumphierend in die Kamera schaute. Sylt 1991, da waren die beiden 14 Jahre alt gewesen.
Weitere Fotos von späteren Urlauben gab es nicht.

Riekes Puls raste, als sie das kleine Notizbuch aufschlug. Die beiden waren einmal die besten Freunde gewesen. Was war wohl passiert? Und hatte Richard es in seinem Büchlein notiert?
Aber schnell musste Rieke feststellen, dass das Buch wenig ergiebig war, zumindest gab es keine Antworten, warum die zwei Brüder nun so erbitterte Feinde waren, die mit allen Mitteln gegeneinander und um Kerima kämpften.
Es waren immer nur kurze Kommentare drin, die Schrift schon nicht mehr so kindlich wie noch auf dem Foto mit den kleinen Blutspritzern.
Der letzte Eintrag war in dicken, mehrmals umrandeten Großbuchstaben, mit jeder Menge Ausrufungszeichen dahinter:
‚DAVID IST EIN RIESENGROßER IDIOT!!!!’
stand da. Schnell schaute sich Rieke die Einträge davor an.
‚Muss dringend mit D reden, aber er hat keine Zeit’
‚D ist nicht zum Baumhaus gekommen’
Da keinerlei Zeitangaben dabei waren, konnte Rieke nur raten, dass Richard wohl einige Tage versucht hatte, mit seinem Freund zu reden, aber David hatte keine Zeit für ihn gehabt. War das der Anfang vom Ende ihrer Freundschaft gewesen?
Zu guter Letzt schaute Rieke noch in den großen Briefumschlag. Sie fand eine ganze Reihe an vergilbten Zeitungsartikeln, zum Teil aus deutschen Zeitungen, aber auch aus spanischen. In allen ging es darum, dass der Mitinhaber der erfolgreichen neuen Berliner Modefirma Kerima, Claus von Brahmberg, als vermisst galt. Rieke las zum ersten Mal, was passiert war:
Er war mit seinem Segelboot, das er von der Nordsee über den Winter nach Mallorca überführen wollte, irgendwo verschollen. Der Funkkontakt zu ihm war ungefähr eine Tagesetappe von Mallorca entfernt abgebrochen, aber auch sofort eingeleitete Suchmaßnahmen hatten keinerlei Ergebnisse erbracht. Nach einer Woche hatte man die Suche eingestellt. Claus von Brahmberg galt als erfahrener Segler, der die Strecke schon viele Male in beide Richtungen zurückgelegt hatte.
Rieke schaute auf das Datum: Ende Oktober 1991, also ein paar Monate nachdem das letzte Urlaubsfoto auf Sylt aufgenommen worden war.
Dann sah sie die Todesanzeige, am 28. 10. 2001, also genau zehn Jahre später, war Claus von Brahmberg dann endgültig für tot erklärt worden, davor galt er immer noch als vermisst.
Auch das war den Zeitungen wieder eine kleine Notiz wert gewesen, diesmal sogar mit einem Foto, das einen Mann auf einer Segeljacht zeigte, leider so klein und unscharf, dass Rieke nicht wirklich etwas erkennen konnte. Es war ihr aber auch nicht wichtig, zu wissen, wie ein längst Verstorbener aussah, den sie nie gekannt hatte.
Sie rieb sich die Augen und streckte sich. Mittlerweile war es zwei Uhr morgens vorbei, aber eigentlich war sie keinen Schritt weiter. Nur die Tatsache, dass Richard und David einmal als Kinder die engsten Freunde gewesen waren, erbrachte noch keinen Beweis dafür, dass Richard seinen Bruder nun nicht entführt hatte.
Aber Rieke war sich nun noch sicherer, dass er so etwas nie tun würde. Sie stand auf und ging ins Bad, und nachdem sie die Toilette benutzt hatte, tupfte sie sich ein bisschen von seinem Parfum aufs Handgelenk. Dann stellte sie ihr Handy, und legte sich auf Richards Bett. Morgen früh musste sie versuchen heraus zu finden, wo zum Teufel der Mann steckte.
Innerhalb von Sekunden war sie tief und fest eingeschlafen.

Kapitel 9


„Los, rein da“ wurde er von einer harschen Stimme angeraunzt, während er grob in einen schlecht beleuchteten Raum gestoßen wurde.
David taumelte, weil er noch benommen war von den Tabletten, die man ihm die letzten Tage immer wieder eingeflößt hatte, stets bevor er soweit wach war, dass er sich wehren konnte. Und weil er nicht richtig sehen konnte und seine Hände gefesselt waren, fiel er beim nächsten Stoß endgültig auf den Boden, wo er zusammengekauert liegen blieb. Er hörte, wie sich die Türe wieder schloss und der Schlüssel umgedreht wurde.
‚Wieder eingeschlossen’ dachte er, wie schon die letzten Tage, auch wenn David nicht genau sagen konnte, wie lange er nun schon gefangen gehalten wurde. Er war zu lange betäubt gewesen und auch seine Uhr, auf der er das Datum hätte ablesen können, hatte man ihm abgenommen, so dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte.

Wieder driftete nur Nebel durch seinen schmerzenden Kopf und er brauchte einige Sekunden, um vernünftig denken zu können.
„Hey, komm hoch!“ David spürte, wie ihn jemand am Unterarm packte und hochzog. Sobald er einigermaßen sicher stand wurde er sanft zu einer Art Feldbett dirigiert, wo er sich hinsetzen konnte.
Kurze Zeit später hielt ihm jemand etwas vor die Nase.
„Trink das, David.“
Mit einer schnellen Armbewegung schlug er seinem Gegenüber den Plastikbecher aus der Hand.
„Nein, ganz bestimmt nicht! Ich nehme nicht noch mehr von dem Gift!“  sagte er wütend und versuchte zum ersten Mal seinem Gegenüber ins Gesicht zu schauen.
„Es war nur Wasser“ murmelte der, und ging ein paar unsichere Schritte um den Becher wieder vom Boden aufzuheben. Danach ging er in die Ecke des Raumes und füllte umständlich den Becher wieder aus dem Wasserhahn, der dort über einem dreckigen Waschbecken angebracht war.
„Hier, siehst Du, nur Wasser.“ Wieder wurde David der Becher vor die Nase gehalten.
Im schummerigen Licht einer einzigen, schwachen Glühbirne versuchte David zu erkennen, wer das war. Die Stimme kam ihm wage vertraut vor, auch wenn sie heiser klang und nur leise gesprochen wurde. Wenn doch nur sein Kopf nicht so schmerzen würde. Erschöpft ließ er sich zur Seite fallen.
„Nur ein bisschen ausruhen“ flüsterte er noch, dann war er wieder eingeschlafen.

Als David wieder wach wurde stellte er als erstes fest, dass ihm nicht mehr so kalt war wie die letzten Tage, als er in seinem Dämmerzustand eigentlich permanent das Gefühl hatte, erbärmlich zu frieren. Auch seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen, anscheinend hatte er länger geschlafen als er im ersten Moment dachte. Vorsichtig bewegte er sich und versuchte seine neue Umgebung zu entdecken. Er erinnerte sich, von einer groben Hand in einen anderen Raum geschoben worden zu sein, als den bisherigen, in dem er untergebracht gewesen war.
David registrierte, dass ihn jemand mit einer Decke zugedeckt hatte und es fiel ihm ein, dass er nicht alleine in diesem Raum war. Seine Hände waren allerdings immer noch gefesselt, die Handgelenke schmerzten ihn, aber noch waren sie nicht blutig gescheuert.

Langsam drehte er den Kopf um den Raum zu erkunden. Neben dem Waschbecken in der Ecke, das er schon vorhin so halb wahrgenommen hatte, war eine Toilette, daneben stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl davor und zwei Plastikbechern drauf. David ließ seinen Blick weiter durch das Zimmer wandern. Auf der anderen Seite, neben der Türe, saß jemand auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, den Kopf gesenkt als würde er schlafen, die Knie angezogen und die Arme drauf gestützt. Das war dann also wohl sein neuer Aufpasser. Bisher war er, zumindest glaubte er das, zumeist allein eingesperrt gewesen.

„Na, aufgewacht?“
David erschrak, als er auf einmal die heisere Stimme vernahm. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er zunächst einmal. Aber er setzte sich zumindest auf und schwang die Füße auf den Boden, damit er zur Not schnell aufstehen konnte.
„Die Kopfschmerzen lassen mit der Zeit nach, du musst nur viel von dem Wasser trinken. Das Wasser ist ok hier in der Luxus-Suite!“ Dieser Satz wurde von einem abfälligen Lachen begleitet.
Auf einen Schlag war David klar wen er da vor sich hatte.
„Richard, Du Schwein“ schrie er und war mit einem Satz aufgesprungen und zog den anderen am Kragen in die Höhe, „Dir hab ich den ganzen Scheiß hier also zu verdanken!“
Auch wenn David durch die schnelle Bewegung wieder total schwindelig geworden war, so hielt ihn seine Wut doch aufrecht. Er stieß den Kopf seines Opfers gegen die Wand und schrie weiter:
„Na los, sag schon was, oder hat es Dir die Sprache verschlagen?“
„Lass mich los Du Idiot“ schrie Richard zurück, wenn auch nicht so kräftig wie David, seine Stimme war zu schwach und gleich darauf wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt.
„Ich bin doch nicht bescheuert“ schleuderte David ihm ins Gesicht. „Wenn Du hier meinst Du könntest miese Spielchen mit mir spielen hast Du Dich aber getäuscht!“ Mit einem Ruck warf er Richard zur Seite. Der versuchte sich noch abzufangen, aber an der glatten Wand konnte er keinen Halt finden und er fiel mehr oder weniger ungebremst auf den Boden. Blitzschnell kniete David über ihm und rammte ihm seine Ellbogen seitlich in die Rippen.
Richard stieß einen Schmerzensschrei aus.
„Verdammt David, bist Du noch zu retten?“ schrie er zurück.
„Ja, bin ich Du Arschloch, wenn ich Dich nämlich erstmal fertig gemacht habe werde ich hier einfach rausmarschieren und Dich der Polizei übergeben!“ brüllte ihm David ins Gesicht.
„Ja, super Plan, dann fang doch gleich mal an, dann sind wir um so schneller fertig“ schleuderte Richard ihm entgegen und versuchte, seinen Kopf wegzudrehen, da er mehr ahnte als sah, wie David mit beiden Händen ausholte und ihm die Fäuste ans Ohr knallte.
Benommen blieb Richard liegen, während David schwer atmend auf sein Opfer runter schaute.
„Scheiße, was ist das denn jetzt wieder für ein mieser Trick?“ fassungslos sah David, wie sich neben Richards Kopf eine kleine Lache bildete. ‚Das ist doch nicht etwa Blut?’ dachte er entsetzt.
Erschrocken sprang er auf und wich zurück bis er die Wand an seinem Rücken spürte. Gespannt beobachtete er Richard, der sich stöhnend umdrehte und auf dem Rücken liegen blieb. Im spärlichen Licht der Glühbirne wurde David schlagartig klar, dass er seinen Bruder tatsächlich nur an der Stimme erkannt hatte, denn sein Gesicht war kaum noch zu erkennen. Eingefallene Augen, hohle Wangen, bedeckt mit einem Vollbart und viel zu lange Haare. Anscheinend hatte ihm der Schlag von David oder der Aufprall am Boden nun auch noch eine Platzwunde an der Augenbraue beigebracht, die heftig blutete.

„Oh Gott“ stöhnte David, „was ist hier eigentlich los?“
Seine gerade eben noch im Übermaß vorhandene Wut verrauchte so schnell wie sie gekommen war und mit ihr auch die Hoffnung, hier lebend wieder raus zu kommen.
Wenn Richard so aussah, war er entweder unter die oscar-verdächtigen Schauspieler gegangen mit einem wahnsinnig guten Maskenbildner oder er war selber auch schon länger hier in diesem Loch.
Immer noch misstrauisch blieb David wie angewurzelt stehen während er zusah, wie sich Richard stöhnend auf die Seite rollte und dann mühsam versuchte aufzustehen. Als er das geschafft hatte wankte er rüber zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und hielt den ganzen Kopf drunter. David sah die dunklen Schlieren Blut im Abfluss verschwinden, aber er regte sich immer noch nicht. Dann beobachtete er wie Richard nach dem fadenscheinigen Handtuch griff und versuchte, damit die Blutung an seiner Augenbraue weiter zu stoppen.
‚Himmel’ dachte David, als er sah, dass Richards Hände ebenfalls zusammengebunden waren, nur dass seine eigenen Handgelenke dagegen noch kerngesund waren, auch wenn das Plastikband einschnitt. Aber Richards Gelenke waren komplett aufgescheuert und wund.
„Scheiße, scheiße, scheiße“ fluchte David laut vor sich hin.
Langsam drehte sich Richard zu ihm um und sah ihn lange an.
„Das kannst Du laut sagen“ brummte er dann als einzigen Kommentar bevor er sich zu der Pritsche begab und sich drauflegte, während er das Handtuch weiter auf seine Braue drückte.
„Wenn Du Dich soweit beruhigt hast, dass man Dich gebrauchen kann kannst Du ja mal unter das Waschbecken schauen, da liegt ein Verbandskasten. Vielleicht kannst Du ja einem miesen Schwein wie mir trotz aller Abneigung ein Pflaster aufkleben!“ Richards Stimme klang eher resigniert und müde als alles andere.
„Oh Gott, Richard, das wollte ich nicht“ antwortete David hastig und beeilte sich, nach dem Verbandskasten zu greifen und ein Pflaster heraus zu suchen. Da natürlich die Schere, die sonst in diesem Dingern lag, entfernt worden war, musste er von dem ganzen Teil ein Stück mit den Zähnen abreißen. Dann sah er noch ein Stück Mull und drückte zuerst das auf Richards Augenbraue und fixierte es erst danach mit dem Pflaster. Er hoffte, dass beides nicht zu schnell wieder durchblutete, denn viel war von dem Verbandszeug nicht vorhanden.
„Ähm, bleib am Besten einfach eine Weile ruhig liegen bis es aufgehört hat zu bluten“ sagte er dann verlegen und zog die Decke über Richards Beine.
Richard schielte ihn von unten her an.
„Du bist eine miserable Krankenschwester, aber dennoch, danke“ meinte er müde, dann drehte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen.


Kapitel 10


‚Miep, miep, miep’ Rieke brauchte eine ganze Weile, ehe sie kapierte, dass das Geräusch von ihrem Handy kam. Ohne die Augen wirklich zu öffnen tastete sie nach dem Telefon, das neben ihr auf dem Kopfkissen lag. Sie drückte irgendeinen Knopf und kuschelte sich wieder in die Decke.
Mhm, sie schnüffelte, das roch hier aber gut. Langsam dämmerte ihr dann wieder, wo sie war, und dass das ihr eigenes Handgelenk war, dass so lecker roch. Sie hielt es sich noch mal vor die Nase und sog tief die Luft ein. Ihr Herz machte einen kleinen, unkontrollierten Hüpfer dabei. Rieke lächelte und stand dann endgültig auf.
Ein bisschen peinlich war ihr das Ganze hier schon – sie hatte immerhin in der Wohnung eines ihr wildfremden Mannes übernachtet.
‚Ok’ dachte sie selbst-ironisch, ‚das war schon mal vorkommen, aber da war der Typ wenigstens dabei gewesen’!
Sie rieb sich die Augen und schaute nach der Uhrzeit auf ihrem Handy. Kurz nach halb sieben. Keine entgangenen Anrufe. Das hieß, dass man weder David Seidel noch Richard von Brahmberg diese Nacht gefunden hatte, sonst hätte Horst sie angerufen. Kurz überlegte Rieke, ob sie hier duschen sollte, aber dann machte sie hastig das Bett, zog ihre Schuhe an und schlich leise raus um nach Hause zu fahren.

Erleichtert stellte sie fest, dass Volker nicht in ihrer Wohnung war. Vermutlich hatte er endlich mal wieder bei sich zu Hause übernachtet, nachdem er Riekes sms bekommen hatte. Rieke seufzte. Sie würde so schnell wie möglich mit ihm reden müssen. Sie nahm sich vor, nachher schnell eine sms zu schicken um sich heute Abend mit ihm in einer Kneipe zu treffen. Ein neutraler Rahmen kam ihr am ungefährlichsten vor, auch wenn sie nicht genau wusste, warum sie so dachte. Volker war ja nicht gewalttätig oder so, aber sie wollte einfach auch nicht, dass er ihr eine große Szene hinlegte. In der Öffentlichkeit waren die Menschen ja in der Regel doch zurückhaltender.

Bevor sie unter die Dusche ging setzte sie sich noch schnell mit Horst Kreuzer in Verbindung. Wie Rieke schon richtig vermutet hatte, gab es bisher kein Lebenszeichen von David Seidel.
Dafür gab es andere Neuigkeiten. Die Kollegen hatten das Hotelzimmer, in dem Richard von Brahmberg angeblich abgestiegen war, von oben bis unten auseinander genommen. Das Ergebnis war, dass in diesem Raum definitiv die letzten drei Tage keiner gewohnt hatte. Die Hotelangestellten konnten sich nicht erinnern, wie der Mann ausgesehen hatte, der das Anmeldeformular ausgefüllt hatte und danach hatte ihn auch keiner mehr gesehen. Da es sich speziell bei diesem Hotel um ein sehr diskretes Haus handelte, hatte man die Bitte des Gastes respektiert, nicht gestört zu werden und keinen Zimmerservice vorzunehmen. Wer die Polizei informiert hatte ließ sich ebenso wenig rekonstruieren. Der Hotelmanager versicherte, dass es keiner seiner Leute gewesen sein könnte, das würde der Philosophie des Hauses vollkommen widersprechen und zu sofortiger Kündigung führen.
Also wieder ein totes Ende in ihren Ermittlungen, wie Horst frustriert anmerkte.
Rieke dagegen schloss am anderen Ende der Leitung die Augen und ballte die freie Hand zur Faust. Ein Schwall der Erleichterung machte sich in ihrem Bauch breit.
‚Ich hab’s gewusst’ dachte sie. ‚Irgendjemand legt da falsche Fährten!’

„… nicht von Richard von Brahmberg!“ seufzte Horst müde.
Oh Gott, Rieke hatte nicht zugehört. Was war nicht von Richard?
„Ähm, entschuldige Horst, kannst Du das noch mal sagen? Ich glaub, wir haben eine schlechte Verbindung“ brüllte sie in den Hörer.
„Bist Du wahnsinnig? Wir haben eine spitzen Verbindung und jetzt hör auf mir ins Ohr zu schreien. Du spinnst wohl“ raunzte Horst sie an.
„Sorry, wir sind wohl alle etwas angespannt momentan“ ergänzte er dann nach einigen Sekunden, als Rieke stumm blieb.
„Also noch mal: Friedrich Seidel hat doch dieses Handy zur Geldübergabe bekommen. Wir haben auf der Innenseite des Akku-Deckels einen fast vollständigen Fingerabdruck gefunden. Und dieser stammt definitiv nicht von Richard von Brahmberg!“
„Sag ich doch die ganze Zeit, er war’s nicht.“
Rieke hätte vor Freude Luftsprünge machen können. Nun hatten sie endlich einen Beweis.
„Na ja, zumindest war er es wenn nicht allein“ korrigierte Horst sie.
„Nein, er war’s nicht, nicht allein und nicht mit jemandem zusammen“ stellte Rieke fest, „davon bin ich absolut überzeugt. Pass auf, wir treffen uns in einer Stunde im Büro, ich bring was zum frühstücken mit und dann zeige ich Dir, dass da jemand versucht uns ganz gewaltig in die Irre zu führen“.
„Dein Gefühl wieder, was? Also gut, ich bin gespannt.“ Obwohl Horst immer noch skeptisch klang, so war auch er an einem Punkt, an dem er bereit war, sich Riekes „Gefühl“ in dieser Sache näher erläutern zu lassen.

Einer Eingebung folgend fuhr Rieke, nachdem sie geduscht und sich hastig angezogen hatte, zunächst noch bei Kerima Moda vorbei, wo sie nach kurzer Zeit bereits herausgefunden hatte, was sie wissen wollte und mit einem fetten Grinsen im Gesicht traf sie eine Stunde später im Büro ein.

„Da, frische Brötchen und Aufschnitt“ sie warf Horst die beiden Tüten, die sie eben noch schnell geholt hatte auf den Tisch.
„Und ich brauch erstmal einen Kaffee“ Rieke schmiss ihre Jacke über die Stuhllehne und schnappte sich ihre Tasse.
„Na Du bist ja gut gelaunt“ brummte Horst.
Rieke grinste die Kaffeemaschine an. „Du musst Dich ein bisschen zusammen reißen“ flüsterte sie ihr zu, „wir stecken noch mitten in den Ermittlungen“.
Dann drehte sie sich schwungvoll zu ihrem Chef um, holte sich ein Croissant aus einer der Tüten und biss herzhaft zu.
„Besonders gute Laune am frühen Morgen, ordentlichen Appetit vor elf Uhr, so kenne ich Dich ja gar nicht. Dann erzähl doch mal“ forderte Horst sie auf und nahm sich selber ein Brötchen um es mit Wurst zu belegen.
„Also“, fing Rieke an, „zuerst hatte ich nur immer so ein Gefühl, als ob etwas an der ganzen Sache faul wäre. Ich mein, Richard ist nicht dumm (bei dieser Bemerkung zog Horst fragend die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts), warum sollte er also so viele Hinweise hinterlassen, he? Erst der falsch geparkte Porsche am Flughafen, dann die ausgedruckte Email, die falschen Klamotten eingepackt, ein Hotel-Check-in unter seinem eigenen Namen“ Rieke rollte mit den Augen. „Da waren ja die Panzerknacker cleverer“ meinte sie und fuhr dann eifrig fort:
„Und dieses Gefühl ließ mich nicht los, also hab ich alles noch mal gecheckt. Und gestern, da hab ich entdeckt, dass diese angebliche Flugticketbuchung nach Rio de Janeiro bereits an dem Tag stattgefunden hat, als abends erst der Kerima Kostümball war.“
Horst sagte immer noch nichts, forderte sie nur mit einem Kopfnicken auf weiter zu machen, während er sein Brötchen kaute.
„Na, ist doch klar: entweder hat er geplant abends seine Geliebte zu verletzen und danach zu fliehen, aber dann wäre es echt bescheuert, die Buchung liegen zu lassen, oder jemand hat das alles sorgfältig vorbereitet, um ihm später die beabsichtigte Entführung von David Seidel in die Schuhe zu schieben.“

„Warum ist er dann auf seinen Bruder losgegangen?“ fragte Horst dazwischen.
„Ich glaube, der war nur zur falschen Zeit am falschen Ort, was im Nachhinein aber dem Entführer nur recht sein konnte. Ich habe übrigens heute Morgen auch noch mal mit dieser Frau Hofmann bei Kerima gesprochen. Wusstest Du, dass sie permanent in Finanznöten war? Und sich Richard nur seines Geldes wegen geangelt hatte?“ Rieke schaute eifrig über den Tisch zu Horst.
„Ja, so etwas ähnliches hab ich mir schon gedacht“ schmunzelte der.
„Nun, auf alle Fälle hab ich vorhin folgendes von ihr erfahren: einen Tag vor dem Kerima Ball hatte sie in ihrem Briefkasten einen Umschlag gefunden ohne Absender oder Poststempel, lediglich mit ihrem Namen versehen. Darin war ein Brief, am Computer geschrieben, der besagte, wenn sie am Abend des Balles Richard vor seiner ganzen Familie und allen Angestellten damit provozierte, dass er gar nicht der Vater ihres Kindes sein könnte, würde sie am nächsten Tag zwanzigtausend Euro in bar in ihrem Briefkasten finden!“
Horst verschluckte sich fast an seinem Bissen und musste heftig husten.
„Und?“ fragte er dann luftschnappend nach, „hat sie?“
„Sie hat!“ bestätigte Rieke triumphierend. „Wie sie selber zugeben musste, hat sie nicht damit gerechnet, dass der Streit dermaßen eskalieren würde. Richard muss vorher schon stink wütend gewesen sein, weil er sie erwischt hatte, wie sie trotz Schwangerschaft mehrere Tequilla getrunken hat. Ihre gespielten Vorwürfe vor versammelter Mannschaft haben das Fass dann wohl zum überlaufen gebracht.“ Rieke zuckte mit den Schultern. „Dass er dann noch auf seinen Bruder losgegangen ist war wohl eine Kurzschlussreaktion!“

„Nicht schlecht Kollegin, nicht schlecht!“ murmelte Horst nachdenklich vor sich hin.
„Nur? Wo zum Teufel ist der von Brahmberg hin verschwunden und wer hat David Seidel entführt?“

Rieke holte tief Luft und das, was sie nun laut aussprach, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz.
„Hast Du Dir die Lösegeldforderungen mal genau angeschaut?“ fragte sie ihren Chef. „Da stand immer was von „die Söhne“, Mehrzahl. Friedrich Seidel hat ja auch zwei Söhne, auch wenn immer nur von David die Rede war.“

Horst schaute sie fassungslos über den Tisch hinweg an, dann haute er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
„Natürlich, gottverdammtescheiße, dass hätte uns doch auffallen müssen. Der Dreckskerl hat beide!“
Diesen Gedanken, dass Richard nun schon seit knapp über vier Wochen irgendwo gefangen gehalten wurde hatte Rieke schon den ganzen Morgen über versucht zu verdrängen. Sie war Polizistin, sie wusste, was das bedeutete. Selbst wenn er noch lebte, so würde er diese Zeit niemals wieder vergessen können, ganz abgesehen davon, ob er körperlich einigermaßen unversehrt aus dieser Sache heraus kommen konnte. Genau wie sein Bruder, der nun schon den fünften Tag verschwunden war.  

Fieberhaft suchte Horst die Schreiben aus der Aktenmappe und las sie vor:
„Da, ‚die Söhne bezahlen für die Sünden der Väter’, ‚die Väter müssen für ihre Söhne bezahlen’ und ‚Die Sünden der Väter bezahlen die Söhne mit ihrem Leben’“.
„Aber wenn ‚Söhne’ wirklich zwei meint, warum dann auch ‚Väter’?“ fragte Horst nachdenklich. „Warum dann nicht ‚der Vater’?“
Rieke zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. Sie hatte auch keine Ahnung. Sie hatte nur das Gefühl, Richard verloren zu haben, bevor sie die Chance gehabt hatte, ihn kennen zu lernen.
„Ich muss mal zur Toilette“ flüsterte sie und rannte aus dem Büro, damit Horst ihre Tränen nicht sah, von denen sie selber erschrocken war, dass sie sie weinte.


Kapitel 11


„Hast Du eine Ahnung, wie lange Du schon hier bist“?

Richard und David saßen nebeneinander auf der Pritsche, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
Nachdem Richard wieder aufgewacht war, hatte ihm David zunächst ein neues Pflaster auf die Augenbraue geklebt. Richard hatte zwar gemotzt, als er das alte, blutverklebte, mit einem schmerzhaften Ruck abzog, aber dennoch stillgehalten. Dann hatten sie sich in stillem Einverständnis die Liege geteilt und endlich angefangen, vernünftig miteinander zu sprechen und ihre missliche Lage zu analysieren.

„Nein, schätze mal so zwei Tage, aber die haben mir die ganze Zeit irgendein Schlafmittel eingeflößt bevor sie mich hier rein gebracht haben. Genau kann ich es nicht sagen.“
David zuckte mit den Schultern.
„Und Du?“ er streifte Richard mit einem neugierigen Blick.
Dieser Bart war schon ganz schön lang, auch die Haare fielen ihm ins Gesicht.
„Was ist der letzte Tag an den Du Dich erinnern kannst?“ Richard sah David direkt ins Gesicht.
„Der 20. März“ antwortete David, „ich war mit Lisa zum Essen verabredet!“
Richard starrte die Wand gegenüber an.
„Über vier Wochen“ flüsterte er dann, „vier verdammte Wochen in der Hölle!“
David schrak zusammen, als Richard plötzlich den Hinterkopf gegen die Wand schlug.
„Hey, hör auf damit, das bringt nix“ versuchte er zaghaft einzuwenden.
„Ach ja?“ Richard blickte weiter ins Leere.
David fühlte sich völlig hilflos. Vier Wochen, mein Gott, das musste wirklich die Hölle sein. Er war nun seit mehr oder weniger ein paar Stunden so weit klar, dass er wusste, was los war und hätte jetzt schon die Wände hochgehen können. Wie konnte man da vier Wochen zubringen? Er wusste aber absolut nicht, was er zu Richard sagen sollte, also schwiegen die beiden einige Minuten.

„Wie? Ich mein, wie konnten Dich die Mistkerle überwinden?“ fragte David dann nach einer Weile, als er die unheimliche Stille, die von Richards Starrheit ausging, nicht mehr ertrug.
„In der Tiefgarage. Ich war auf dem Weg zu…“ Richard stockte, „… und gerade als ich eingestiegen war wurde die Tür blockiert und jemand drückte mir einen Lappen ins Gesicht. Chloroform nehme ich an, ich war sofort weg. Das nächste was ich gesehen hab, ist dieser Raum hier, keine Sonne, keinen Himmel, keinen anderen Menschen.“
David runzelte die Stirn.
„Aber Du bist doch von jemandem verpflegt worden, oder?“ fragte er zweifelnd nach. Wie konnte es da sein, dass Richard nie einen anderen Menschen gesehen hatte?
Richard drehte den Kopf zur Tür.
„Siehst Du die Klappe da unten an der Tür? Da wurde das Essen durchgeschoben. Bisher zumindest“ ergänzte er.

Seit David hier war, hatte niemand mehr die Klappe betätigt. Die Verpflegung war sowieso mager gewesen, und, wenn man das mit einem so verdrehten Zeitgefühl, wie man das nach langem eingesperrt sein bekommt, überhaupt sagen konnte, sehr unregelmäßig.
„Wasser gibt’s am Hahn, wie Du ja schon weißt“. Richard hustete.
„Dir geht’s nicht gut, oder?“ fragte David zaghaft, er kam sich so blöd vor, aber er wusste beim besten Willen nicht, was er anderes hätte sagen sollen.
„Geht schon, mach Dir keine Sorgen. Am Husten werde ich nicht sterben.“ Richards zynische Ader war anscheinend auch noch nicht vollkommen abgestorben. Natürlich merkte David, dass die Wochen hier drinnen Richard extrem verändert hatten, auf der anderen Seite hatten die beiden seit Jahren nicht mehr wirklich vernünftig miteinander gesprochen, also woher sollte er auf einmal wissen, über was man reden könnte um die Wartezeit hier zu verkürzen. Also starrte er auch wieder an die Wand.

„Wo haben sie Dich erwischt?“ Richard hatte sich nicht mal bewegt während er die Frage stellte.
„So ähnlich wie bei Dir, auch im Auto. Ich war in Eile, hatte am Straßenrand geparkt und gerade vorher noch telefoniert. Ich hab absolut niemanden kommen sehen.“ David schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dein Porsche wurde übrigens am Flughafen gefunden. Die Polizei war noch mal da, weil ich Dich ja,… also, wegen der Sache da halt. Und da haben sie gesagt, sie vermuteten Dich in Südamerika.“
Richard drehte den Kopf zur Seite und schaute David mit hochgezogenen Brauen forschend an.
„Der ‚Sache’ da halt? Was für eine Sache würde denn wohl die Polizei interessieren? Mein Porsche?“
David seufzte. Im Nachhinein betrachtet war es ja echt kindisch, aber an dem Abend war er so wütend gewesen, erst Mariella mit ihrem Architekten, dann der blöde Kowalski, der immer um Lisa rumscharwenzelte und dann auch noch der Streit mit Richard.
„Irgendjemand hat am Abend des Kostümballs Sanitäter gerufen, vor allem für Sabrina und dann haben sie auch mich verarztet, nach dem Du mir den halben Arm abgesäbelt hattest“ er warf Richard einen giftigen Blick zu. „Und die haben die Polizei mitgebracht und dann kam eins zum anderen und naja….“
„Was ist mit Sabrina?“ fragte Richard ruhig, ohne allerdings David dabei anzusehen.
„Nix, sie arbeitet wieder und zickt rum. Jetzt wo sie schwanger ist, meint sie echt sich alles erlauben zu können.“ David schüttelte leicht den Kopf.
„Hm“ war Richards einziger Kommentar. „Und was war nun mit der Polizei?“

„Ich hab Dich angezeigt, wegen Körperverletzung“ gab David zu.
„Oh, cool, ich hätte gedacht, dass ich Ärger krieg wegen Sabrina, aber dass Du Dich wegen so eines kleinen Kratzers gleich so aufregst…“ Richard ließ den Satz in der Luft hängen, ohne David dabei allerdings aus den Augen zu lassen.
„Hör mal, ich war scheiße drauf an dem Abend und dann bist Du auch noch so ausgetickt. Ich war einfach nur stink wütend auf Dich, so behandelt man schließlich auch keine Frauen.“ David schaute Richard vorwurfsvoll an.
„’Oh’, sagte der Mann im Glashaus, als plötzlich die Scheibe zerbrach. Du hast es grad nötig mir zu erklären, wie man mit Frauen  umgeht!“ schnaubte Richard.
„Grade Du, der Du vor den Augen der ganzen Welt meine Schwester jahrelang mit allem betrogen hast, was auch nur annähernd willig war!“ Wütend blickte er rüber zu David.
„Und ausgerechnet Du willst mir Vorträge halten? Ich lach mich schlapp!“
„Lass Mariella aus dem Spiel, sie hat nichts damit zu tun!“ schnappte David zurück.
„Ach nein? Gut, wenn’s hier nicht um Sabrina, Mariella oder sonst eine der vielen Frauen in deinem Leben geht, dann erklär mir doch mal, was Du der Polizei sonst noch so schmeichelhaftes über mich erzählt hast.“ Richard war nun auch stink wütend.

„Na, alles. Was für ein Arschloch Du bist und wie Du mit jedem miesen Trick versucht hast, Dir Kerima unter den Nagel zu reißen!“ schrie ihm David entgegen.
„Ach ja? Miese Tricks, was? Und was ist mit der tollen ‚B-Style’ Geschichte, nur um den Kredit zu bekommen? Der Trick war ja wohl noch mieser als alles zusammen, vor allem wenn ich überleg, wie du Lisa manipuliert hast damit sie mitmacht!“ schrie Richard zurück.
Verblüfft glotzte David Richard an, sagte aber nichts.
„Hast Du gemeint, ich krieg das nicht mit? Dann musst Du noch blöder sein, als ich immer gedacht habe“, lachte Richard.
„Wieso hast Du nichts unternommen? Du hättest die Geschäftsführung haben können, wenn Vater das erfahren hätte“. David war ehrlich überrascht.
„Weil die Idee zur Abwechslung mal wirklich gut war. Und weil ich Vertrauen in Lisa und ihre buchhalterischen Fähigkeiten hatte. Du hättest sie von Anfang an ernster nehmen sollen kleiner Bruder“. Dann fügte Richard noch an: „wenn ich nicht geahnt hätte, dass Lisa für Dich den Karren aus dem Dreck zieht wäre ich eingeschritten.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Und die ganzen anderen kleinen Gemeinheiten? Was war zum Beispiel mit dem plötzlichen Streik der Näherinnen? Der ist doch auf Deinem kranken Mist gewachsen!“ Davids Wut begann sich gerade wieder aufzubauen.
Richard grinste. „Kleine Herausforderung für Dich. Was willst Du denn, ist doch gut gegangen.“
„Du spinnst doch komplett“ warf ihm David vor.
„Vermutlich hab ich das, da könnte ich Dir unter Umständen sogar zustimmen. Ja, ich hab ganz schön gesponnen, hab Dir das Leben schwer gemacht. Du und Hugo, ihr hättet Kerima mit Euren übersprudelnden Ideen in kürzester Zeit in den Ruin getrieben.“
„Aber“ fuhr Richard fort, „erstens hast Du mit Lisa eine Frau mit viel mehr Verstand als alle ihre Vorgängerinnen zusammen und zweitens: die Kleine war so schlau zu erkennen, dass ich der bessere Kaufmann von uns beiden bin. Geteilte Geschäftsführung, das war doch ein kluger Schachzug, findest Du nicht?“
„Nein“ knurrte David, „finde ich überhaupt nicht. Du glaubst nicht wie erholsam die letzten vier Wochen ohne Dich waren.“
„Warum? Weil Dir keiner Deine Grenzen aufgezeigt hat?“ fuhr ihn Richard an.
„Weil Du nicht genervt hast!“ bekam er lautstark zur Antwort.
„Oh ja, typisch David Seidel, wenn’s mal nicht nach seinem Kopf geht sind immer die anderen Schuld, was?“ ätzte Richard. „Aber ich sag Dir mal was, Du kleiner Scheißer, so läuft es eben nicht. Die Firma gehört nun mal uns Beiden und ich werde nicht zulassen, dass Du sie ein Jahr nach Friedrichs Abgang an die Wand gefahren hast!“ Jetzt schrie auch er wieder.

Richard sprang auf, füllte einen der Becher mit Wasser und trank es in einem Zug. Unmittelbar darauf bekam er erneut einen Hustenanfall und ließ sich schließlich wieder erschöpft neben David auf das Bett fallen.
Lange  Minuten schwiegen sie weiter, starren die Wand an und versuchten so gut wie möglich den anderen zu ignorieren.

Irgendwann war es David, der das Schweigen brach.

„Wann haben die zwei ehemals weltbesten Freunde eigentlich angefangen sich so zu hassen?“ fragte er leise.

Kapitel 12


Lange Zeit nach dieser Frage hielt das Schweigen an und David rechnete schon nicht mehr mit einer Reaktion von Richard.
Dann aber ließ der sich doch noch vernehmen.
„Als sie erwachsen wurden und begannen, den anderen zu enttäuschen und zu verletzen“.
David nickte stumm, dann warf er den Kopf in den Nacken.
„War es wegen Mariella und mir?“ fragte er schließlich leise.
„Nein, das heißt, nicht nur. Auch, ja. Gott, David, wir waren Teenager, das alles ist so lange her, was macht es für einen Sinn, sich jetzt noch darüber zu unterhalten?“
David zuckte die Schultern und schaute zu Richard rüber, während er den Kopf auf den angezogenen Knien ablegte.
„Wir könnten ein paar Sachen aus der Welt schaffen, bevor wir ins Gras beißen!“
Richard sah ihm tief in die Augen.
„Nie wieder, hörst Du, nie wieder will ich von Dir hören, dass Du einfach so aufgibst. Wir beißen verdammt noch mal nicht ins Gras, nicht bevor wir 90 oder so sind!“ Richard hatte noch nicht mal die Stimme erhoben, aber dennoch seine Worte so präzise formuliert, dass David nichts anderes übrig blieb, als wiederum zu nicken.
„Ok, Du hast recht. Aufgeben ist feige. Dann lass es uns halt so sehen: bevor wir uns weiter anschreien und gegenseitig fertig machen, sollten wir die Zeit nutzen und versuchen, wieder wie zwei vernünftige Menschen miteinander umzugehen wenn wir hier raus sind.“
„Dazu müssen wir aber nicht in der Vergangenheit wühlen, oder?“ Richard war von der Idee immer noch nicht wirklich begeistert.

Wieder breitete sich minutenlange Stille aus. Dann war es erneut David, der das Schweigen brach.
„Ich hab noch das Foto von Sylt, wo wir hinten drauf das Blut getropft haben. Weißt Du noch, wie wir uns gegenseitig den Unterarm angeritzt haben mit Deinem kleinen, stumpfen Taschenmesser?“
„Mhm“, Richard lachte leise, „Laura wollte nicht, dass wir ein scharfes Messer haben.“ Er schüttelte den Kopf bei der Erinnerung.
„Ich hab’s auch noch.“
„Was? Dein Foto?“ fragte David lachend nach.
„Ja, das Foto mit unserer Blutsbrüderschaft und das kleine, stumpfe Messer.“ Richard grinste ihn an.
„Man, weißt Du noch, wie genervt wir von Laura waren, weil sie uns kein echtes Schweizer Messer erlaubt hat?“
David lachte.
„Ja, und wie. Sie war so eine Glucke, immer wusste sie wo wir sind und ob wir gerade was ausgefressen hatten. Unheimlich, wie sie das gemacht hat.“ Er schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Das hatte aber auch den Vorteil, dass sie uns ab und zu mal ein paar Schokoladenkekse brachte wenn wir mal wieder das Mittagessen verpasst hatten“ grinste Richard.
„Erinnere mich nicht daran, wir hatten regelmäßig Bauchweh“ stöhnte David.

Nach einer Weile meinte Richard nachdenklich:
„Aber sie war wenigstens da, Laura meine ich. Die ganzen Wochen im Sommer, die wir auf Sylt waren. Friedrich und Claus waren in Berlin bei Kerima und Sophie war irgendwo auf der Welt, ohne Interesse an ihren Kindern. Ich hab mir immer gewünscht, Laura wäre auch meine Mutter“.

Ohne direkt auf das einzugehen, was Richard gesagt hatte, bemerkte David:
„Wir waren ein klasse Gespann damals, nicht wahr? Ich dachte immer, uns beiden kann keiner was anhaben, wir erobern gemeinsam die Welt“.
Richard drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn interessiert mit hochgezogenen Brauen.
„Was?“ David war etwas verunsichert von diesem Blick.
„Du bist erwachsen geworden kleiner Bruder“ bemerkte Richard, „wem haben wir das denn zu verdanken?“ er grinste breit.
„Lisa“ gab David leise zu. „Sie hat mir so viel an den Kopf geworfen in den letzten Monaten, und in den meisten Fällen hatte sie verdammt recht.“ Er lehnte den Kopf nach hinten an die Wand. „Sogar mit der Ohrfeige, die sie mir verpasst hat. Und das war nur der Anfang.“ Er lächelte bei der Erinnerung.
„Dann hast Du Kowalski endlich in seine Schranken gewiesen?“
„Ich hoffe es, ja. Der Tag, als mich diese Mistkerle hier geschnappt haben, sollte unser erster gemeinsamer Abend werden. Ich hatte sogar Blumen gekauft, glaubt man das?“ feixend schaute er rüber zu seinem Bruder.
„Sie wird auf Dich warten, da bin ich mir sicher. Laura sagte, dass sie ihr erzählt hat, dass sie dich schon lange liebt.“
David wäre vor Erstaunen beinahe von der Pritsche gefallen.
„Wie bitte? Du und Laura habt Euch über mein Liebesleben unterhalten?“ fassungslos starre er Richard an, aber der verdrehte nur die Augen.
„Ach komm, nimm Dich nicht so wichtig. Ja, Laura und ich haben uns immer mal getroffen, sie, ja, sie hat mich immer wissen lassen, dass sie für mich da ist, egal was für einen Mist ich gerade wieder gebaut hatte.“

Auch Richard lehnte sich wieder zurück, versuchte für seine geschundenen Handgelenke eine bequemere Position zu finden.
„Weißt Du, als Sophie an dem Abend verkündete, dass Friedrich auch mein Erzeuger ist, da war ich ein bisschen besser vorbereitet als Laura. Kannst Du Dich erinnern, dass sie im Anschluss ein paar Tage weg war? Wir waren zusammen auf Sylt“.
David verzog angeekelt das Gesicht.
„Sag, dass das nicht das ist was ich gerade denke!“ flehte er, halb im Spaß, halb ernst.
Richard lachte fies.
„Was denkst Du denn? Dass ich mit Deiner Mutter ein Verhältnis hab? Du spinnst echt komplett.“
„Na Gott sei Dank“ seufzte David erleichtert. „Was ist dass dann für eine seltsame Kombination mit Euch beiden?“ fragte er neugierig nach.
„Laura ist eine Freundin, eine sehr gute sogar. Sie war früher immer mehr eine Mutter für mich als Sophie es je sein konnte und im Laufe der Jahre wurde es Freundschaft.“ Richard stockte.

„Ich wusste es schon lange, also, dass Claus nicht mein Vater ist. Dadurch konnte ich ihr auf Sylt ein bisschen helfen die neue Situation zu verkraften“.
„Du wusstest es?“ David kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
„Warum hast Du nie was gesagt?“
Richard zuckte mit den Schultern.
„Als ich mit Dir reden wollte hattest Du keine Zeit für mich und nach einer Weile war alles anders, und es hätte nichts mehr gebracht, es noch zu erzählen“.
Forschend beobachtete David Richard, der wieder mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand anstarrte.
„Wann? Wann hast Du es erfahren?“
„September `91. Kurz nachdem wir von Sylt wieder zurück in Berlin waren. Sophie und Claus waren am streiten, wie so oft. Sie schrieen sich gegenseitig an, waren kaum zu überhören. Ich kam früher nach Hause, warum weiß ich nicht mehr. Aber sie wussten nicht, dass ich da bin, Sophie weiß es bis heute nicht. Und da hat sie es ihm gesagt, hat Claus ins Gesicht geschrieen, dass er nur zweite Wahl war, dass sie Friedrich gewollt hatte und sich wenigstens ein Kind von ihm hat machen lassen.“ Richard holte tief Luft. „Keine schöne Sache, so was mit 14 mit anzuhören“.
„Scheiße“ flüsterte David „und kurz drauf ist Claus gestorben und nichts war mehr wie es mal war.“

„Nein“ bestätigte Richard, „nichts war mehr so, wie wir es kannten. In diesen letzten Wochen hat Claus mich quasi wie Luft behandelt während Sophie wieder zu irgendeinem anderen Lover abgehauen ist. Und Mariella war jede freie Minute mit Dir zusammen, sie hat zum Glück nichts davon mitbekommen, wie sich das Verhältnis zwischen Claus und mir gedreht hatte.“
„Und ich hab Dich hängen lassen, wegen Mariella. Ich dachte immer, Du wärst eifersüchtig und wolltest Deine kleine Schwester beschützen. Ich hatte keine Ahnung, was Du durchgemacht hast.“
„Du hast mich ein paar Mal versetzt, ich hab stundenlang in unserem Baumhaus auf Dich gewartet. Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr. Aber meine Wut auf Sophie und Claus und Dich die wurde ich nicht so einfach los. Also hab ich versucht mit allen Mitteln alles anders zu machen, hab um mich getreten wo es nur ging, mir einen Panzer zugelegt. Und bin sicherlich manches Mal zu weit gegangen“.

Wieder legte sich Stille über den Raum, in der beide ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen nach hingen.

„Wusste meine Mutter, was Du mit angehört hast?“ wollte David nach einer Weile wissen.
„Nein, ich hab es ihr erst letztes Jahr auf Sylt erzählt. Sie hatte damals zwar mitbekommen, dass irgendetwas zwischen Friedrich und Claus vorgefallen sein musste, aber nicht was. Claus hat Friedrich wohl auch nie zur Rede gestellt. Und dann war Claus auf einmal weg und die ganze folgende Aufregung ließ sie dann auch wieder vergessen, noch weiter nach zu fragen. Sie hat es nur immer sehr bedauert, dass unsere Freundschaft zerbrochen ist, nahm aber an, dass der Tod meines angeblichen Vaters mich zu sehr beschäftigte während Du mit Mariella rum gezogen bist. Sie wollte sich nicht einmischen“.
„Hätte sie es mal getan, dann wäre uns vielleicht einiges erspart geblieben!“ brummte David.  
Richard zuckte mit den Schultern.
„Das können wir nicht wissen. Vielleicht hätten wir uns auch so früher oder später nicht mehr riechen können. Wir sind beide nicht gerade dafür bekannt unser Temperament gut im Zaum halten zu können.“
„Mhm“, stimmte David murmelnd zu, „da könntest Du Recht haben. Aber soll ich Dir was sagen? Ich wüsste momentan keinen besseren Freund mit dem ich hier eingesperrt sein wollte.“
Richard lehnte sich rüber und rempelte mit seiner Schulter David ein bisschen an.
„Sentimentaler Quatsch.“
Aber er grinste und ergänzte:
„Ich wünschte wir hätten ein paar Schokoladenkekse!“

Kapitel 13

Nachdem Rieke und Horst sich mit der neuen Theorie, dass beide Söhne Friedrich Seidels entführt wurden erst einmal ausreichend vertraut gemacht hatten, versuchten sie fieberhaft weitere Puzzlestückchen zu finden, die ihnen helfen würden, etwas über die mutmaßlichen Entführer heraus zu bekommen.
Sie fuhren gegen Mittag raus zur Villa Seidel und konfrontierten einen völlig verblüfften Friedrich Seidel mit ihren neuen Erkenntnissen. Aber er konnte ihnen beim besten Willen keinen nennen, der ein Interesse daran haben könnte, ihm oder seinen Söhnen oder der Firma Kerima so zu schaden.
Laura Seidel wirkte erleichtert, dass sie sich wohl doch nicht so in Richard von Brahmberg getäuscht hatte, aber auch sie wusste niemanden, den sich die Familie eventuell zum Feind gemacht hatte.
Aber die Tatsache, dass die Geldübergabe nun schon 19 Stunden her war und es immer noch kein Lebenszeichen von David gab, machte allen im Raum schwer zu schaffen. Rieke vermochte nicht, Laura in die Augen zu schauen, denn sie war sich sicher, dort die gleiche Angst zu sehen, wie vor ein paar Stunden in ihren eigenen, als sie sich auf die Toilette geflüchtet hatte. Und sie hatte keine Antworten, nur hohle Phrasen und sinnlose Versicherungen, dass alles gut ausgehen würde. Plattheiten, an die sie selber nicht mehr glauben konnte, und sie hatte nicht die Kraft Laura Seidel dies aus ihren Augen ablesen zu lassen. Also nickte sie nur stumm mit gesenkten Lidern und verließ zusammen mit Horst schnell wieder die Villa.

Zurück im Präsidium begann die Warterei von vorne. Sie drehten noch mal jeden Stein um, lasen jeden noch so belanglos erscheinenden Hinweis erneut, versuchten von Kerima Mitarbeitern Aussagen zu bekommen, ob in letzter Zeit Fremde Personen im Bürogebäude aufgefallen waren.
„Das führt zu nichts“ seufzte Horst zum mindestens zehnten Mal und ließ sich in seinen Stuhl fallen.
„Wir können nur warten, bis wir einen Hinweis bekommen. Wir haben keine Ahnung, wo David Seidel und, wenn es denn am gleichen Ort ist, Richard von Brahmberg gefangen gehalten werden. Und schon gar nicht, von wem“ merkte er noch zynisch an.
Sie hatten inzwischen, wie das nach erfolgten Lösegeldübergaben üblich war, die gesamte Polizei in und um Berlin aufgefordert, jedem noch so kleinen Hinweis nachzugehen. Man hoffte, dass irgendwo ein Anwohner merkwürdige Geräusche oder sogar Gerüche wahrgenommen hatte, irgendjemand musste doch etwas gesehen oder gehört haben. Aber anscheinend waren die beiden Opfer genauso wie ihr Entführer vom Erdboden verschwunden.

„Ich werde hier noch wahnsinnig“ rief Rieke, als sie zum x-ten Mal die verschiedenen Hinweise, die sie hatten, auf der Pinnwand oder der Landkarte umsteckte. Sie versuchte nun seit zwei Stunden, mittels farbiger Stecknadeln, einen eventuellen Aufenthaltsort einzugrenzen.
Dazu steckte sie rote Nadeln an allen Orten fest, wo Ruhestörungen gemeldet worden waren, denn vielleicht hatte ja einer der beiden eine Möglichkeit, gegen ein Heizungsrohr oder ähnliches zu klopfen bzw. sich anderweitig bemerkbar zu machen.
Gelbe Nadeln markierten Hinweise zu falsch geparkten Autos oder aufgefallenen Autos, weil sie wiederholt in Gegenden gesichtet wurden, wo sie nicht hingehörten. Man sollte nicht meinen, wie viele Leute die Polizei riefen, nur weil mal ein zehn Jahre altes Auto durch eine Strasse im Nobelviertel fuhr.
Blaue Nadeln zeigten an, wo von Apotheken Hinweise gekommen waren auf Kunden, die sich merkwürdig verhielten. Man ging davon aus, dass beide, David und Richard, eventuell verletzt wurden und hofften, dass ihnen zumindest rudimentär Hilfe geboten worden war.

Rieke war einen Schritt zurückgetreten und rieb sich die brennenden Augen, während Horst den nächsten telefonischen Hinweis einer Polizei Streife aufnahm, die meinten etwas gesehen zu haben.
Aber als sie zu ihm rüber blickte, sah sie, wie er schon während des Gesprächs den Kopf schüttelte. Wieder nichts.

Rieke sah auf die Uhr, kurz nach halb vier. Schließlich schnappte sie sich ihre Jacke und teilte Horst nur mit:
„Ich muss hier mal raus, frische Luft schnappen und wieder einen klaren Kopf kriegen. Du weißt, wo Du mich erreichen kannst.“
Horst hob nur müde die Hand und ließ sie ohne weiteren Kommentar gehen.

Zunächst stand Rieke eine zeitlang ratlos vorm Gebäude rum, ohne genau zu wissen, wohin sie eigentlich wollte, dann lief sie irgendwann einfach los und sprang schließlich in ein Taxi, dass sie zu Richards Wohnung brachte. Wieder klingelte sie zuerst bei den Claasens und diesmal war auch jemand zu Hause. Frau Claasen öffnete ihr die Tür und strahlte sie an.
„Haben sie Richard endlich gefunden?“ sie versuchte an Rieke vorbei in den Gang zu spähen, ob er da wohl stehen würde.
„Nein“ musste Rieke bedrückt zugeben, „tut mir sehr leid.“
Dann holte sie tief Luft, denn irgendwann musste sie es dieser netten Frau sowieso sagen.
„Wir befürchten, er wurde entführt und haben wenig Hoffnung, ihn nach so langer Zeit noch lebend zu finden.“  
Frau Claasen schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
„Oh Gott, nein, nicht Richard.“ Sie ließ die Hände wieder sinken und sah, dass Rieke genauso mit den Tränen kämpfte wie sie selbst.
„Kommen Sie doch rein mein Kind“ sagte sie und zog Rieke am Arm in ihre Wohnung, wo sie sie ins Wohnzimmer dirigierte und auf das Sofa niederdrückte. Dann setzte sie sich daneben und griff nach ihrer Hand.
Rieke starrte eine Weile ins Leere, während Frau Claasen einfach daneben saß und wartete, bis sie die richtigen Worte gefunden hatte.
„Wissen Sie“, fing sie dann an, „ich hätte gleich auf Sie hören sollen. Sie haben gesagt, dass da etwas nicht stimmen kann, dann hätten wir nicht so viel wertvolle Zeit verloren und es wäre wahrscheinlicher, dass er noch lebt. Aber ich hab nicht auf Sie gehört.“ Riekes Stimme war nur noch ein Flüstern.
„So dürfen Sie nicht denken. Es ist nicht ihre Schuld, sie haben doch alles getan, was in Ihrer Macht stand.“ Beruhigend strich ihr Frau Claasen über den Rücken.
Eine einzelne Träne löste sich von Riekes Wimpern und rollte über ihre Wange nach unten.

„Ist das ihr erster Entführungsfall?“ fragte die ältere Dame zaghaft, denn sie wunderte sich nun doch, dass der jungen Polizistin das Schicksal eines für sie wildfremden Menschen so nahe ging.
Verwundert schaute Rieke sie an, dann wischte sie sich hastig die Träne vom Gesicht.
„Entschuldigen Sie, es ist nur, Richard, also Herr von Brahmberg, also, ich hatte den Eindruck gewonnen, dass er echt ein interessanter Mensch sein kann und finde es einfach bedauerlich, ihn vielleicht nicht mehr kennen lernen zu können.“ Vorsichtshalber senkte sie den Kopf als sie das sagte, um sich nicht zu verraten. Sie wusste, dass man ihr ihre Stimmung immer sofort am Gesicht ablesen konnte, genauso wie man sah, wenn sie versuchte, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
„Sie werden ihn schon noch kennen lernen, da bin ich mir sicher“ teilte Frau Claasen ihr resolut mit. „Und jetzt mach ich uns erstmal einen starken Kaffee.“
Mit diesen Worten stand sie auf und verschwand in der Küche während Rieke sich zum ersten Mal bewusst ihre Umgebung betrachtete.

Die Wohnung war baugleich mit Richards, nur gespiegelt, und ebenso geschmackvoll eingerichtet. Hell, freundlich, Menschen willkommen heißend. Im Gegensatz zu Richards Wohnung waren hier aber extrem viele persönliche Gegenstände zu finden, überall standen Erinnerungen aus Urlauben, kleine Sporttrophäen und eine Unmenge an gerahmten Bildern. Rieke stand auf und ging zu einer kleinen antiken Anrichte mit einer wahren Fotogalerie. Die Claasens’ schienen wirklich ein sehr glückliches Ehepaar zu sein, wie die vielen fröhlichen Bilder aus der ganzen Welt verkündeten. Dann entdeckte sie sogar eines, auf dem Richard drauf war, es stand so selbstverständlich zwischen all den anderen Bildern, dass Rieke erneut einen schmerzhaften Stich im Herz verspürte.
Sie hielt das Bild gerade in der Hand, als Frau Claasen wieder zu ihr stieß.
„Oh, sie haben das Foto von Richard entdeckt“ lachte sie. „Da kam er gerade aus dem Teich, aus dem er unbedingt seinen Golfball fischen wollte.“
Tatsächlich hielt Richard triumphierend einen kleinen Ball zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe, während seine Kleider klatschnass waren und seine Haare tropfend in alle Himmelsrichtungen abstanden. Beim Anblick dieses sich unter dem nassen T-Shirt abzeichnenden muskulösen Oberkörpers wurde es Rieke ganz heiß.
„Mein Mann hatte mit ihm gewettet, dass er nicht in voller Montur in den Teich steigen würde.“ Sie schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf. „Kindsköpfe. Natürlich hat Richard den Ball mit voller Absicht zu kurz geschlagen und ist dann seelenruhig in den Teich marschiert. Wir hatten so viel Spaß an dem Tag.“
Eine kleine Weile starrten beide noch das Bild an, hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach, schließlich stellte Rieke es vorsichtig wieder an seinen Platz.
„Darf ich noch mal ihren Schlüssel für Richards Wohnung benutzen? Ich hab ihn beim letzten Mal aus Versehen eingesteckt“ fragte Rieke, ohne Frau Claasen dabei in die Augen schauen zu können, denn die letzten beiden Male war sie ja auch einfach ungefragt im Appartement nebenan gewesen.
„Selbstverständlich“ versicherte Frau Claasen ihr ohne weiter nach zu fragen, wozu das gut sein sollte.
„Ich bring ihn Ihnen dann gleich zurück“ beteuerte Rieke.

Leise schloss sie Richards Wohnungstüre auf und ließ sie hinter sich wieder zu fallen. Langsam begann Rieke dann, noch mal durch alle Räume zu gehen, streifte wieder mit den Fingerspitzen sachte über die Möbelstücke. Sie rückte den Schreibtischstuhl wieder gerade unter den Tisch, stellte das Buch über die antiken Möbel wieder ins Regal, klopfte die Kissen auf dem Sofa auf.
Dann ging sie in die Küche, lehnte ihre Stirn kurz gegen das kühle Metall der Eisschranktür und versuchte sich vorzustellen, wie Richard hier kochte, wie es wohl wäre, gemeinsam ein Glas Wein zu trinken während man das Essen vorbereitete.
Ihr nächster Weg führte sie ins Bad, sie schnupperte mehrmals an seinem Parfumflakon, nie würde sie diesen Duft vergessen. Sich ein bisschen davon aufs Handgelenk zu tupfen traute sie sich nicht, Frau Claasen würde es sofort riechen.
Im Schlafzimmer blieb sie nur in der Tür stehen und starrte eine zeitlang mit klopfendem Herzen das Bett an, bis sie sich abrupt umdrehte und schnurstracks zur Eingangstüre zurückging.
Rieke drehte sich noch ein letztes Mal zur Wohnung um.
„Adieu“ flüsterte sie, dann zog sie die Türe hinter sich zu und gab Frau Claasen unter dem Vorwand, unmittelbar zurück ins Büro zu müssen, schnell die Schlüssel wieder.
Fluchtartig verließ sie das Haus, in dem sie sich in Richard von Brahmberg verliebt hatte, ohne ihn zu kennen.

Kapitel 14


Zurück im Büro stellte Rieke fest, dass Horst nicht mehr an seinem Schreibtisch war. Er hatte ihr einen Zettel hingelegt, dass er kurz nach Hause gefahren war um sich eine Stunde hinzulegen und sich ein bisschen frisch zu machen, denn er war die ganze Nacht nach der Geldübergabe auf den Beinen gewesen.
‚Vielleicht sollte ich das auch tun’ dachte Rieke erschöpft, ‚wir kommen ja momentan sowieso nicht weiter und die anderen Kollegen der SoKo sind eh am Ball.’
Volker hatte ihr heute morgen eine sms geschickt, dass er einige Tage nicht in Berlin sein würde, also hätte sie ihre Ruhe in ihrer Wohnung, auch wenn sie das fällige Gespräch mit ihm gerne schneller hinter sich gebracht hätte.

Draußen war es mittlerweile dunkel und Rieke saß eine zeitlang im halberleuchteten Büro und starrte die Pinnwände mit den vielen Zetteln und Hinweisen an. Sie seufzte. Wenn man ehrlich war, hatten sie nicht einen einzigen vernünftigen Hinweis, bis auf den Fingerabdruck, den sie aber bisher nicht zuordnen konnten, obwohl sowohl Interpol als auch das FBI den Abdruck durch ihre Datenbanken jagten.

„Frau Buhr?“
Rieke schreckte auf. „Ja, das bin ich. Kann ich Ihnen was helfen?“
„Groß ist mein Name, Kollege von der Verkehrspolizei. Mein Chef schickt mich, ich soll ihnen die Akte geben.“ Er hielt Rieke einen dünnen Ordner entgegen.
Als sie fragend aufschaute erklärte er zusätzlich:
„Er hat sich erinnert, dass sie vor ein paar Wochen Interesse an einem abgeschleppten Porsche hatten, Besitzer ein gewisser von Brahmberg. Wir hatten heute einen Autounfall mit tödlichem Ausgang, auf der Bundesstrasse Richtung Osten raus. Der Tote hatte einen Pass mit dem Namen von Brahmberg bei sich. Alle wichtigen Kopien finden sie in der Akte.“
Rieke schloss kurz die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Hatte Richard fliehen können nur um dann bei einem Unfall zu sterben? Was für ein zynisches Schicksal schrieb hier eigentlich das Drehbuch?
Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen, ihren eigenen Herzschlag, wie in Zeitlupe, vor ihren Augen kreisten Punkte.
„Hallo? Ist mit Ihnen alles ok?“ Der Kollege beugte sich vor, um Rieke im Kegel der Schreibtischlampe besser sehen zu können.
‚Reiß Dich zusammen’ dachte sie.
„Ja, danke, ich war nur für einen Moment abgelenkt. Vielen Dank, grüßen sie ihren Chef von mir und sagen sie ihm auch danke. Ja, danke, das hilft mir weiter. Danke!“ Sie redete kompletten Müll, wollte den Kollegen nur loswerden, bevor sie sich würde übergeben müssen oder er ihre zitternden Hände sah. Aber sie hatte Glück.
„Ok, dann bin ich weg. Hätte eh schon vor einer halben Stunde Feierabend gehabt. Tschüss.“ Groß winkte noch kurz und schon war er verschwunden.

Rieke blieb einige Minuten wie erstarrt sitzen, ohne dass sie irgendetwas um sich herum wahrnahm. Sie war nicht in der Lage, den Ordner zu öffnen und sich ein Foto von einem toten Richard anzusehen, das sie mit Sicherheit darin finden würde.
Mit einem Satz sprang sie dann plötzlich auf, riss ihre Jacke vom Stuhl, stopfte diese verdammte Akte in ihre Tasche und rannte in die Tiefgarage, wo sie in ihr Auto flüchtete und so schnell wie es nur möglich war nach Hause fuhr. Sie nahm immer zwei Treppen auf einmal auf dem Weg zu ihrer Wohnung, sie hatte nur noch den einen Drang, so schnell wie möglich in ihren eigenen vier Wänden zu sein, ungestört, um sich hemmungslos ihrer Trauer hingeben zu können.

Sie machte sich nicht die Mühe ihre Jacke oder die Schuhe auszuziehen. Sie warf ihre Tasche, deren Reißverschluss aufstand, in der Küche auf den Boden, griff nach einer Flasche Rotwein, entkorkte sie und ließ sich mit der Flasche am Schrank entlang nach unten rutschen.
Nun war es also endgültig. Rieke machte sich keine Illusionen darüber, dass es ein anderer von Brahmberg gewesen sein könnte, sie hatten das Telefonbuch von Berlin und Umgebung schon vor Wochen gecheckt, Richard und seine Mutter waren die einzigen, die diesen Namen trugen.
Sie schaute runter auf ihre Tasche. Der Umschlag mit dem vergrößerten Portrait, auf dem Richard so traurig schaute, steckte friedlich neben der Akte. Mit spitzen Fingern, nur um nicht an den Ordner von den Kollegen zu kommen, zog sie ihn heraus und nahm das Foto in die Hand.
Sie versenkte ihren Blick in seinen grünen Augen, dann hob sie die Flasche und  prostete dem Bild zu.
„Ich hätte Dich gerne gekannt. Wo immer Du jetzt bist, mach’s gut!“
Rieke nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, schaute das Foto an, nahm einen weiteren Schluck und noch einen, während die Tränen anfingen, ihr still aber unaufhörlich über die Wangen zu rinnen.

Nachdem sie mehr als die halbe Flasche auf nüchternen Magen getrunken hatte, merkte sie langsam, wie ihr schlecht wurde. Aber war das nicht vollkommen egal? Dennoch ließ sie die Flasche sinken und stellte sie neben sich auf den Boden. Wie lange sie da so saß und weinte konnte sie nicht mehr sagen. Minuten? Stunden? Tage? Alles fühlte sich so taub an.
Irgendwann zog sie doch den Ordner mit dem Unfallbericht aus ihrer Tasche. Sie schluckte mehrmals heftig, dann öffnete sie den Deckel.

Und dann begann der Alptraum erst richtig…

Rieke schaffte es gerade noch hoch und zum Spülbecken, bevor sie den ganzen Wein wieder erbrach. Der kalte Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Hände hörten nicht mehr auf zu zittern, während ihre Knie sich anfühlten wie aus Gummi. Sie klammerte sich an der Arbeitsplatte fest, bis sie sich wieder soweit unter Kontrolle hatte, dass sie erneut auf den Boden sinken und den Ordner in die Hand nehmen konnte.
Ganz obenauf, als erstes Blatt, lag die Kopie eines alten Reisepasses.
Claus von Brahmberg, geboren am 09. April 1949 in Berlin.
Und das Foto zeigte Volker, ihren Volker, den Mann, mit dem sie die letzten Wochen ihr Bett geteilt hatte.
Wieder musste Rieke würgen.
Dann rappelte sie sich auf, hangelte sich an ihren Möbeln entlang in ihr Schlafzimmer, stolperte, stand wieder auf.
Und fand unter ihrem eigenen Bett einen Koffer mit Geld in nicht sortierten Scheinen. Oben auf lag ein verschlossener Briefumschlag, nur mit ihrem Namen versehen.
Fieberhaft zerrte Rieke daran um ihn aufzureißen und den Inhalt zu lesen.

‚Rieke,
war eine nette Zeit mit Dir, auch wenn ich mir noch ein bisschen mehr von Dir erhofft hatte. Aber es hat auch so alles geklappt. Ich habe meine Geschäfte hier erledigt, nun ziehe ich weiter, in dem Triumphgefühl, einen alten Freund zerstört zu haben.“

Sie konnte es nicht fassen. Wie hatte sie so dumm sein können, sich so täuschen? Sicherlich hatte Volker geplant, schon lange weg zu sein mit seinem Koffer wenn sie den Brief fand. Dass er nun im Moment seines vermeintlichen Erfolges bei einem Unfall ums Leben kommen würde hatte er sich sicherlich nicht träumen lassen.
Rieke zerrte die kleine Reisetasche, die noch oben auf dem Schrank stand runter und wühlte hektisch drin rum. Vielleicht waren Richard und David noch am Leben, und hier fand sich ein Hinweis, wo sie sein könnten. Sie würde die beiden finden, und wenn es das letzte war, was sie tat.

David erwachte davon, dass er Richard krampfhaft husten hörte. Er hatte auf der Pritsche gelegen, sie hatten beschlossen, sich ab zu wechseln mit schlafen, um ihre wenigen Energiereserven zu schonen.
„Hey, steh auf, wenn Du da auf dem kalten Boden rum liegst ist es kein Wunder, wenn Du so übel husten musst“ rief er Richard zu, der vor der Türe zusammengerollt auf dem Boden lag.
Aber Richard rührte sich nicht. Er hustete schwächer, aber schien überhaupt nicht wahrzunehmen, dass David aufgewacht war und ihn angesprochen hatte.
David stand auf und ging zu ihm um ihn hochzuziehen und auf die Liege zu legen.
„Komm, du musst unter die Decke!“

In diesem Moment nahm er wahr, warum Richard schon halb ohnmächtig war. Aus der Klappe in der Tür drang beißender Rauch in den Raum. Richard musste schon jede Menge davon abbekommen haben.
„Verdammte Scheiße“ fluchte David und zerrte Richard an den Füßen von der Tür weg, ans andere Ende des Raumes, wo der Rauch noch nicht angekommen war. Aber David konnte sehen, dass immer mehr und immer dichtere Wolken unter der Tür und an der Seite durchdrangen.
Er setze sich auf den Boden und zog Richards Kopf auf seinen Schoß.
„Das ist unsere Chance, Richard, die Feuerwehr wird kommen und uns finden. Hörst du das? Sie werden uns finden!“
Er wiegte seinen ohnmächtigen Bruder wie ein kleines Kind vor und zurück.
„Sie werden uns finden. Jemand wird die Feuerwehr rufen und dann werden sie uns finden“ wiederholte er immer wieder, während er panisch beobachtete, wie sich ihr Gefängnis immer mehr mit Rauch füllte.
Auf einmal hörte er tatsächlich Schritte, irgendwo draußen vor der Tür. Er legte Richard zur Seite, sprang auf und rannte zur Tür, wo er verzweifelt dagegen hämmerte.

„Hier! Hallo! Hier sind wir! Hallo! Hilfe! Hier verdammt noch mal! Hört mich denn keiner?“ Dann wurde auch David von einem Hustenanfall geschüttelt. Aber er gab nicht auf, sobald er wieder auch nur ein wenig Luft bekam, schrie er weiter. Als er selber schon nicht mehr wusste, wie lange er nun schon am rufen und hämmern war, ging auf einmal die Türe auf und er wurde auf beiden Seiten von starken Händen gepackt und eine Treppe rauf ins Freie gezogen.
Draußen erkannte er, dass ein Haufen Menschen auf der Strasse herum standen, Feuerwehrleute und Polizisten versuchten zu löschen und Schaulustige abzuhalten. Es war ein einziges Chaos.
„Richard“ röchelte er und schaute sich panisch um. Sicherlich hatten die Feuerwehrmänner auch ihn aus dem Keller geholt. Aber er konnte ihn nirgends finden, also rannte er wieder zurück auf das brennende Haus zu. „Hey, sie können da nicht rein, sind sie verrückt?“ er wurde zurückgerissen und kompromisslos in Richtung eines Krankenwagens geschoben.
„Mein Bruder, haben sie meinen Bruder da rausgeholt?“ schrie er den Mann an, der ihn gepackt hatte.
„Da ist keiner mehr drin“ sagte der zu ihm, „wir haben nur Sie gefunden. Kommen Sie, Sie brauchen einen Arzt“.
„Neeeeeiiiiiiiiin“ David schluchzte, „tun sie doch was. Er war mit mir da drin“. Der Feuerwehrmann warf über seinen Kopf hinweg einen Blick zu seinem Kollegen, der mit einer hilflosen Geste andeutete, dass niemand sonst gefunden worden war. Dennoch drehte er sich um und besprach sich mit einigen anderen.
Irgendjemand hatte David mittlerweile eine Wolldecke um die Schultern gehängt und ihn auf eine Krankentrage gesetzt. Mit leeren Augen starrte er auf das brennende Haus.
Und dann schrie er plötzlich aus vollem Herzen: „Richaaaaaaard!“

Kapitel 15


Rieke stand mit verschränkten Armen auf der Terrasse des niedrigen Steinhauses und starrte auf den See hinaus, über dem gerade eben erst die Sonne aufging. Sie war in letzter Zeit immer schon früh aufgestanden, sie schlief sowieso schlecht, warum sollte sie also weiterhin im Bett liegen? Sie lauschte den Vögeln, sog intensiv den Geruch der umliegenden Natur ein. Vor allem der kleine, liebevoll gepflegte Kräutergarten neben dem Haus verströmte vielfältige Aromen. Schon der frühe Morgen ließ einen erahnen, dass wieder ein heißer, schöner Sommertag bevorstand. Rieke hatte eigentlich wenig Interesse am Wetter, aber sie nahm sich dennoch vor, heute mal ein bisschen runter zum See zu gehen, vielleicht sogar ein wenig zu baden. Sie war nun schon seit knapp drei Wochen hier, sie konnte nicht immer nur im Haus sitzen und Trübsal blasen, das war ihr klar.

Seufzend drehte sie sich um und ging wieder rein, machte sich in der kleinen, aber gemütlichen Küche einen Espresso und heiße Milch und trug den dann mit sich nach draußen, wo sie sich auf der kleinen Mauer, die die Terrasse einfasste, niedersetzte. Diese Stelle war ihr Lieblingsplatz geworden, geborgen von den Bäumen, die Schatten spendeten, konnte man von hier aus weit in die Landschaft hinaus schauen.
Das Haus gehörte einem Freund von Jule, der für ein paar Monate im Ausland war und ihr gerne den Schlüssel überlassen hatte, damit es nicht so lange leer steht. Jule war es auch gewesen, die Rieke aus Berlin hierher zwangsverschleppt hatte.

Die ersten Wochen nach der Entdeckung, dass sie selber dem Entführer ein so hervorragendes Wissen über Polizeiarbeit vermittelt hatte, vor allem in ihrem Bett, waren die Hölle gewesen. Rieke wurde umgehend vom Dienst suspendiert bis komplett aufgeklärt worden war, dass sie tatsächlich nichts ahnend gehandelt hatte und nicht mit Claus von Brahmberg gemeinsame Sache gemacht hatte. Horst war dabei ihr größter Fürsprecher und Halt gewesen, hatte sie immer in Schutz genommen, sie vorbereitet auf die Gespräche mit den Kollegen von der Internen Abteilung, die den Fall zu untersuchen hatten. Rieke selber war durch diese Wochen getaumelt wie im Nebel, hatte mechanisch geantwortet, konnte das alles einfach nicht fassen. Sie wollte doch nie etwas anderes als eine gute Polizistin sein. Und nun war sie vom Dienst suspendiert. Horst hatte es auch geschafft, die ganze Geschichte weitestgehend aus der Presse raus zu halten. Es wurde zwar über die Entführung der Kerima - Erben berichtet, aber man ging immer von einem unbekannten Entführer aus, der bei einem Autounfall auf der Flucht tödlich verunglückte. Das Geld wurde nach offiziellen Mitteilungen der Polizei im Wagen des Täters gefunden. Zwar hatten ein paar Boulevardblätter spekuliert, dass der Entführer Insider-Wissen gehabt haben musste, und auch Mutmaßungen über eine Spur ins Berliner Polizeipräsidium wurden geäußert, aber irgendwie schaffte man es, dies ebenfalls wieder im Keim zu ersticken.

Zwei Tage nachdem Rieke das Lösegeld in ihrer Wohnung gefunden hatte, hatte sich bei der Polizei ein Notar gemeldet, der automatisch über die Namen der im Bezirk Berlin Verstorbenen informiert worden war. Bei ihm war ein paar Wochen zuvor ein Brief hinterlegt worden, der im Falle des Todes von Claus von Brahmberg an die Polizei übergeben werden sollte.
Dieser Brief erklärte einiges, insbesondere das Motiv, warum Claus versucht hatte, sich an seinem ehemaligen Freund zu rächen. In kurzen, knappen Worte beschrieb er, wie er damals, mit 25 Jahren, Laura kennen gelernt hatte und sich sofort in sie verliebte. Aber ein paar Wochen später lernte auch sein bester Freund und Geschäftspartner Friedrich sie kennen und unternahm fortan alles, um Laura zu seiner Frau zu machen. Claus hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass die beiden ein Paar waren und in Sophie eine Frau gefunden, die das genaue Gegenteil von Laura war. Bei ihr konnte er sie vergessen. Gemeinsam baute man die Firma weiter auf und Claus war so blind nicht zu sehen, was genau vor seinen Augen passierte: Friedrich nahm ihm auch Sophie weg, die Jahre später zugab, dass sie nur mit Claus zusammen gewesen war, um in Friedrichs Nähe sein zu können. Der nächste Schlag den er einstecken musste, war dass sein von ihm so geliebter Sohn Richard nicht von ihm sondern von Friedrich war. Er machte sich die Mühe in seinen alten Unterlagen, die er akribisch aufbewahrt hatte zu wühlen und tatsächlich war er zu der fraglichen Zeit, als Richard gezeugt wurde, vier Wochen in Frankreich gewesen, um die neuesten Trends am Modemarkt zu studieren. Sophie hatte ihm immer erzählt, Richard sei zu früh geboren worden, und er hatte es glauben wollen. Aber es war genau umgekehrt. Er war einfach früher gezeugt worden, von Friedrich.
Von da an plante Claus, der nicht nur die zwei Frauen, die er liebte sondern auch seinen Sohn an Friedrich Seidel verloren hatte, sich eines Tages zu rächen. Er schaffte es, innerhalb kürzester Zeit soviel Geld ins Ausland zu schaffen, dass er dort einen Neuanfang wagen konnte und inszenierte seinen eigenen Tod. Er lebte all die Jahre in Südafrika, wo er immer darauf wartete, dass er eine Möglichkeit bekam, seinem alten Freund alles heimzuzahlen.
Als er durch Zufall in Kapstadt die erfolgreiche Neueröffnung des Kerima-Flagship-Stores mitbekam, wusste er, dass er Friedrich nur dann zerstören konnte, wenn er ihm alles nahm: Kerima und seine Söhne. Er ließ sich Nase und Augen leicht umoperieren um sicher zu gehen dass ihn niemand in Berlin auf Anhieb erkennen würde und ging nach einigen Tests sogar dahin, wo sich auch Friedrich aufhielt. Er war essen im Wolfhardts, war auf der Schau zur Vorstellung der aktuellen Kollektion und verkehrte als Handwerker eine zeitlang regelmäßig im Kerima Bürohaus. Keiner erkannte ihn, aber er hatte die Möglichkeit, alles genau auszuspionieren, hackte sich in Computer und hörte Telefonate ab. Dass Richard und David so ein schlechtes Verhältnis miteinander hatten kam ihm nur gelegen, denn so hatte er auch gleich einen Sündenbock. Sabrina auszunutzen war ein leichtes Spiel gewesen.
Er gestand auch, dass er nach der Lösegeldübergabe plante, das Haus, in dem er die beiden gefangen hielt, mittels eines Zeitzünders niederzubrennen, zu einem Zeitpunkt, an dem er schon wieder mit falschem Pass aus Berlin verschwunden wäre. Den Tod von Richard und David nahm er dabei billigend in Kauf.
Das beim Notar hinterlegte Geständnis sollte natürlich dort noch mindestens zwanzig Jahre liegen. Claus von Brahmberg hatte alles sorgfältig geplant, nur nicht, dass er wegen eines übermüdeten LKW Fahrers von der Strasse gedrängt werden und diesen Unfall nicht überleben würde.

Das Geld war vollständig zurück an Friedrich Seidel gegangen, der dann allerdings einen weiteren Schlag hinnehmen musste, als seine Frau Laura sich von ihm trennte. Die ganze Geschichte und die Wahrheit über ihn und Sophie hatten der eh schon angeknacksten Ehe den Rest gegeben.

Rieke hatte die ersten Wochen nur mit Unterstützung von Horst und Jule überstanden. Horst schirmte sie im Präsidium und vor der Presse ab, Jule übernahm die Abende. Sie war schon am ersten Abend sofort zur Stelle, packte ein paar Sachen in eine Sporttasche und nahm Rieke ohne zu zögern mit in ihre eigene Wohnung. Nach einigen Tagen war Rieke dann auch in der Lage gewesen, Jule alles noch mal ausführlich zu erzählen. Angefangen von der Nacht, als sie zum Kostümball bei Kerima gerufen wurden bis hin, wie sie sich von Richard und seiner Wohnung verabschiedet hatte, bevor der Horror losging, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte.
Jule weinte mit ihr, trank Unmengen Wein mit ihr, sie teilten sich Zigaretten, Kaffee und Kopfschmerztabletten. Aufträge hatte sie erstmal keine neuen angenommen um ganz für Rieke da zu sein. Auch wenn diese leise protestierte, so war sie doch froh, dass sie von ihrer Freundin wie in einem schützenden Kokon umsorgt wurde, und sich um nichts kümmern musste. Sie lebte einfach in den Tag hinein, verrichtete automatisch ein paar Aufgaben im Haushalt, aber ging nie raus zum einkaufen oder sonst irgendetwas. Sie wollte einfach am liebsten nur im Bett liegen und um ihr verlorenes Leben trauern.
Vier Wochen lang schaute Jule sich das an, ließ ihrer Freundin Zeit, sich zu sammeln und das erlebte zu verarbeiten, dann wurde es ihr langsam zu viel.
Sie zwang Rieke mit ihr nach draußen zu kommen, zunächst nur ins Café, um unter Menschen zu sein, dann auch mal wieder zum tanzen. Sie versuchte Rieke klar zu machen, dass sie sich keine Vorwürfe zu machen brauchte, dass sie alles getan hatte, um den Fall zu lösen, dass sie ihrem Gefühl nach wie vor absolut trauen konnte, weil sie ja gemerkt hatte, dass die Sache mit Volker nichts war. Aber keines der Argumente vermochte Rieke davon zu überzeugen, dass sie die Entführung und ihre Folgen hätte verhindern können wenn sie nur aufmerksamer gewesen wäre.

Jule musste wieder anfangen zu arbeiten und nach sechs Wochen zog Rieke zurück in ihre eigene Wohnung, wo sie sich fremd und fehl am Platz fühlte. Nachdem sie die erste Nacht auf dem Sofa verbracht hatte schmiss sie am nächsten Tag alles aus dem Schlafzimmer raus, was nicht niet- und nagelfest war. Bilder, Regale, Bettzeug und Matratze – alles flog raus. Dann zertrümmerte sie noch mit einem Hammer das Bettgestell und warf alle Klamotten, die sie jemals im Beisein von Volker/Claus getragen hatte in die Tonne. Sie ließ den ganzen Müll abholen und sich eine neue Matratze liefern, die sie einfach auf den Boden legte. Auch den Rest der Wohnung gestaltete sie um, strich Wände in neuen Farben, hängte alte Bilder ab und neue auf, stellte die Möbel um wo es nur ging. In diesen vier Tagen, in denen sie die Wohnung komplett auf den Kopf stellte und alles veränderte, hatte sie keine Minute Zeit zum nachdenken. Danach fiel sie wieder in ein ebenso tiefes Loch wie zuvor.
Nach zwei Monaten war das interne Untersuchungsverfahren abgeschlossen und Rieke vollständig freigesprochen von allen Anklagepunkten. Sie konnte mit sofortiger Wirkung in den Dienst zurückkehren.

Aber sie wollte nicht. Sie bat Horst ihren ganzen Jahresurlaub am Stück nehmen zu dürfen, denn sie sah sich nicht in der Lage, im Moment ihre Aufgaben zu bewältigen.
Horst, der sie zusammen mit Jule und einer Flasche Champagner erwartete. wollte es ihr zunächst nicht erlauben, denn auch er sah, dass sie nichts dringender brauchte als wieder einen geregelten Ablauf und eine sinnvolle Aufgabe. Aber Rieke ließ sich nicht umstimmen, beharrte auf ihrem Urlaub, auch wenn sie sich gegenüber Horst, der sich so sehr für sie eingesetzt hatte, ziemlich mies fühlte. Jule und er verständigten sich stumm über ihren Kopf hinweg, dass Jule sich kümmern würde und schließlich stimmte er zu.

Jule machte ihr dann in ziemlich drastischen Worten klar, dass es so nicht weitergehen würde und Rieke sich nach diesen weiteren sieben Wochen Urlaub wieder zu Hundertprozent ihrem Beruf und ihrem Leben widmen musste. Ewig konnte sie so nicht weitermachen und Jule hatte auch keine Lust, auf Dauer das Kindermädchen zu spielen. Dennoch schlug sie vor, dass sich die beiden Freundinnen einen gemeinsamen Urlaub gönnten, in eben diesem Haus, dessen Schlüssel sie von ihrem Freund schon bekommen hatte. Jule konnte dann allerdings nur eine Woche bleiben, hatte zu dem Zeitpunkt aber schon das Gefühl, dass Rieke sich wieder fangen würde und sie sie alleine lassen konnte. Rieke fühlte sich sehr wohl, hier in diesem abgeschirmten Haus über dem See, wo sie ihr Leben neu ordnen konnte. Und manchmal machte ihr sogar die Einsamkeit ein bisschen zu schaffen, was Jule als gutes Zeichen wertete, dass Rieke bald wieder die Alte sein würde.

Als Rieke an diesem Nachmittag vom See zurückkam, machte sie es sich mit einem kalten Getränk an ihrem Lieblingsplatz auf der Mauer bequem. Das Schwimmen, und auch der Ab- und wieder Aufstieg zum Haus hatte sie wohltuend ermüdet. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, sich selbst wieder zu spüren, als würde der Nebel sich langsam lichten.

„Sind Sie Rieke?“ Sie schreckte zusammen, als sie die Stimme in ihrem Rücken vernahm, denn sie hatte niemanden kommen hören.
Sie drehte sich um und starrte ihren Besucher fassungslos an ohne ein Wort heraus zu bringen.


Kapitel 16


Nach einigen Sekunden, in denen Rieke nur nach hinten gestarrt hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich den Mann, der da hinter ihr stand nur einbildete.
‚Das hast Du jetzt davon, dass Du immer noch sein Bild so oft anstarrst’ schimpfte sie mit sich selber, ‚jetzt siehst Du schon Gespenster’. Sie schüttelte den Kopf und drehte sich wieder nach vorne.
„Darf ich?“ mit dieser mehr rhetorischen Frage schwang Richard von Brahmberg die Beine über die Mauer und setzte sich neben Rieke. Eine ganze Zeitlang schauten beide einfach nur geradeaus in die Landschaft, ohne etwas zu sagen oder den anderen zu beachten.
Dann konnte sich Rieke nicht mehr zurückhalten und schielte mal zur Seite, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er trug recht eng sitzende ausgebleichte und unten leicht ausgefranste Jeans, seine nackten Füße steckten in braunen Wildledermokassins und trotz des sehr heißen Tages trug er ein langärmeliges weißes Hemd mit fest verschlossenen Manschettenknöpfen. Rieke wusste warum, sie hatte die Fotos gesehen. Im Krankenhaus waren seine Verletzungen für die Polizei dokumentiert worden.
‚Meine Schuld’ dachte Rieke automatisch, ‚ich hätte ihn ja früher finden können’.

„Schöne Gegend hier“ versuchte Richard ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Mhm“, mehr fiel Rieke nicht ein. Ihr Herz hämmerte wie bescheuert in ihrem Brustkorb und ihr Glas musste sie abstellen, damit er ihre zitternden Hände nicht sehen konnte. Vorsichtshalber setzte sie sich auf ihre Hände drauf, was Richard mit einem leichten Seitenblick zur Kenntnis nahm.
„Sie wissen wer ich bin?“ fragte er dann, während er wieder nach unten auf den See blickte.
„Mhm!“ Rieke riss sich zusammen. „Ja, ich weiß wer Sie sind“ murmelte sie dann, „ich weiß nur nicht so genau, warum Sie ausgerechnet hier sind!“.
Richard schaute sie nicht an als er antwortete:
„Zugegebenermaßen weiß ich das auch nicht so Recht. Erst wollte ich auch gar nicht herkommen, aber Jule kann sehr überzeugend sein.“
„Oh, ist Jule mit Ihnen hier?“
„Nein, ich bin allein gekommen. Aber vielleicht war es keine gute Idee. Ich hab das Gefühl, ich störe Sie.“
Rieke betrachtete ihn wieder verstohlen von der Seite, aber aus seiner Miene war nichts abzulesen.
„Was hat Jule Ihnen denn erzählt?“ Rieke meinte, er müsste ihr Herz klopfen hören. Wusste er, dass sie sich in ihn verliebt hatte, ohne ihn zu kennen? Sie würde auf der Stelle sterben wenn Jule ihm das verraten hatte.
Er zuckte mit den Schultern, dann sah er zu ihr rüber.
„Nicht viel. Nur, dass unsere Geschichten miteinander verwoben sind. Und dass sie der Meinung sei, wenn wir unsere jeweiligen Sichtweisen zusammen tun wäre es für uns Beide ganz gut. Wie gesagt, eigentlich halte ich es nicht gerade für eine gute Idee, aber ich war zugegebenermaßen auch neugierig auf Sie.“ Zum ersten Mal lächelte er.
Rieke war nach wie vor völlig von der Rolle und dieses Lächeln gab ihr den Rest. Sie merkte, wie sich ihr Brustkorb zusammenzog und ihr die Röte ins Gesicht schoss. Und brachte wieder keinen Ton raus, starrte nur auf ihre Fußspitzen, die über der Mauer baumelten.

„Ok,“ Richard stand auf, „ich geh dann mal.“ Damit drehte er sich um und Rieke hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Nach einigen Sekunden traute sie sich, sich umzudrehen und ihm nachzusehen.
Er lehnte, die Arme lässig übereinander geschlagen, an der Hausecke, als warte er auf etwas. Als Richard sah, dass Rieke sich umdrehte und ihre Blicke sich kurz trafen, hob er mit einem zufriedenen Lächeln die eine Hand kurz zum Gruß, dann ging er endgültig weg.  

Rieke brauchte ungefähr zehn Minuten um ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Jule hatte also Kontakt zu Richard aufgenommen und ihn überredet, sie, Rieke, hier zu besuchen. Sie würde sie, sobald sie zurück in Berlin war, einen Kopf kürzer machen, das schwor sie sich. Auf einer Peinlichkeitsskala von eins bis zehn war diese Situation hier eben eine glatte zwanzig gewesen. Sie hatte sich wie eine komplette Idiotin benommen und er musste sie nun wohl auch für eine halten. Jule hätte sie ja aber auch mal vorwarnen können. Sie saß hier, verschwitzt vom laufen, mit vom baden strähnigen Haaren und in ihren alten Klamotten, während Richard trotz der Hitze ausgesehen hatte wie aus dem Ei gepellt.

Völlig frustriert ging Rieke irgendwann ins Haus um erstmal zu duschen und sich dann was Nahrhaftes zu suchen.

Als sie ungefähr eine Stunde später aus dem Bad kam, hörte sie, dass jemand in der Küche rumkramte. War Jule nun doch noch gekommen? Sonst hatte ja keiner einen Schlüssel und sie war sich sicher, die Türen geschlossen zu haben, bevor sie unter die Dusche ging.
Aber als sie in die Küche schaute blieb ihr zum zweiten Mal an diesem Tag beinahe das Herz stehen.

„Was machen Sie denn da?“ das war ihr heftiger rausgerutscht als beabsichtigt.
„Nach was sieht es denn wohl aus? Ich koche uns was“. Richard hantierte seelenruhig weiter mit einem großen, scharfen Messer.
‚Was ist, wenn der durchgeknallt ist und sich rächen will?’ fuhr es Rieke durch den Kopf, während sie das Messer anstarrte. Das war nämlich nicht aus der Küche hier, das hätte sie schon entdeckt gehabt.
„Möchten Sie sich zum essen nicht was Bequemeres anziehen?“ fragte Richard mit eine leichten Nicken hin zu ihrem Badetuch, in das sich Rieke nach der Dusche gewickelt hatte. Ihre Haare tropften ihr auf den Rücken und ihre Beine schauten nackt unter dem doch recht kurzen Handtuch vor.
Rieke drehte sich wortlos um und floh in ihr Zimmer.

In Windeseile schlüpfte sie in eine Jeans und warf sich ein T-Shirt über, dann rannte sie zurück ins Bad um ihre Haare zu trocknen und sich ein bisschen Make-up aufzulegen.
Nach ca. 20 Minuten war sie wieder in der Küche, wo Richard mittlerweile eine Flasche eiskalten Weißweins geöffnet hatte. Als er sie sah, schenkte er ihr ein Glas ein und hielt es ihr entgegen.
„Jule meinte, es wäre kein Problem, wenn ich das Zimmer hinten links beziehe. Hier ist ja weit und breit sonst keine Möglichkeit“.
„So, meinte Jule das.“ Rieke war immer noch ziemlich verwirrt von der ganzen Aktion hier. Was hatte sich Jule nur dabei gedacht?
Richard zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder dem Herd zu. Er begann das Essen auf zwei Teller zu verteilen und stellte sie auf den schon fertig gedeckten Tisch.
Mit einer ausholenden Geste über den Tisch forderte er Rieke auf Platz zu nehmen und meinte: „Ich hoffe Sie mögen Fisch!“ Dann setzte er sich selber und wartete darauf, dass Rieke ebenfalls Platz nahm.
Mit einem gemurmelten „vielen Dank“ ließ sich Rieke am Tisch nieder. Es roch wirklich verdammt gut und sie merkte jetzt erst, wie hungrig sie war.
Schweigend vergingen die ersten Minuten der Mahlzeit. Rieke überlegte fieberhaft, was sie sagen könnte, aber es wollte ihr nix passendes einfallen.
‚Ach übrigens, ich hab in Ihren Sachen gewühlt’ war genauso schlecht wie ein interessiertes ‚sind sie denn nun in psychiatrischer Behandlung?’, während ‚ach hat Ihnen Jule auch erzählt, dass ich bis über beide Ohren in Sie verschossen bin?’ absolut überhaupt gar nicht ging.
‚Oh man’ dachte Rieke gerade verzweifelt, ‚ich kann doch jetzt schlecht mit dem Wetter oder so anfangen’ als Richard das Schweigen brach.

„Ich soll Sie ganz herzlich von den Claasens’ grüßen“ sagte er mehr beiläufig, aber Rieke spürte genau, wie er sie dabei von unten her interessiert betrachtete.
‚Na super, vermutlich hat Frau Claasen ihm auch noch von der Heulsuse von Polizistin erzählt’, dachte Rieke, ‚läuft ja echt spitzenmäßig der Abend!’
„Äh, ja, vielen Dank. Grüßen Sie sie doch bitte zurück. Sie waren sehr behilflich“ brachte sie dann nach mehrmaligem räuspern heraus. Das alles hier war so peinlich. Sie hatte das Gefühl, in Richards Leben wie ein Eindringling herumspioniert zu haben, während er einfach nur versuchte, ein bisschen Konversation mit einer ihm völlig Unbekannte zu machen.
‚Haha, ich weiß was Du für Unterhosen trägst’ dachte sie zynisch und beschloss erneut, Jule bei der nächsten Gelegenheit einen Kopf kürzer zu machen.

Als Richard fertig war mit seinem Essen nahm er das Weinglas in die Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schaute Rieke, die auch gerade das Besteck weglegte und sich noch mal bedankte, direkt in die Augen.
„Wissen Sie was, ich habe keine große Lust mich hier zum Affen zu machen. Ich habe Jule versprochen, dass ich mal versuche mit Ihnen zu reden, weil sie mir erzählt hat, Sie würden sich die Schuld an Dingen geben, für die Sie nichts können. Außerdem hatte ich von verschiedenen Seiten über Sie gehört und war wirklich neugierig, wer diese Frau wohl wäre, die tatsächlich nicht geglaubt hat, dass ich der Böse bin. Aber das hier ist hochgradig albern.“ Richard stand auf, schnappte sich noch die Weinflasche und ging zur Tür.
„Sie werden ja wohl aufräumen können, wenn ich schon gekocht habe. Morgen früh sind Sie mich wieder los!“ Damit warf er die Tür hinter sich zu und Rieke blieb wie ein abgekanzeltes kleines Schulmädchen am Tisch sitzen, mit einem Herzschlag der locker für drei gereicht hätte.

Stinkwütend über sich selber, Jule und Richard, der sich erlaubte, so mit ihr zu sprechen, räumte sie den Tisch ab, pfefferte Besteck und Teller in die Spülmaschine, wischte den Tisch und den Herd ab und dachte sich dabei nur eins: ‚ihr könnt mich doch alle mal! Lasst mich doch einfach alle ein für alle mal in Ruhe!’
Als sie fertig war ging sie in ihr Zimmer und wühlte in ihrer Tasche wütend nach ihrem Handy. Sie hörte, dass Richard wohl unter der Dusche war, während sie dem Freizeichen bei Jules’ Anschluss lauschte.

„Ja?“ zwitscherte die fröhlich ins Telefon, ohne ihren Namen zu nennen.
„Bist Du eigentlich noch ganz dicht?“ schrie Rieke sie an. „Was hast Du Dir denn bei der Aktion gedacht, verdammt noch mal?“
„Oh“ kam es nach wie vor fröhlich aus dem Hörer, „Richard ist also doch noch zu Dir gefahren, wie schön!“
„Schön? Schön nennst Du das? Du hast mich in die beschissenste Situation gebracht seit ich denken kann.“
Eine zeitlang war es ruhig und Rieke hörte nur Jules’ regelmäßiges Atmen. Dann meinte diese:
„Pass mal auf. Diese ach so beschissene Situation wie Du es nennst, ist Deine Chance, mit jemandem der Dich versteht, der um die Situation weiß, ein paar Dinge zu klären. Ich rechne es Richard, den ich noch nicht mal sonderlich gut kenne, sehr hoch an, dass er über 1000km geflogen und gefahren ist, nur weil ich ihn darum gebeten habe. Wenn Du das vergeigst meine Liebe, dann waren wir die längste Zeit befreundet. Das ist Deine letzte Chance wieder Du selber zu werden, die Rieke, die ich kenne und liebe. Ich würde Dir raten, nutze sie!“
Jule hatte das Gespräch beendet.

Fassungslos starrte Rieke auf das Handy. So hatte sie Jule noch nie erlebt.
Nachdem sie eine halbe Stunde lang nachgedacht hatte, kam sie selber drauf, dass sie eine komplette Idiotin gewesen war.
Sie straffte die Schultern und ging rüber zu dem Zimmer, in dem sich Richard einquartiert hatte. Sie klopfte vorsichtig an. Als sich eine ganze Zeit nichts tat, wollte sie schon energischer klopfen bevor sie der Mut verließ, aber dann wurde die Tür doch noch aufgemacht.
Richard hatte die Jeans vom Nachmittag an und wohl nur schnell das Hemd übergezogen, allerdings nur an den Manschetten geschlossen.
Rieke starrte auf seine nackte Brust, auf der noch Wassertropfen vom duschen zu sehen waren und bekam eine volle Ladung von seinem Duft ab, diesem Parfum, das sie so liebte.
Richard sagte nichts, stand nur da, die eine Hand an der Tür, die andere am Rahmen. Seine Haare waren noch feucht vom duschen, er hatte sie wohl nur mit der Hand nach hinten gestrichen.
Rieke wurden die Knie weich und ihr Herz versuchte aus ihrem Brustkorb zu springen. Sie starrte krampfhaft über seine rechte Schulter auf sein Ohrläppchen, um ihn nicht direkt ansehen zu müssen und holte erstmal tief Luft.
„Ich war total blöd. Es tut mir leid. Ich bin etwas von der Rolle. Also nicht durchgeknallt oder so, aber halt, äh, nicht normal, also schon normal im Kopf und so, aber eben, verwirrt.“ Sie schloss kurz die Augen. „Bekomme ich noch eine Chance das wieder gutzumachen? Also, das heute? Dass ich so unhöflich war?“
Richard sagte erstmal gar nichts, aber sie merkte, obwohl sie ihn immer noch nicht ansehen konnte, dass er ihr Gesicht genau studierte.
„Ich schlaf eine Nacht drüber“ teilte er ihr dann mit und warf ihr die Türe vor der Nase zu.

Kapitel 17

Rieke war am nächsten Morgen schon früh wach und beschloss, von ihrem Lieblingsplatz auf der Mauer aus dem Sonnenaufgang über dem See zuzuschauen. Sie hatte am Abend vorher noch ein bisschen gegrübelt, ob sie sich wohl Hoffnungen machen könnte, dass Richard noch ein bisschen hier bei ihr blieb, aber aus seiner Reaktion konnte sie leider gar nichts ablesen. Und in sein Gesicht zu schauen hatte sie ja nicht fertig gebracht. Dennoch war sie mit dem angenehmen Gefühl eingeschlafen, nicht mehr ganz allein mit der Vergangenheit kämpfen zu müssen.

Die Sonne lugte gerade so über den Horizont, als Rieke hinter sich Schritte hörte.
„Ich hab uns Kaffee gemacht.“ Richard hielt ihr eine dampfende, lecker riechende Tasse Milchkaffee hin. Dann setzte er sich neben sie und prostete ihr andeutungsweise mit seiner eigenen Tasse zu.
„Guten Morgen übrigens. Gut geschlafen?“ fragte er, konnte sich dabei aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
Rieke lächelte zurück.
„Ja, danke. Sehr gut sogar.“
Er hob in gespieltem Entsetzen die Augenbrauen.
„Wie? Sie sind nicht die ganze Nacht wach gelegen und haben sich gefragt, wie sie ihr gestriges Benehmen wieder gut machen könnten?“ Enttäuscht schüttelte er den Kopf.
„Mir ist einfach recht schnell was eingefallen und dann konnte ich ruhig schlafen“ konterte Rieke mit klopfendem Herzen.
„So so, und was ist das?“ fragte er interessiert.
„Ich dachte, ich zeig Ihnen meinen Lieblingsplatz hier. Und bin den ganzen Tag nett“ schob Rieke vorsichtshalber noch nach.
„Das klingt beides sehr verlockend“ zwinkerte Richard sie an.
„Schauen Sie sich jeden Morgen den Sonnenaufgang an?“ fragte er interessiert.
„Oft“ gab Rieke zu, „man kann dabei so schön nachdenken!“
Richard musterte sie von der Seite, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Ein paar Minuten beobachteten sie beide wie die Sonne immer höher stieg und die Landschaft in einen tief orangen Farbton tauchte.
„Sie sollten nicht so viel grübeln“ meinte Richard dann irgendwann beiläufig, ohne Rieke dabei anzusehen.
„Sagt mein Therapeut auch immer zu mir“ nun zwinkerte er rüber.
„Ach, nun, wenn der das sagt“ Rieke grinste ironisch.
„Nützt es denn was?“ erkundigte sie sich dann zaghaft. Sie war nicht sicher, ob das nicht eine zu persönliche Frage sei.
Richard zuckte mit den Schultern.
„Wie man es sieht. Es hilft zu reden, andererseits hab ich in den vier Wochen so viel Zeit zum nachdenken gehabt, dass ich das Gefühl habe, alles schon x-mal durchdacht und ausgesprochen zu haben. Also, nicht dass Sie denken, ich würde mit mir selber reden“ lachte er, „das mach ich nur in Ausnahmesituationen!“
Rieke fand, er ging sehr locker mit seiner Entführung um und war erleichtert, ihn so gelöst zu sehen. Vermutlich war das nicht immer so, aber im Moment schien es ihm gut zu gehen.

„Es freut mich sehr, dass sie her gekommen sind.“ Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, ihm zu danken. Auch wenn er sich ausschließlich aus therapeutischen Gründen mit ihr unterhalten wollte, so merkte Rieke doch bereits nach dieser halben Stunde, dass sie sich in seiner Gegenwart zum ersten Mal seit Monaten wieder ein bisschen entspannen konnte. Vielleicht war es auch das Wissen, dass er, zumindest soweit sie bisher sehen konnte, einigermaßen wiederhergestellt war. Denn das war einer der Punkte, die sie am meisten belastet hatten: dass durch sie ein Mensch zerstört worden war.

„Darf ich sie was fragen?“
„Klar, fragen dürfen Sie alles. Wenn ich nicht antworten möchte, sag ich Ihnen das schon.“ Richard schaute sie ruhig an.
„Ok, das ist ein guter Deal. Dann frag ich mal: wie geht es ihrem Bruder?“
„David? Dem geht’s ganz gut. Er war ja die ersten drei Tage mehr oder weniger ständig weggetreten. Dann konnten wir miteinander reden, was natürlich im Gegensatz zum Alleinsein ein Segen war.“
Rieke nickte, sie wusste, dass gerade die erzwungene Isolation häufig das Schlimmste war bei Entführungsopfern.
„Sie sollten aufhören zu glauben, dass Sie an dem Schuld sind, was meinem Bruder und mir passiert ist. Die Weichen dafür wurden schon vor sehr langer Zeit gestellt.“
Rieke wurde rot. Schlagartig war ihr klar geworden, dass sie seit Wochen einen Schmerz und eine Verletztheit für sich beanspruchte, die so viele andere Menschen genauso heftig oder noch schlimmer getroffen hatten.
Richard musste ihre Verlegenheit gespürt haben, denn er stand auf und wechselte das Thema.
„Wie kommen wir denn zu Ihrem Lieblingsplatz?“ fragte er neugierig.
„Ausschließlich zu Fuß“ antwortete Rieke. „Haben Sie feste Schuhe dabei?“
„Wie es der Zufall so will  hab ich Turnschuhe dabei“ grinste er. Sicherlich hatte Frau Claasen ihm davon erzählt, dass das eines der auffälligen Dinge war, die sie stutzig gemacht hatten, dass er die nicht mit auf die angebliche Reise genommen hatte. „Reicht das?“
„Ja, klar, das müsste gehen. Falls Sie doch abrutschen kann ich ja versuchen Sie zu fangen“ bot Rieke ihm großmütig an.
„Oh ja, das möchte ich sehen“ lachte Richard.
„Wie lange brauchen wir? Soll ich uns ein Picknick einpacken?“ wollte er dann wissen.
„Mhm,“ machte Rieke, „es dauert ein bisschen bis man dort ist, aber es gibt unterwegs auch noch ein Dorf, in dem wir Verpflegung holen können. So hab ich es bisher immer gehalten.“

Schließlich einigten sie sich darauf, ein bisschen was einzupacken und dann frisches Brot und Käse unterwegs zu holen.
Gegen acht Uhr brachen sie auf, denn sie wollten ankommen bevor die Sonne zu hoch am Himmel stand und runter brannte.
Der Weg führte sie durch Wald und Weinberge, vorbei an alten Bauernhöfen. Rieke war hier schon oft gegangen aber noch nie hatte sie die Landschaft so sehr genossen, wie nun in der Gesellschaft von Richard. Obwohl sie nicht allzu viel miteinander sprachen, war das gemeinsame Schweigen nicht unangenehm. Sie redeten zunächst nur über allgemeine Sachen, und klammerten das Thema Entführung vollständig aus. Nach knapp zwei Stunden hatten sie das kleine Dorf erreicht, in dem sie sich mit frischen Sachen versorgten, dann ging es weiter bis zu der kleinen, im Wald versteckten Kapelle, die Rieke nur mit Hilfe eines selbst gezeichneten Planes eines Einheimischen entdeckt hatte. Das kleine Gotteshaus stand auf einer Lichtung, inmitten eines wunderschönen Gartens voller wilder Rosen. Auf der einen Seite gab der Wald den Blick frei über die unter ihnen liegenden Hügel, Weinberge und Seen.

Richard blieb einen Moment stehen und sagte einfach gar nichts, ließ nur seinen Blick schweifen. Rieke wurde schon unsicher, ob sie ihm zu viel versprochen hatte. Seit sie zum ersten Mal hier gewesen war hielt sie dieser Ort in seinem Zauber gefangen, denn er vermittelte genau die richtige Mischung zwischen Geborgenheit und Freiheit, die ihr in den letzten Wochen so kostbar geworden war.

„Es ist wirklich wunderschön hier“ ließ sich irgendwann Richard vernehmen. Er drehte sich zu ihr um. „Danke, dass Sie mich mit hierher genommen haben.“ Ein warmer Blick aus seinen grünen Augen traf Rieke und ihr Herz machte einen kleinen, unkontrollierten Sprung.
„Man kann reingehen“ murmelte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
Richard streckte ihr seine Hand hin und wartete darauf, dass sie sie ergriff. Ein bisschen verwundert zögerte Rieke, aber dann gab sie ihm doch ihre Hand.
Richards Hand schloss sich fest um ihre und mit klopfendem Herzen folgte Rieke ihm ins Innere der Kapelle, die mit wunderschönen alten Malereien verziert war. Es gab nur jeweils drei Bankreihen rechts und links und keinen Altar, nur eine Madonnenstatue, die mit frischen Rosen geschmückt war.
Eine Zeitlang standen sie einfach nur da, hielten sich an den Händen und betrachteten das friedliche Gesicht der Madonna.
Dann, nahezu gleichzeitig, drehten sie sich weg um wieder nach draußen zu gehen. Richard grinste sie an, als sie wieder vor der Tür standen, inmitten der herrlich duftenden Rosen.
„So, jetzt kenne ich den schönsten Ort, den ich je gesehen habe. Jetzt müssen Sie nur noch Teil zwei unserer heutigen Vereinbarung einhalten.“
Rieke runzelte die Stirn, sie war sich nicht sicher, was er meinte.
„Na, sie wollten doch den ganzen Tag nett zu mir sein“ half er ihr auf die Sprünge.
„Meinen Sie, Sie haben sich das verdient?“ neckte Rieke ihn, obwohl ihr Herz immer noch so eine Art Bungee-Jumping in ihrem Brustkorb veranstaltetet.
Richard riss die Augen auf und sah sie erstaunt an.
„Etwa nicht? Also das kann ich mir nicht vorstellen. Los, suchen Sie uns ein nettes Plätzchen, breiten Sie die Decke aus, und bereiten uns ein Mahl vor. Ich bin am verhungern!“ Er scheuchte sie mit den Händen in Richtung Schatten.
Rieke verdrehte die Augen und trottete gespielt genervt zu den Bäumen. Sie hatte bereits ein Lieblingsplätzchen und das steuerte sie nun auch an.
Richard half ihr dann doch und als alles ausgepackt war zauberte er sogar noch zwei Gläser und eine Flasche Weißwein aus seinem Rucksack, die er dick in Zeitungspapier gewickelt hatte um sie kühl zu halten.
Er schenkte ihnen ein und hob sein Glas.
„Wir könnten uns auch duzen, oder was meinen Sie?“ er schaute Rieke provozierend an.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, könnten wir uns duzen“ ging sie auf seinen ernsthaften Ton ein.
Sie stießen mit den Gläsern an, ohne dabei den Blick von den Augen des jeweils anderen zu lassen. Rieke wurde noch heißer, und in ihrem Magen bildete sich ein Knoten. Sie merkte, wie sich unter ihrem T-Shirt ihre Brustwarzen versteiften und hoffte nur, dass es Richard nicht sehen würde.
Aber wenn, dann sagte er zumindest nichts. Nach ein paar Sekunden brach er den Blickkontakt ab und meinte:
„Ich hab einen Bärenhunger“. Damit begann er, sich über das Essen her zu machen. Als schließlich fast alles aufgegessen war, ließ Richard sich auf den Rücken fallen und stöhnte.
„Nie wieder esse ich so viel. Ich krieg absolut nichts mehr rein.“ Er schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Angeregt durch den Wein und den entspannten Umgang mit ihm, schnappte Rieke sich übermütig ein Bündel Trauben und zupfte eine ab, während sie lauernd fragte:
„Wirklich? Gar nichts mehr?“
„Nichts mehr“ erwiderte Richard ohne die Augen zu öffnen.
„Sicher?“ Rieke hielt ihm die Traube direkt an die Lippen, auch wenn ihre Hände zitterten, nun konnte sie nicht mehr zurück.
Richard schüttelte stumm und mit geschlossenen Augen und Mund den Kopf.
„Aber die sind lecker.“ Rieke biss selber krachend auf die Traube und nahm eine Neue, die sie ihm an die Lippen drückte. Das Spiel war gefährlich, aber nun wollte sie auch nicht mehr aufhören.
„Wenn Du mich schon füttern willst, dann mach es richtig.“ Richard hatte sich blitzschnell aufgesetzt, nahm ihr die Traube aus der Hand und nahm sie zwischen seine Zähne. Dann drückte er Rieke an den Schultern nach hinten und senkte seinen Mund auf ihren. Einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke und Rieke war sicher, er würde ihren Herzschlag hören. Dann stupste Richard die Traube mit seiner Zunge in ihren Mund, berührte dabei ganz leicht ihre Unterlippe.
„So macht man das, wenn man wirklich nett ist.“
Seine Augen hatten sich um einige Nuancen verdunkelt und sein Blick hielt Rieke gefangen. Einige Sekunden rührte sich keiner der beiden, dann unterbrach Rieke die Situation mit einem Räuspern.
„Es ist aber nicht nett, dann aufzuhören“ flüsterte sie, ihre Lippen nur Millimeter von seinen entfernt.
„Nein?“ um Richards Mundwinkel zuckte es. „Es hat ja auch keiner behauptet dass ich nett bin, oder?“ fügte er dann mit einem viel sagenden hochziehen der Augenbrauen an.


Kapitel 18


Rieke lag nachdenklich im Bett und starrte ins Dunkle. Immer wieder ließ sie den Tag Revue passieren und rief sich die kurze Berührung von Richards Zunge an ihrer Lippe in Erinnerung. Auch nachdem sie die Szene nun in Gedanken zum mindestens hundertsten Mal durchgespielt hatte, lief immer noch ein Schauer über ihren Rücken. Sie sehnte sich so sehr danach, dass Richard sie richtig küsste, aber er hatte keinerlei Anstalten gemacht, sondern sich nur wieder zurückgelegt und die Augen geschlossen, als sei nichts passiert.
‚Aber es ist was passiert, verdammt’ dachte Rieke, ‚hat er nicht gemerkt, wie die Zeit einen Moment stehen geblieben ist?’
‚Offensichtlich nicht’ dachte sie im gleichen Moment zynisch.
Ca. eine Stunde nach dem Picknick waren sie aufgebrochen und wieder zurück zum Haus gegangen. Sie hatten nicht mehr allzu viel miteinander geredet und Rieke fragte sich, ob sie ihm wohl zu nahe getreten war.
‚Schließlich hat er angefangen’ dachte sie trotzig. ‚Und dann leider nicht weitergemacht.’
Sie seufzte und drehte sich im Bett um. Im Haus war es vollkommen ruhig, sicherlich schlief Richard schon tief und fest. Er hatte sich am Nachmittag verzogen, weil er einige Telefonate führen musste, wie er entschuldigend meinte. Er war ja ziemlich ungeplant aus Berlin abgereist. Sie hörte, wie er manchmal lachte, einmal klang seine Stimme auch ziemlich zornig, meist aber schien er völlig neutral Geschäfte abzuwickeln. Er hatte ihr zuvor erzählt, dass er und David sich nach wie vor die Leitung von Kerima teilten, gemeinsam mit Lisa. Rieke hatte interessiert zugehört, als er ihr erzählt hatte, dass David und Lisa ein Paar waren und planten zu heiraten. Sie erinnerte sich an die verzweifelte junge Frau, die doch so stark gewesen war während der Entführung und freute sich aufrichtig, dass die beiden ihr Glück gefunden hatten.
Zum Abendessen hatte sich Richard dann wieder zu ihr gesellt, obwohl sie es recht spärlich hielten, da sie beide noch vom Picknick ordentlich satt waren. Er hatte unverbindlich mit ihr geplaudert, über Reisen, fremde Länder, andere Kulturen. Und sie dabei nicht einmal direkt angeschaut, was Rieke extrem verunsichert hatte.
Wütend drehte sie sich im Bett wieder auf den Rücken.
‚Na super, Du hast es mit Deiner Aufdringlichkeit versaut. Statt dem Mann auch nur einen Tag Zeit zu lassen dich kennen zu lernen hast du dich ihm gleich an den Hals geworfen als er auch nur ein bisschen nett war. Du lernst es auch nicht mehr’ warf sie sich zornig selber vor.
Richard konnte ja nicht wissen, dass sie schon seit Wochen in ihn verliebt war, zumindest hoffte Rieke das inständig. Aber eigentlich glaubte sie nicht, dass Jule ein solches Geheimnis verraten hätte.
Und Frau Claasen? Hatte die etwas gemerkt? Rieke hatte versucht Richard ein bisschen auszuhorchen, was Frau Claasen ihm wohl von ihr erzählt hatte, aber er hatte nur gegrinst und mit offensichtlichem Spaß an der Sache ein süffisantes ‚nichts, gar nichts’ von sich gegeben. Das glaubte sie freilich nicht, aber sie war auch zu stolz gewesen, ihn weiter zu befragen.

Genervt sah Rieke auf die Uhr. ‚02:07 Uhr’ zeigte der Wecker und sie war vom vielen Grübeln immer noch hellwach.
„Dann kann ich auch aufstehen“ grummelte sie vor sich hin und stieg aus dem Bett, um durch die Küche auf die kleine Terrasse zu gehen. Leise nahm sie sich ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich etwas Milch aus dem Kühlschrank ein. Danach drehte sie sich zur Tür und wollte gerade nach draußen gehen, als sie sah, dass ihr Platz schon von Richard belegt war, der auf der Mauer saß und über den dunklen See blickte. Sie wollte sich gerade unauffällig wieder zurückziehen, als er sich umdrehte und sie ansah.

„Na, kannst Du auch nicht schlafen?“ sagte er leise, obwohl hier weit und breit keiner war, der sich durch nächtliche Gespräche stören ließe.
Rieke atmete einmal tief durch, um ihren Puls wenigstens ein bisschen zu beruhigen, dann trat sie auf die Terrasse hinaus.
„Ich möchte Dich nicht stören.“ Rieke schaffte es nicht, Richard anzuschauen, obwohl sie genau merkte, wie er sie musterte. Sie hatte nur eine Boxershorts und ein leichtes Top an und hoffte, dass das Licht nicht ausreichend war, ihn irgendetwas Verräterisches erkennen zu lassen.
„Nein, Du störst nicht. Setz Dich her.“ Richard winkte sie an seine Seite. Sie sah, dass er ebenfalls nur eine kurze Short anhatte, aber wie immer mit dem langärmeligen Hemd, das er wie am Abend zuvor offen gelassen hatte. Während sie näher kam versuchte er unauffällig, die Knöpfe an den Manschetten zu schließen.
Rieke legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Lass nur, das kann doch nicht bequem sein“ meinte sie.
Richard zögerte kurz und sah sie einen Moment irritiert an.
Sie holte noch mal tief Luft und erklärte ihm dann:
„Ich hab die Fotos gesehen, also gleich nachdem Du und David ins Krankenhaus gekommen wart, wurden doch Aufnahmen für uns gemacht, also die Polizei“ murmelte sie verlegen. Wieder wurde ihr klar, wie sehr sie ihm gegenüber doch im Vorteil war, mit allem, was sie wusste.
Langsam setzte sie sich neben ihn und griff dann schüchtern nach seinem Arm.
„Darf ich?“ fragte Rieke vorsichtig. Sie wollte sich gerne vergewissern, dass es einigermaßen heilte.
Ohne ihr eine Antwort zu geben hielt Richard still, als sie seine Hand in ihre nahm und mit der anderen das Hemd vorsichtig nach oben schob. Das einzige Licht hier draußen kam vom nicht ganz vollen Mond aber Rieke sah dennoch die breite rote Narbe, die sich um sein Handgelenk zog. Vorsichtig strich sie mit den Fingern drüber.
„Tut es noch weh?“ erkundigte sie sich zaghaft ohne zu wagen, Richard dabei anzusehen.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Wenn ich meine Hände betrachte, fällt mir alles wieder ein, und ich sehe das Blut und die verdammten Fesseln. Aber ich bin nicht sicher, ob der Schmerz, den ich dann fühle, nur eine Erinnerung ist oder es immer noch weh tut.“ Richard machte keinerlei Anstalten Rieke seine Hand zu entziehen, die immer noch vorsichtig über das Gelenk strich.
„Meine Schuld“ murmelte sie automatisch, „ich hätte dich früher finden müssen!“
„Blödsinn“ zischte Richard, „hör auf dich damit fertig zu machen sonst werde ich noch sauer und das möchtest Du nicht wirklich erleben.“ Er hatte sich zu ihr gedreht und funkelte sie wütend an, während er ihr langsam seinen Arm entzog.
Rieke wurde rot. Er hatte ja Recht. Langsam nickte sie, brachte aber keinen Ton heraus. Am liebsten hätte sie sich ihm an den Hals geworfen und alle seine Schmerzen weggeküsst, aber er hielt sie so deutlich auf Distanz, dass es sogar bis zu ihrem vernebelten Gehirn durchgedrungen war.
Einige Minuten saßen sie schweigend nebeneinander, bis Richard vorsichtig seine Hand auf ihrem Schenkel ablegte und abwesend mit dem Daumen auf und ab strich.
„Entschuldige, ich wollte Dich nicht so anfahren“, sagte er leise, „aber ich möchte wirklich nicht, dass Du Dich deshalb fertig machst, ich hab es Dir schon mal gesagt.“
Rieke wagte kaum zu atmen. Wusste er, was er da mit ihr anstellte? Die Wärme aus seiner Hand auf ihrem nackten Schenkel schickte heiße Wellen zwischen ihre Beine und ihr Herz klopfte wie ein Trommelwirbel.
„Hm“ sie musste sich räuspern, „schon ok. Du hast ja eigentlich recht, aber es dauert halt ein bisschen, bis ich mich davon frei gemacht habe.“

Richard schaute sie forschend von der Seite an.
„Wie war er?“ fragte er dann vorsichtig.
Rieke wusste sofort wen er meinte und musste ein paar Mal trocken schlucken. Während sie nach einer Formulierung suchte sog sie die Unterlippe zwischen die Zähne und starrte auf den dunklen See hinunter.
„Nett. Gut aussehend, zuvorkommend, charmant, ein guter Unterhalter. Er führte mich ins Theater und die Oper, kochte für uns. Der perfekte Gentleman“ flüsterte sie, ohne zu merken, dass ihr eine einzelne Träne die Wange hinunter rann.
Richard nickte stumm und nahm endlich seine Hand von ihrem Bein, bevor sich ein Loch hinein gebrannt hatte. Allerdings nur um ihr vorsichtig die Träne von der Wange zu streichen.

„Jetzt heul ich hier auch noch wie ein Schulmädchen.“ Rieke lachte kurz auf um die Situation zu entspannen. Viel mehr Berührungen konnte sie langsam nicht mehr ertragen.
Aber es nützte nichts, Richard legte seinen Arm um sie und zog sie zu sich hin.
„So hab ich ihn auch in Erinnerung. Er war eigentlich auch immer gut gelaunt. Ich bringe den Claus von Brahmberg, den ich als Kind kannte nicht mit dem Mann zusammen, der David und mir das angetan hat.“ Nach einer kurzen Pause fügte er nachdenklich an: „Liebe kann verdammt viel Schaden anrichten!“
Rieke wollte sich vorsichtig aus seiner Umarmung stehlen, aber er griff nur umso fester zu, was sie nun vollends verwirrte. Da erzählte er was von Schäden, die durch Liebe verursacht werden und im gleichen Moment vermittelte er Rieke das Gefühl, er würde sie nie wieder loslassen wollen.
‚Mitleid vermutlich’ versuchte sie sich einzureden und machte nach ein paar weiteren schweigsamen Minuten einen erneuten Versuch, sich von ihm zu entfernen.
Diesmal schaute Richard ihr tief in die Augen und ließ seine rechte Hand von ihren Schultern ihren Arm entlang sanft nach unten streichen.
„Willst Du vor mir abhauen?“ fragte er in neckendem Ton, ließ Rieke dabei aber keine Sekunde aus den Augen.

Rieke schluckte hart. Sie sehnte sich so sehr danach, Richard zu berühren, dass es ihr schon fast körperlich wehtat sich von ihm zu trennen. Nun, nicht ganz, seine Finger spielten mit ihren, ohne dass sich sein Blick aus ihren Augen gelöst hätte.
Sie räusperte sich und hielt seinem Blick stand.
„Es wäre wohl besser“ flüsterte sie, „sonst mach ich vielleicht noch was Dummes.“
Richard stand auf und zog sie an der Hand mit sich hoch. Dann legte er seinen rechten Arm, ohne ihre Hand loszulassen um Riekes Taille und zog sie zu sich heran, bis sie seinen harten Brustkorb an ihrem Busen spürte.
„Zum Beispiel?“ wisperte Richard, während er seine Lippen bis auf wenige Millimeter ihren näherte und sie mit dunklen Augen ansah.
„Zum Beispiel, dich zu küssen“ erwiderte Rieke heiser.
„Und das wäre dumm?“ Auch Richards Stimme klang rau.
Nun konnte Rieke nur noch stumm nicken, während sie sich willenlos von Richard rückwärts über die Terrasse schieben ließ. Plötzlich merkte sie, dass sie mit dem Rücken an die Mauer stieß. Aber Richard verstärkte seinen Druck noch, hielt ihre Hand eisern fest und schnappte sich mit der anderen ihre rechte, die er über ihrem Kopf gegen die Hauswand drückte, während sein restlicher Körper Rieke vollends gefangen nahm.
Kurz nahm er sich Zeit, ihr Gesicht im Halbdunkel zu studieren, dann senkte sich sein Mund auf ihren. Der Kuss war nicht zart oder romantisch, sondern wild und fordernd. Hart lagen seine Lippen auf ihren, seine Zunge duldete keinen Widerstand, als er in ihren Mund eindrang. Rieke stöhnte, wollte sich wie eine Ertrinkende an ihn klammern, aber seine Hände gaben die ihren nicht frei. Erst nach einer ganzen Weile merkte sie, dass er mittlerweile eine Hand unter ihr kurzes Top geschoben hatte und mit seiner flachen Hand ihren nackten Bauch liebkoste, während sein Daumen schon am Ansatz ihrer Brust verweilte. Das Spiel ihrer Zungen wurde immer heftiger, beide atmeten sie schon schwer, aber konnten sich nicht voneinander lösen. Richard packte Rieke um die Taille und schob mit dem Fuß die Tür auf, zerrte sie in die Küche und drückte sie mit seinem Becken gegen die Ablage. Mit einem Ruck zog er ihr das Hemd über den Kopf und begann, ihre hart aufgerichteten Brustwarzen mit seinem Mund zu bearbeiten. Rieke konnte nicht mehr klar denken, streifte ihm hektisch das Hemd von den Schultern und presste ihre Oberschenkel um seine Hüften. Während Richard kurz zu ihrem Mund zurückkehrte fasste er sie um den Po, hob sie hoch um sich zu drehen und legte sich mit ihr auf den Boden, ohne den Kuss zu unterbrechen.

„Ich will dich“ flüsterte er ihr heiser zu und ließ seine Hand in ihre Shorts gleiten. Rieke stöhnte in seinen Mund, als sie merkte, wie er einen Finger in ihrer Feuchtigkeit versenkte und anfing, diesen langsam in ihr zu bewegen. Rieke begann schon nach wenigen Sekunden unkontrolliert zu zucken. So schnell war sie noch nie zum Höhepunkt gekommen. Ihre Hände lagen um seinen Rücken, in seinem Nacken, fuhren durch Richards Haar, alles was geeignet war, ihn noch näher an sich zu ziehen. Dann glitt sie mit den Händen über seinen Rücken nach unten, zog ihm die Shorts aus und legte ihre Hand um ihn. Leise stöhnte Richard auf, legte sich kurz auf die Seite, um auch bei Rieke das letzte bisschen Stoff zu entfernen. Dann schob er ihre Beine auseinander und während er begann sie wieder wild zu küssen schob er sich mit einem Ruck in sie. Das Gefühl war so überwältigend, dass Rieke einen Schrei unterdrücken musste indem sie Richard in die Schulter biss. Er rächte sich sofort, biss ihr in die Unterlippe, zupfte daran und wanderte dann weiter zu ihrem Hals, wo er im Rhythmus seiner Stöße an der Haut sog. Als er wahrnahm, dass Rieke ihm mit den Fingernägeln den Rücken zerkratzte fing er eine ihrer Hände ein und drückte sie über ihrem Kopf auf den Boden, während er mit seiner anderen Hand ihre Brustwarze in seinen Mund hob.
Rieke merkte, dass sie schon wieder kurz vor der Explosion stand.
„Komm“ stieß sie heiser vor und drückte ihre freie Hand auf seinen Hintern. Richard bewegte sich noch etwas schneller in ihr und als sie beide gleichzeitig den Gipfel erreichten verschloss er ihren Mund mit einem wilden Kuss, der sein Stöhnen nicht verbergen konnte.

Kapitel 19


„Gott, kurz hatte ich die Illusion wir würden es bis zum Sofa schaffen“ knurrte Richard ein paar Minuten später.
Rieke kicherte.
„Was hast Du denn? Du liegst doch bequem.“
„Stimmt eigentlich“ brummte Richard selbstgefällig und legte sich ein bisschen auf ihrem heißen Körper zurecht. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Schulter und zog sie an der Hand mit sich hoch.
„Komm.“
Ohne weiteren Kommentar schnappte er sich eine Wasserflasche von der Ablage und zog Rieke hinter sich her zu seinem Zimmer, wo er sie ins Bett bugsierte.
Richard drückte sie mit seinem Arm fest an sich und begann von neuem sie fordernd zu küssen.
„Mhm,“ brummte er, „hier ist es noch bequemer.“ Er drehte sich mitsamt Rieke auf den Rücken und knetete ihre Pobacken, während sein Mund in ihrer Halsbeuge auf Wanderschaft ging.
„Willst Du mir keine Pause gönnen?“ flüsterte Rieke, während sie an seinem Ohr knabberte.
„Ich bin seit gestern Abend, als Du in dem Badehandtuch in der Tür gestanden bist, scharf auf Dich. Einen Teufel werde ich tun, Dir eine Pause zu verschaffen.“
„So, so. Und wie konntest Du Dir so sicher sein, dass ich auch mitmachen würde?“ neckte Rieke ihn, während sie mit dem Fingernagel Streifen auf seine Brust malte.
Richard grinste sie süffisant an.
„Eine Frau, deren Brustwarzen sich schon beim Klang meiner Stimme aufstellen, will mich genauso wie ich sie.“ Er schaute ihr tief in die Augen.
Rieke lächelte verlegen, während heiße Wellen durch ihren Körper strömten.
„Du hast es also doch gesehen?“
Richard legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und presste ihre Lippen auf seinen Mund für einen weiteren wilden Kuss.
„Ohne Dein T-Shirt hätten sie mich vermutlich irgendwann angesprungen“ murmelte er frech. „Und jetzt halt die Klappe und genieß!“ Er drehte sie auf den Rücken und zeigte ihr deutlich, dass zumindest er momentan keine Pause brauchte.

Rieke wachte davon auf, dass sie Richards Hände auf ihren Brüsten spürte. Sie lag auf der Seite und fühlte an ihrem Rücken seinen festen Brustkorb. Sein Atem kitzelte sie im Nacken, während seine Hände unbeirrt weiter ihr Ziel verfolgten. Sie war noch nicht ganz wach, aber sehnte sich schon wieder danach, ihn in sich zu spüren. Vorsichtig streckte sie ihren Po ein Stück nach hinten um zu signalisieren, dass sie aufgewacht war.
Sie hörte ein zufriedenes Brummen hinter sich und registrierte, wie Richard seine Erektion an ihren Hintern drückte. Mit einer Hand glitt er zwischen ihre Beine und stellte erfreut fest, dass sie feucht und heiß und bereit für ihn war. Er hob ihren einen Schenkel etwas an und drang ohne große Mühe von hinten sie ein. Langsam bewegte er sich in ihr, während er begann, mit der Zunge kleine Kreise in ihrem Nacken zu ziehen. Rieke stöhnte leise auf, als Richard mit seiner freien Hand auf ihre untere Bauchdecke drückte und damit ungeahnte Gefühle in ihrem Inneren auslöste.
Der Orgasmus überrollte beide schon nach kurzer Zeit. Träge drehte sich Rieke anschließend zu Richard um und suchte mit geschlossenen Augen seinen Mund. Zum ersten Mal küssten sie sich langsam, zärtlich, endlich gesättigt. Irgendwann hob sie die Lider und sah direkt in ein paar dunkel-grün funkelnde Augen.
„Guten Morgen“ flüsterte Richard an ihrem Mund. „Gut geschlafen?“
„Du hast geschlafen?“ fragte Rieke mit gerunzelter Stirn. „Ich habe das Gefühl, wir hatten nun seit Stunden ununterbrochen Sex.“
Richard lachte leise.
„Nicht gut?“
„Ich glaub, ich bin vollkommen wund.“ Rieke räkelte sich wohlig in seinen Armen.
„Oh, Du Arme“ meinte Richard bedauernd und legte seine Hand mit einem breiten Grinsen absichtlich zwischen ihre Beine. „Schlimm?“ Er rieb sanft mit dem Daumen auf und ab, so dass Rieke genau auf der Grenze zwischen Lust und Schmerz schwebte.
„Sehr“ murmelte sie. „Du musst mich trösten!“
„Das tu ich doch“ gab Richard heiser zurück. Aber dann nahm er doch seine Hand wieder weg und legte sie um Riekes Nacken, um ihren Kopf für einen weiteren trägen Kuss zu sich zu ziehen.
„Kaffee?“ fragte er irgendwann.
„Wie spät ist es?“ Rieke suchte irgendwo eine Uhr, konnte aber keine finden.
„Keine Ahnung, ist doch egal. Du kannst auch Wasser haben, dann muss keiner von uns aufstehen und wir können die Zeit sinnvoller nutzen.“ Er bedachte sie mit einem Blick, der ihr sämtliche Körperhärchen aufstellte.

„Du bist wahnsinnig“ versicherte Rieke ihm kopfschüttelnd und kletterte über ihn drüber aus dem Bett raus.
„Ich mach Kaffee, ich kann eine Stärkung gebrauchen.“
„Beeil Dich“ schickte ihr Richard heiser hinterher, während er ihren nackten Körper mit heißen Blicken musterte, die Riekes Brustwarzen zu seinem Vergnügen bereits wieder fest werden ließen.
In der Küche angekommen sah Rieke, dass die Sonne schon recht hoch am Himmel stand, es musste also fast Mittag sein. Auf dem Boden lagen noch ihre Klamotten verteilt. Sie schlüpfte schnell in ihre Shorts und konnte dann nicht widerstehen, sich Richards Hemd überzustreifen. Genussvoll sog sie seinen Duft ein und allein das, und der Gedanke was letzte Nacht hier in der Küche passiert war ließ sie ein erneutes Kribbeln zwischen den Beinen spüren. Da die Hemdsärmel für sie zu lang waren, schloss sie die Knöpfe an den Manschetten, um besser hantieren zu können. Vorne machte sie nur einen Knopf in der Mitte zu.
Als sie den Kaffee fertig hatte, stellte sie die Kanne mit ein bisschen Brot und ein paar Kleinigkeiten aus dem Kühlschrank auf ein Tablett. Mittlerweile hatte sich ihr Magen lautstark zu Wort gemeldet und eine kleine Stärkung war sicherlich nicht verkehrt.

Als sie zurück zu Richard ans Bett kam, bedachte der sie mit einem strengen Blick.
„Ausziehen“ forderte er wütend.
Rieke wurde rot und stellte schnell das Tablett ab. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass er so empfindlich war, was seine Hemden angeht.
Sie wollte gerade die Manschettenknöpfe öffnen, als sie ihn lachen hörte und sich unsicher umdrehte.
„Das Höschen, nicht das Hemd. Das darfst anbehalten, wenn Du den Knopf vorne aufmachst, der mir den Anblick auf Deine wunderschönen Brüste verwehrt.“
Für einen kurzen Moment schloss Rieke die Augen. Sie wollte es nicht zugeben, aber tatsächlich verursachte allein der Klang seiner Stimme Kurzatmigkeit bei ihr. Dann grinste sie ihn frech an, öffnete den einen Knopf und zog schnell die Shorts wieder aus, eher sie zurück zu ihm ins Bett hüpfte. Sofort zog er sie in seine Arme und vergewisserte sich, dass alles noch an den gleichen Stellen war wie vorher.

Irgendwann hatten sie dann doch den Kaffee getrunken und sich hungrig über das Essen hergemacht.
„So könnte ich es den Rest der Woche mit Dir aushalten“ murmelte Richard als er sich zurückgelegt hatte und Riekes Kopf auf seiner Brust ruhte.
„Dann würden wir verhungern. Der Kühlschrank ist fast leer“ brummte Rieke.
„Da muss wohl einer von uns beiden aufstehen und einkaufen fahren“ stellte er träge fest.
„Ich nicht, ich kann die nächsten Tage nicht sitzen“ informierte Rieke ihn.
„Dann musst Du eben wie John Wayne ins Dorf wanken.“ Richard lachte leise bei der Vorstellung, bis ihn ein Schlag mit der flachen Hand auf seinen nackten Bauch unterbrach.
„Hey, spinnst Du?“ fragte er entrüstet.
„Das ist nicht lustig“ grollte Rieke.
„Doch ist es“ versicherte er ihr grinsend. „Stell dich nicht so an. Von Klaus Kinski ist überliefert, dass er in einer Nacht sieben Mal mit seiner Frau geschlafen hat. Und wir sind erst bei fünf Mal. Also bitte, da muss doch noch was drin sein.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf während Rieke entsetzt zu ihm aufschaute.
„Du hast auch noch mitgezählt?“ Verzweifelt ließ sie ihren Kopf wieder sinken und fügte an: „Klaus Kinski hätte ich nicht einmal gewollt.“
Richards Brustkorb zitterte vor unterdrücktem Lachen. Dann hielt er es aber nicht mehr aus und lachte laut los.
„Du bist fantastisch“ bestätigte er ihr und zog Rieke hoch, um ihre geschwollenen Lippen mit einem weiteren fordernden Kuss zu beglücken. Er hatte schon vorhin gesehen, dass er ihr einen dicken Knutschfleck am Hals hinterlassen hatte und freute sich jetzt schon auf die Szene, wenn sie den entdeckte. Ihn jedenfalls erregte allein der Anblick seiner „Markierung“. Vorsichtig legte er Rieke auf den Rücken und schob sein Hemd beiseite, das sie immer noch anhatte. Er konnte nicht genug kriegen von ihrem Körper, den sie ihm da so willig auslieferte. Zart strich er über ihre Brüste, die sich ihm wie auf ein geheimes Kommando hin sofort entgegen reckten. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle schon wieder genommen, aber natürlich wollte er ihr keine Schmerzen verursachen. Also glitt er mit seinen Lippen tiefer, liebkoste ihren Bauch, dann versenkte er seinen Kopf vorsichtig zwischen ihren Beinen. Sie schmeckte salzig, nach Sex und nach ihm. Er traute sich kaum, sie mit der Zunge zu berühren, konnte sich aber auch nicht wirklich zurück halten. Nach ein paar Minuten merkte er, wie sich Riekes Hände in seine Haare krallten und ihn nach oben zogen.
Gierig küsste sie ihn, kostete von seinem Mund, der nach Sex und Kaffee schmeckte.
„Bitte“ flüsterte sie an seinen Lippen, „lass mich Dich spüren.“
„Ich will Dir nicht wehtun“ gab Richard zurück, während er mit dem Daumen über ihre geschwollene Unterlippe fuhr.
„Nimm mich“ bettelte sie und legte ihre Schenkel um seine Hüften.
„Wenn hier jemand wahnsinnig ist, dann Du“ brummte er an ihrem Ohr als er vorsichtig in sie eindrang.
Diesmal ließen sie sich mehr Zeit, schaukelten sich langsam gegenseitig hoch, mit kleinen Bewegungen der Hüften, oftmals unterbrochen von trägen Küssen, sanftem Streicheln und tiefen Blicken. Zum ersten Mal schauten sie sich auch gegenseitig in die Augen als die Welle sie überrollte, nicht wild und stürmisch wie die vorhergehenden Male, sondern ruhig und gedämpft.
Völlig erschöpft schliefen sie eng umschlungen wieder ein.


Kapitel 20


Als Rieke das nächste Mal erwachte lag sie allein im Bett. Träge räkelte sie sich noch ein bisschen bevor sie sich entscheiden konnte aufzustehen. Draußen war es schon dunkel, wie sie durchs geöffnete Fenster erkennen konnte. Sie fand Richard in der Küche, der gerade am Herd rumwerkelte.
„Hey“, er drehte sich mit einem strahlenden Lächeln um, als er Rieke hinter sich hörte. „Na, auch mal wieder wach?“ neckte er sie.
„Mhm“ brummte Rieke, „wo hast Du die Sachen um die Uhrzeit her?“ fragte sie dann verwundert.
„Vom Restaurant im Dorf. Ich hab dem Küchenchef erzählt, dass ich dich ohnmächtig gevögelt hätte und Du nun leider nicht in der Lage wärst, zu ihm zum Essen zu kommen. Da hat er mir großzügig was abgegeben.“
„Das hast Du dem nicht gesagt.“ Rieke starrte ihn ungläubig an. „Niemals.“
Um Richards Mundwinkel zuckte es verdächtig, aber er behielt seine ernste Miene bei.
„Hab ich nicht? Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Nun drehte er sich vorsichtshalber doch wieder um.
„Du spinnst doch komplett“ teilte Rieke ihm vorwurfsvoll mit, „ich geh mal lieber ins Bad, bevor du mir hier weiter Unsinn erzählst.“
„Eins, zwei, drei“ Richard fing an, leise zu zählen, „vier, fünf, sechs, sieben…“.
„Aaaaaaaaaahhhhh“ Riekes Schrei hallte durchs ganze Haus.
„Sie hat den Knutschfleck entdeckt.“ Richard grinste vor sich hin während er sich auf die garantiert kommende Attacke vorbereitete.

„W A S  I S T  D A S?“ Rieke stand knapp hinter Richard und drehte ihn mit einem Ruck an der Schulter zu sich um.
Vorwurfsvoll deutete sie auf den dunkelblau-gelb-grün schimmernden Fleck an ihrem Hals, während ihre Augen Richard wütend anfunkelten.
Der beugte sich vor und musterte interessiert die Stelle, auf die sie zeigte.
„Hast Du Dich gestoßen?“ fragte er mitfühlend.
Das gab Rieke den Rest. Sie ballte die Hände zu Fäusten und begann, auf seinem Brustkorb rumzutrommeln.
„Du Mistkerl, was hast Du Dir dabei gedacht? Ich kann tagelang nicht aus dem Haus, so kann ich mich doch nicht sehen lassen.“
Richard versuchte ihre Hände einzufangen, was ihm tatsächlich einige Mühe bereitete, einerseits weil sie wirklich schnell war, andererseits, weil er so lachen musste.
„Warte mal, Du hast schließlich still gehalten, also ganz unbeteiligt bist Du auch nicht.“
„Ich habe geschlafen“ teilte sie ihm wütend mit.
„Nein, Herzchen, zu dem Zeitpunkt warst Du recht munter wenn ich mich richtig erinnere.“ Er grinste viel sagend runter in Riekes Gesicht, das langsam einen zarten Rot-Ton annahm.
„Du bist so sexy wenn Du wütend bist“ raunte er ihr dann zu. Die Wirkung ihrer Attacke verpuffte tatsächlich ein bisschen dadurch, dass sie immer noch nichts weiter außer seinem offenen Hemd am Leib trug.
Rieke schnappte nach Luft.
Dann versuchte sie, so würdevoll wie möglich, die Schultern zu straffen, den Kopf zu heben und ihn anzuschauen.
„Ich bin Polizistin. Ich habe eine Waffe und kann die jederzeit einsetzen. Reiz mich nicht zu sehr!“ Sie drehte sich um und verließ so langsam es ihr möglich war mit hoch erhobenem Haupt die Küche.
Dass Richard sich mit einem Lachkrampf in den nächsten Stuhl fallen ließ beschloss sie einfach zu ignorieren.

Die nächsten Tage verbrachten die beiden irgendwo zwischen Bett, Küche und ihrem Lieblingsplatz auf der Terrasse. Sie verschliefen den halben Tag und nutzten die Nacht. Es war halb vier Uhr morgens, die Vögel fingen gerade an den neuen Tag zu begrüßen, als sie zusammen auf der Mauer saßen und auf den noch dunkel schimmernden See hinunter schauten.

„Wieso hast Du eigentlich gesagt, Du warst neugierig auf mich?“ Diese Frage brannte Rieke schon lange unter den Nägeln. „Was hat man Dir denn von mir erzählt?“
Richard musterte sie mal wieder mit diesem typischen unergründlichen Blick von der Seite, den sie nun schon zur Genüge kannte. Wenn er den aufsetzte, wusste Rieke schon, dass er sich seine Antwort sehr genau überlegte.
„Laura war eine der Ersten, mit der ich, na ja, hinterher gesprochen hab. David hatte wohl die Leute von der Station so lange angebrüllt, bis sie uns in ein Doppelzimmer legten, obwohl es ihn nicht ganz so heftig erwischt hatte wie mich.“ Er lächelte kurz bei der Erinnerung daran, wie er langsam zu sich gekommen war und sowohl David als auch Laura auf seinem Bett saßen. David hatte ihn angemotzt, dass er ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte und Laura hatte ihn einfach stumm in den Arm genommen.
„Wir haben uns zu dritt lange unterhalten. Laura hat mir von Dir erzählt, Du hast offenbar einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Sie hat was davon gesagt, dass Du ein Foto von uns beiden gesehen hast?“ Fragend legte Richard den Kopf schief und sah zu Rieke rüber.
Rieke nickte langsam. Sie war sich nicht sicher, wie viel sie ihm tatsächlich von Jules Fotos erzählen wollte. Schließlich gehörte dazu auch die Vergrößerung von ihm, die sie immer noch in ihrer Tasche hatte. Riekes Gefühle für ihn hatten sich die letzten Tage noch vertieft, aber was fühlte Richard? Wollte er nur Sex? Als Ablenkung? Er hatte noch nie etwas gesagt, das irgendeinen Rückschluss zuließ und Rieke wollte nun auch nicht gerade die große Liebesnummer abziehen, dazu war sie sich einfach zu unsicher, wie Richard reagieren würde.
„Stimmt, ich habe von Jule eine CD mit Fotos bekommen, die sie bei verschiedenen Kerima Events aufgenommen hatte. Ich wollte mir halt einen Eindruck verschaffen.“ Rieke zuckte mit den Schultern.
„Und?“ Richard zog die Augenbrauen hoch, „das war doch nicht alles, oder?“
„Eigentlich hatte ich zuerst gefragt“ brummelte Rieke, „aber ich will mal nicht so sein. Ich hab mir die ganzen Fotos angeschaut und ich kann Dir sagen, Du hast einen ganz schön arroganten Gesichtsausdruck, ganz im Gegensatz zu Deinem charmanten und fotogenen Bruder David.“
Richard lachte leise. „Das mag sein, ich hasse diese ganzen Auftritte, im Unterschied zu David, der sein Strahlen gar nicht schnell genug anknipsen kann, wenn er eine Kamera sieht. Aber meine Frage hast Du immer noch nicht beantwortet“ beharrte er.
„Ich hab halt besonders auf die Bilder geachtet, die nicht gestellt waren. Jule hatte mir vorher erzählt, dass ihr Euch mal kurz unterhalten habt und sie Dich, entgegen dem, was ich von allen Deinen Kollegen gehört habe, erstaunlicherweise ganz nett fand.“
Interessiert hob Richard die Augenbrauen.
„Tatsächlich?“
„Ja, Du hättest Chancen bei ihr. Sie steht auf Deine grünen Augen!“ Rieke versuchte so gleichgültig wie möglich zu klingen.
„Gut zu wissen“ murmelte er grinsend. „Beantwortest Du mir jetzt endlich meine Frage?“
Rieke schluckte trocken. Hätte sie nur nichts gesagt. Der Kerl war eh schon eingebildet genug.
„Auf einem der Bilder hab ich Dich und Laura im Hintergrund gesehen. Ganz offensichtlich hat keiner von Euch beiden gemerkt, dass die Leute vorne fotografiert werden. Sie hatte ihre Hand sehr vertraulich auf Deinem Oberschenkel liegen und ich dachte ihr beiden hättet ein Verhältnis!“

Rieke starrte stur geradeaus, obwohl sie genau merkte, wie sich Richards Blick in ihren Nacken bohrte.
Kurz bevor man das Schweigen zwischen ihnen hätte schneiden können bemerkte er dann spöttisch:
„Was man aus so Fotos alles raus lesen kann!“
„Du warst zu dem Zeitpunkt der Hauptverdächtige für die Entführung von David. Alles sprach gegen Dich. Laura Seidel hatte mir allerdings vorher zu verstehen gegeben, dass sie nicht an Deine Schuld glaubte. Da ist mir das halt so aufgefallen.“
„Halt so“ äffte Richard sie nach.
„Was willst Du eigentlich wissen, hä?“ herrschte Rieke ihn an.
„Du hast gefragt warum ich neugierig auf Dich war. Um Dir das zu beantworten wollte ich einfach mal ein bisschen über Deine Ermittlungsmethode wissen. Die kommt mir so ein klein wenig schräg vor, ehrlich gesagt.“
„Wie ich meinen Beruf ausübe geht Dich ja wohl gar nichts an!“ blaffte Rieke ihn an.
„Warum bist Du eigentlich so zickig?“ Richard musterte sie wieder ruhig von der Seite.
„Weil Du meine Frage nicht beantwortest“ gab sie trotzig zurück.
„Nicht, bevor Du meine beantwortest hast!“
Rieke holte tief Luft. Sie wollte sich ja gar nicht mit ihm streiten. Sie war eifersüchtig, weil er es interessant fand, dass Jule ihn mochte. Das war alles. Aber das konnte sie ihm natürlich nicht auf die Nase binden.
„Ok, der Reihe nach. Die offiziellen Ermittlungsergebnisse kennst Du ja. Ich hab eben zusätzlich ein bisschen recherchiert, weil, na ja, ich eben das Gefühl hatte, es stimmt was nicht, es aber nicht zu greifen bekam. Also hab ich die Bilder nach Ungewöhnlichem durchgeschaut. Und das mit Laura, tja, war eben ungewöhnlich, weil Du sonst auf allen Fotos den arroganten Fiesling gegeben hast, und da sah das eben anders aus.“ Sie zögerte. „Ich war sogar mal allein in Deiner Wohnung.“
Rieke wagte nicht, ihn anzuschauen. Sicherlich wusste er genauso gut wie sie, dass das zu keinem Zeitpunkt die Ermittlungen vorwärts gebracht hätte.
Wieder entstand eine Pause, in der Rieke ihn nur atmen hörte. Aber anscheinend wollte er sich dazu nicht äußern.

„Frau Claasen hat mir erzählt, Du hättest geweint als sie Dich das letzte Mal gesehen hat.“
„Ich hatte was im Auge.“ Rieke schluckte.
„Ach so. Na dann. Ich war übrigens neugierig auf Dich, weil ich gerne wissen wollte, wie die Polizistin denn so ist, die erleichtert ist, wenn sie hört, dass der Verdächtige kein Verhältnis mit der Frau seines Vaters hat und die weint, weil sie jemanden, den sie nicht kennt, vielleicht nie kennen lernen wird.“
‚Na super, im Endeffekt weiß er eh schon alles, na, fast alles’ dachte Rieke.
„Ich hab nicht geweint“ murmelte sie trotzig, „ich hatte was im Auge.“

Richard stand auf von der Mauer und zog Rieke hoch in seine Arme.
„Und ich bin der Weihnachtsmann“ murmelte er in ihr Haar, während er sie fest an sich drückte.
„Lass uns schlafen gehen.“

Kapitel 21


Am nächsten Tag war Richard weg. Rieke fand beim aufwachen einen Zettel neben sich auf dem Kopfkissen mit einer flüchtigen Notiz.

„Musste dringend zurück nach Berlin. Ich melde mich. R.“

Sie ließ sich zurück aufs Kopfkissen sinken. War er abgehauen? Weil sie ihn zu sehr bedrängt hatte? Lag sie doch richtig mit ihrer Vermutung, dass er nur ein bisschen Spaß und Ablenkung wollte und nur mit ihr gespielt hatte?
‚Reiß Dich zusammen’ sagte sie sich dann selber, ‚warte doch erstmal ab. Er hat geschrieben, er meldet sich, also. Außerdem sind wir ja nicht mal ein Paar, Richard kann also kommen und gehen wie er will.’
Sie stand auf und duschte ausgiebig und versuchte ein bisschen was zu lesen, auch wenn sie nichts davon mitbekam, was in dem Buch stand, da sie alle zwei Minuten ihr Telefon in die Hand nahm, falls sie das Klingeln nicht gehört hätte. Da sie recht spät erst aufgewacht war, ging es bald schon auf den späten Nachmittag zu, als sie beschloss, zum See zu gehen um zu schwimmen.
Zwei Stunden später hatte sie immer noch keine Nachricht von Richard. Unruhig tigerte sie im Haus herum, machte sich einen Kaffee, aß ein bisschen was, räumte auf. Irgendwann warf sie sich aufs Sofa und machte den Fernseher an, aber auch das lenkte sie nicht wirklich ab. Enttäuscht ging sie kurz nach Mitternacht ins Bett und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd, um so wenigstens noch ein bisschen was von ihm festzuhalten.

Jule fand sie am nächsten Tag auf der Terrasse am Boden sitzen, mit dem Rücken an „ihre“ Mauer gelehnt.
„Was ist denn mit Dir los um Himmels Willen?“ Jule ließ ihre Tasche fallen und stürzte auf Rieke zu, um sich neben sie zu knien.
„Er ist weg!“ Rieke nahm noch einen Schluck aus ihrem Rotweinglas, während sie ins Leere starrte.
„Wie ‚weg’?“
„Fort, dahin, verschwunden, auf nimmer Wiedersehen, weg!“
Jule schaute sich zweifelnd um. Eine bereits leere Rotweinflasche stand neben Rieke, die zweite war auch nur noch zur Hälfte voll.
„Es ist gerade mal kurz vor sieben Uhr abends. Hast Du das alles heute getrunken?“ Jule konnte es nicht so ganz fassen.
Rieke nickte ernsthaft.
„Weil er weg ist. Da!“ Sie streckte Jule ihre Hand hin, in der sie die ganze Zeit den nunmehr kaum noch lesbaren Zettel von Richard mit sich rum getragen hatte.
„Seit wann?“ forschte Jule, nachdem sie den Zettel mühsam entziffert hatte.
„Gestern!“ verkündete Rieke mit Grabesstimme und nahm einen weiteren großen Schluck Wein. Dann füllte sie ihr Glas aus der Flasche nach.
„Und er hat sich nicht gemeldet“ fügte sie kleinlaut hinzu.
„Richard musste gestern zurück nach Berlin und hat sich bisher nicht bei Dir gemeldet, hab ich das soweit richtig verstanden?“
Rieke nickte heftig.
„Einfach weg!“
„Habt ihr Euch gestritten?“
Nun schüttelte Rieke vehement den Kopf.
„Nahein, er hatte wohl nur die Nase voll von mir!“
„Äh, was hat er mit Dir gemacht?“ Jule fühlte sich miserabel, schließlich hatte sie Richard hierher zu ihrer besten Freundin geschickt, aber damit es ihr besser gehen würde, nicht, damit er sie als Wrack hinterlassen würde.
„Er hat mich gebumst, und wie! Und dann isser einfach weg!“ Rieke liefen nun Tränen über das Gesicht, sie konnte es nicht verhindern und machte auch keinen Versuch, sie wegzuwischen.
„Hat er Dir wehgetan?“ Jule packte sie an den Schultern und zwang Rieke, sie anzuschauen. „Los, sag schon, hat Dir das Schwein was getan?“
„Ich liebe ihn, ich liebe ihn so sehr, dass es weh tut, Jule, so sehr!“ Rieke warf sich ihrer Freundin in die Arme und schluchzte laut.

Jule wiegte sie sanft hin und her und strich ihr beruhigend über den Rücken. Anscheinend hatte sie es hier tatsächlich nur mit Liebeskummer zu tun, nicht mit körperlicher Gewalt, wie sie für einen kurzen Moment befürchtet hatte. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Richard so etwas tun würde, aber schließlich kannte sie den Mann nicht besonders gut und er war erst kürzlich großer seelischer Belastung ausgesetzt gewesen. Jule hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie Rieke hier mit ihm allein gelassen hatte. Zum Glück war sie nun einen Tag früher gekommen als geplant. Ihre Freundin machte allerdings den Eindruck, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, dass sie sich über’s Wochenende angesagt hatte.

„Komm“ Jule zog Rieke hoch, „Du trinkst jetzt ein großes Glas Wasser und nimmst eine Aspirin und dann schläfst Du erstmal. Später können wir das immer noch klären.“
Rieke ließ sich willenlos ins Haus bringen, in der Küche auf einen Stuhl setzen und wartete brav, bis Jule ihr Wasser und Tablette eingeflösst hatte. Nur als diese sie in ihr Zimmer bringen wollte bestand Rieke darauf, in Richards Bett schlafen zu wollen. Kaum hatte sie sich hingelegt, rollte sie sich auch schon zusammen, sein Hemd wie einen Teddy fest an sich gedrückt.

Jule ging zurück in die Küche und schaute mal, ob sie was zu essen finden würde. Der Kühlschrank war noch recht voll und sie machte sich einen kleinen Salat und dazu ein bisschen was von dem kalten Fleisch, das sie noch fand. Irgendjemand musste gekocht haben, und Rieke war das definitiv nicht.  Zum Glück, sonst hätte es nicht so köstlich geschmeckt.
Gegen neun ging sie nach draußen auf die Terrasse und machte es sich mit einem Glas Rotwein aus der angebrochenen Flasche, die sie vorhin Rieke weggenommen hatte, bequem.

„Was ist passiert?“ Richard stand in der Tür zwischen Küche und Terrasse. Er hatte nur schnell seine Tasche im Zimmer abstellen wollen, da hatte er Rieke mit rot geweinten Augen im Bett gefunden, wie sie sich an sein Hemd klammerte und im Schlaf leise wimmerte. Er hatte ihr kurz über’s Haar gestrichen, aber sie war nicht aufgewacht. Dann hatte er entdeckt, dass Jule da ist.

„Du warst weg und hast Dich nicht gemeldet“ informierte Jule ihn, während sie aufstand und ihn zur Begrüßung kurz umarmte. „Wein?“
„Ja, gerne“ Richard lächelte sie dankbar an. Dann nahm er das Glas entgegen und fragte irritiert:
„Warum schläft Rieke um die Zeit? Geht es ihr nicht gut?“
Jule lachte leise.
„Morgen früh wird es ihr noch viel schlechter gehen. Mein kleines Sorgenkind hat fast zwei Flaschen Rotwein geleert, aus Kummer, weil Du Dich nicht gemeldet hast.“ Sie schaute Richard vorwurfsvoll an.
Der verschluckte sich beinahe.
„Bitte? Ich war nicht mal 48 Stunden weg und da betrinkt sie sich sinnlos?“
Jule schaute ihn forschend an.
„Sie liebt Dich!“
Über Richards Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
„Wirklich? Das ist gut. Ich sie nämlich auch!“ sagte er leise.
„Wenn Du ihr jemals wehtust, werde ich Dich finden und dann wird Dir das Leid tun, ist Dir das klar?“ Jule sah ihm in die Augen, mit einem Blick, der unterstrich, dass sie das Gesagte wirklich ernst meinte.
Um Richards Mundwinkel zuckte es verdächtig.
„Wenn Du dann noch eine Chance hast. Rieke hat mir schon damit gedroht, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.“
„Braves Mädchen! Gut, dann hätten wir das geklärt!“ Jetzt grinste auch Jule.

„Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Warum hast Du Dich denn nicht bei ihr gemeldet?“
Richard schüttelte ungläubig den Kopf.
„Müssen eigentlich alle Männer erstmal bei Dir einen Test ablegen, wenn sie sich an Deine Freundin ranmachen wollen?“
„Klar, was denkst Du denn?“ Jule rempelte ihn lachend an. „Und jetzt, gestehe, was hast Du in Berlin gemacht, dass Dich vom Telefon abgehalten hat?“
„Hör mir auf“ stöhnte Richard. „Ich war bei David, auf seinem Segelboot, die ganze Nacht und noch den halben Tag heute, bis ich mich endlich loseisen konnte. Und dann dachte ich, nun, in drei Stunden bin ich sowieso selber wieder hier. War gedankenlos, gebe ich zu. Aber David hat mich gebraucht.“
Er schaute forschend rüber zu Jule.
„Er ist mehr mein Freund als mein Bruder, ich musste zu ihm.“

Richard lachte wieder leise und schaute in sein Rotweinglas.
„Er hatte übrigens Whiskey getrunken!“ Er grinste Jule schief an.
„Der Hitzkopf hatte der Frau die er liebt, Lisa, mitgeteilt, dass er sie leider nun gerade doch nicht heiraten könnte, weil er erstmal noch seine Freiheit genießen müsste.“ Richard verdrehte die Augen.
„Und da es bei Lisa noch einen anderen Kavalier gibt, wollte sie, wohl mehr aus Trotz als allem anderen, nun eben den heiraten. Und da ist David dann nichts Besseres eingefallen, als sich zu betrinken. Ich hab mir die ganze Nacht den Mund fusselig geredet, bis ich ihn erstens wieder nüchtern und zweitens soweit hatte, seinen verdammten sturen Stolz aufzugeben und sich bei Lisa zu entschuldigen. Die beiden lieben sich und gehören zusammen. Aber mach das dem Kleinen mal klar!“ Stumm schüttelte er genervt den Kopf, während Jule leise glucksend zu lachen anfing, und dann nicht mehr aufhören konnte, bis ihr die Tränen kamen. Irgendwann lachte auch Richard laut mit.

Als sie sich beide ein bisschen beruhigt hatten stießen sie mit ihren Gläsern an.
„Auf gute alte Freunde!“ meinte Richard feierlich.
„Und gute neue Freunde!“ ergänzte Jule.
Eine Zeitlang schauten sie stumm auf den dunklen See, jeder in seinen eigenen Gedanken gefangen.
Dann brach Jule das Schweigen.
„Geht’s Dir soweit gut?“ wollte sie wissen und Richard verstand sofort, auf was sie hinaus wollte.
„Ja, mir geht’s sogar sehr gut. Er klingt vielleicht komisch, aber diese Entführung, nun, für mich hat sie so viele positive Veränderungen gebracht.  David und ich zum Beispiel, wir sind jetzt wieder Freunde und ich kann Dir gar nicht sagen, wie gut das tut. Weißt Du, wenn man die ganze Zeit allein ist und so viel nachdenken kann, immer den Tod vor Augen, dann verschieben sich verdammt viele Prioritäten im Leben. Und man hat Zeit, an sich selber zu arbeiten. Zugegeben, manchmal hab ich ein paar dunkle Minuten, aber dann sage ich mir immer: ‚Du lebst, was willst Du denn mehr?’ Und wenn man, so wie ich, ein echtes Glückskind ist, dann wartet die Liebe Deines Lebens auf Dich.“

„Apropos Liebe“ ließ sich Jule nach einiger Zeit vernehmen, „morgen kommt mein Freund nach. Ich hoffe, wir stören Euch nicht zu sehr!“
„Der Tenor?“ fragte Richard freudig überrascht.
„Ja, Paul Mares, der neue Stern am Berliner Opernhimmel“ rezitierte Jule. „Rieke hat Dir von ihm erzählt?“
„Nur, dass Du seither auf die Zauberflöte stehst“ grinste Richard sie frech an.
„Das Biest“ knurrte Jule, „das hat sie sich natürlich gemerkt!“
„Ich hab mir dafür erlaubt, David und Lisa hierher einzuladen. Geht das in Ordnung?“ mit hochgezogenen Brauen schaute er Jule fragend an.
„Klar, hat ja genug Platz. Und Freunde sind immer willkommen. Das wird ein klasse Wochenende!“ freute sie sich.

Ende


 
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